Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Woher kommt die Klimamüdigkeit?
Laut einer aktuellen Studie der Universität Hamburg nimmt die Sorge um den Klimawandel in Deutschland ab. Nur 59 Prozent der Befragten halten die Probleme des Klimawandels für wichtig, und nur ein Drittel sieht Deutschland als internationalen Vorreiter. Trotzdem wünscht sich die Mehrheit weiterhin Klimaschutz. Die Forscher vermuten, dass Themen wie Kriege, Inflation und die Pandemie den Willen der Menschen, sich zusätzlich um das Klima zu sorgen, schwächen. Zudem fühle sich die Klimakrise oft überwältigend an, was zu Ohnmachtsgefühlen führe. Nur ein Drittel der Befragten glaubt, dass die Menschheit den Klimawandel noch aufhalten kann. Auch das Vertrauen in politische Maßnahmen sinkt, obwohl die mächtigsten Hebel gegen den Klimawandel bei Regierungen liegen. Rechtspopulistische Kräfte und Medien verstärken den Trend, indem sie gezielt Zweifel säen. Eine zweite Studie der Hertie School warnt davor, diesen Trend zu überbetonen, da die Mehrheit mehr Klimaschutz wünscht. Ein Wahlkampf, der auf weniger Klimaschutz setzt, würde die Wähler ignorieren. (Elena Erdmann, ZEIT)
Um den Artikel zu zitieren: "Die Erzählung eines breiten grünen Backlash wird den EU-Wahlkampf in diesem Jahr dominieren", schreiben die Forschenden. Durch die Bauernproteste und den lautstarken Ärger über das Heizungsgesetz, könnten die Parteien auf die Idee kommen, dass es derzeit eine heftige Gegenbewegung zum Klimaschutz gäbe. "Allerdings sehen wir in unseren Daten, dass das überhaupt nicht stimmt." Hier sehen wir auch einen journalistischen Herdentrieb: das wurde herbeigewünscht und herbeigeschrieben. Solche Zyklen sehen wir bei jedem Thema. Das ewige Hochschreiben der AfD ging auch in eine fast schon euphorische Begleitung der Anti-AfD-Proteste über, nur als ein Beispiel. Allerdings warne ich davor, die Ergebnisse zu überinterpretieren: wenn es konkret wird, sind die Leute immer dagegen - wie bei allem. In Umfragen liebt man immer das Abstrakte, ob Schuldenbremse, Klimaschutz oder Verteidigungsausgaben. Sobald es konkret wird, bricht die Zustimmung ein.
2) Nie wieder Steuererklärung! Ökonom schlägt eine kühne Lösung vor
Bis 2030 wird die Steuerverwaltung Deutschlands durch den demografischen Wandel und Sparmaßnahmen mit einem Drittel weniger Personal auskommen müssen. Schon jetzt sind die Finanzämter überlastet, insbesondere bei Steuererklärungen und Betriebsprüfungen. Eine einfache Lösung wäre, den Arbeitnehmerpauschbetrag von derzeit 1230 Euro auf 3690 Euro zu verdreifachen. Dadurch müssten viele Arbeitnehmer keine Belege mehr sammeln oder eine Steuererklärung abgeben. Die Pauschale würde automatisch bei der Lohnabrechnung berücksichtigt. Der Vorteil dieser Reform wäre eine sofortige Entlastung der Steuerzahler, die zu mehr Kaufkraft und einem Ankurbeln der Wirtschaft führen würde. Zudem hätten die Finanzämter mehr Kapazität für komplexere Fälle, wie Betriebsprüfungen, bei denen ein einziger Prüfer durchschnittlich 834.000 Euro Mehreinnahmen generiert. Für die Ampelregierung, die mit schlechten Umfragewerten konfrontiert ist, wäre diese Reform eine effektive und populäre Maßnahme zum Bürokratieabbau. (Maurice Höfgen, Berliner Zeitung)
Ich kenne mich mit Steuerrecht zu wenig aus, um die Maßnahme juristisch beurteilen zu können, aber Höfgens Argumentation klingt grundsätzlich überzeugend. Für mich schlägt das in dieselbe Kerbe wie diese SPD-Idee aus den Nullerjahren, dass man eine Pauschalrückerstattung bekommt, wenn man keine Erklärung abgibt: eine Reduktion von Bürokratie mit direkter Förderung gerade der am wenigsten verdienenden Leute. Wenig verwunderlich, dass solche Sachen nie passieren. Es gibt einfach keine Kundschaft dafür, die sich an der Wahlurne niederschlagen würde beziehungsweise keine Gruppe, die entsprechend politischen Druck ausüben würde. Ich verstehe auch nicht wirklich, warum die FDP in der Richtung nicht aktiver ist.
3) „Genau das Gegenteil war der Fall“ (Interview mit Jeffrey Hersch)
Jeffrey Herf, ein Historiker und Antisemitismusforscher, diskutiert in einem Interview, dass die Hamas als islamistische Organisation ihre Ideologie klar formuliert hat. Sie entstand 1987 und vertritt extremistische Ansichten, die eine Vernichtung Israels befürworten. In ihrem Grundsatzdokument von 1988 erklärt die Hamas explizit, dass ein jüdischer Staat in Palästina für sie in keiner Form akzeptabel ist. Sie lehnt daher jede Verhandlung oder Kompromisslösung ab. Dies hat ihrer Ansicht nach über Jahrzehnte hinweg dazu geführt, dass die Hamas den Friedensprozess blockiert hat und durch ihre Aktivitäten auch die Wiederwahl rechter Regierungen in Israel begünstigt. Die Allianz, die Herf als "unheilig" bezeichnet, beschreibt die Unterstützung von islamistischen Positionen durch Linke und Liberale, obwohl diese Bewegungen eigentlich gegen die Prinzipien der Hamas stehen. Er kritisiert die Tendenz, die Handlungen der Hamas durch historische Argumente zu relativieren, ohne auf die gefährliche Ideologie und den Vernichtungswillen der Gruppe einzugehen. (Jonathan Guggenberger, taz)
Mir ist völlig unklar, wie irgendjemand Hamas als "die Guten" in dem Konflikt stilisieren kann, oder auch nur als weniger schlimm als Israel einordnen. Ich wiederhole den Punkt immer wieder, aber nur eine der beiden Seiten ist tatsächlich genozidal unterwegs, und das ist nicht Israel. Die könnten Gaza jederzeit vom Erdboden tilgen, wenn sie wöllten. Unzweifelhaft wahr allerdings ist, dass der Radikalismus und Extremismus beider Akteure sich gegenseitig befeuert und dass er zwar den jeweiligen Extremisten politische Macht gibt, ansonsten aber eine Schneise der Vernichtung und Verlierer auf beiden Seiten hinterlässt. Es ist ein absolutes Trauerspiel.
In Deutschland werden derzeit Politiker und Politikerinnen verschiedener Parteien, insbesondere von Grünen und SPD, zunehmend angegriffen. Jeffrey Herf, ein Antisemitismusforscher, analysiert in einem Interview die radikalen Beweggründe und verweist auf eine "unheilige Allianz" zwischen Rechtsradikalen, Islamisten und Teilen der linken Bewegung. Trotz der individuellen Radikalisierungsprozesse einzelner Täter betont er, dass keine Partei pauschal für diese Vorfälle verantwortlich gemacht werden sollte. Die Anzahl der politisch motivierten Straftaten stieg 2023 auf fast 2.800, darunter auch 199 Gewaltdelikte. Besonders betroffen sind Politiker der Grünen, mit über 1.200 Vorfällen im vergangenen Jahr. Interessanterweise werden die meisten Attacken auf Grüne nicht eindeutig dem rechtsradikalen Spektrum zugeordnet, sondern einem diffusen Umfeld mit allgemeinem politischen Überdruss. Herf spricht auch die Herausforderungen der Medienberichterstattung an und die Gefahr, dass politische Kritiker aus allen Richtungen gelegentlich die Grenze zur demagogischen Feindbildkonstruktion überschreiten. Es sei jedoch wichtig, dass sich Politiker und Medien dazu verpflichten, in ihrer Kritik und Berichterstattung fair und respektvoll zu bleiben, um die Legitimität der demokratischen Institutionen und ihrer Vertreter zu wahren. (Johannes Schneider, ZEIT)
Schneider skizziert ein angemessen komplexes Bild der Gewalt, das der Versuchung allzu simpler Zuschreibungen widersteht. Mir war bisher etwa nicht bekannt, in welchem Ausmaß es Angriffe (vorwiegend aus dem linksextremen Spektrum) auf AfD-Politiker*innen gibt oder dass Merz' Aussage fehlzitiert wird. Der massive Anstieg der Gewalt insgesamt, seine Konzentration auf die Regierungsparteien (und mit weitem Abstand die Grünen) und die ideologisch diffuse Zuordnung der Attacken sind mehr als Besorgnis erregend. Es wäre wichtig zu wissen, woher das kommt, aber ich halte Schneiders Ansätze für überzeugend. Was sie erklären können, ist das Ziel. Was sie weniger erklären können ist, warum die Gewalt überhaupt auf diese Art zinimmt. Denn Phasen heftiger politischer Auseinandersetzung gab es ja bereits früher. Die Gewalt allerdings ist neu. Ich weiß nicht, ob politische Kommunikation dieser Art ebenfalls ein neues Phänomen darstellt; sie stammt jedenfalls nur aus einer Richtung des Spektrums, weswegen die Zahlen wenigstens erklärbar wären.
In seinem Buch „Defekte Visionen“ untersucht Verfassungsrechtler Alexander Thiele kritisch die Zukunft der Europäischen Union und bringt nüchterne Klarheit in die Debatte. Er analysiert die institutionelle Architektur der EU und entlarvt die weit verbreitete Vorstellung eines zukünftigen „Superstaats“ als problematisch. Thiele argumentiert, dass diese Vision eines „föderalen europäischen Bundesstaats“ erhebliche normative Defizite aufweist und nicht eindeutig den Vorteil eines solchen Superstaats erklärt. Thiele kritisiert zudem den Fokus der EU auf Technokratie und Neoliberalismus, der wichtige politische Debatten unterdrückt. Er betont, dass die EU zunehmend von strengen fiskalpolitischen Vorgaben und Prozessen der Juridifizierung geprägt ist, die gesellschaftliche und politische Streitfragen durch Verfassungsregelungen ausschließen. Statt einer grundlegenden Umgestaltung der EU plädiert Thiele für schrittweise Verbesserungen. Er empfiehlt, die Kompetenzverteilung zu straffen, den Rechtsschutz zu verbessern und die Verfassung so zu reformieren, dass die EU repolitisiert wird. Er unterstreicht die Bedeutung einer europäischen Öffentlichkeit und schlägt ein europäisches Rundfunksystem vor. Thieles Vorschläge zielen darauf ab, die Legitimität der EU als wichtigste Maßgabe zu etablieren, um eine demokratische Union zu schaffen, die ihre Mitgliedstaaten nicht durch neoliberale Regulierungen belastet. Sein Ansatz, die EU mit kühlem Blick zu betrachten und Schritt für Schritt zu verbessern, liefert wertvolle Einsichten für eine realistische EU-Reformdebatte. (Matthias Ubl, Politische Ökonomie)
Ich glaube es gibt niemanden, der mit der Konstruktion der EU zufrieden wäre. Die Charakterisierung als "Monster" zwischen zwei legitimen Formen halte ich aber bei allem Respekt vor Thiele für eine falsche. Die EU ist ein Gebilde sui generis. Dass sie nicht in bestehende politikwissenschaftliche Definitionen passt, sollte man ihr nicht negativ auslegen. Was den Rest angeht - sicher. Die Verrechtlichung kritisiere ich auch ständig, die gibt es ja auf deutscher Ebene genauso. Dass die Legitimität der EU nicht sonderlich hoch ist und die Subsidiarität eher ein Sonntagsredenelement als gelebtes Prinzip ist glaube ich unumstritten. Dass irgendjemand ernsthaft - jenseits dieser Sonntagsreden - einen föderalen EU-Bundesstaat will, halte ich für Kokolores. Eine "realistische Reformdebatte" scheitert aber an den völlig divergierenden Interessen der Mitgliedsstaaten. Diese sind nicht bereit und werden das auf absehbare Zeit nicht sein, die bestehenden Verträge anzutasten. Das lässt nur diese bestehenden Verträge, und in denen steht die "ever closer union", die das größte Werkzeug ist, das der EU zur Verfügung steht. Das wäre zumindest meine Interpretation.
Resterampe
a) SPD-Politiker Ecke in Dresden zusammengeschlagen.
b) Baerbock schließt deutsche Fregatte in Taiwanstraße nicht aus. Sie wäre auch bekloppt, wenn. Da ist man doch froh über eine Grüne im AA statt jemand von der SPD.
c) Exportschlager „illiberale Demokratie“. Übertriebene Überschrift, aber der Artikel ist ok.
d) NIUS ist so eine widerliche Hetzschleuder. Und die geben das sogar offen zu.
e) Dummes Geschwätz. Wir hatten die letzten Jahre das Gegenbeispiel laut und deutlich.
f) Gute Gedanken zu Protesten.
g) Stop telling everyone life is horrible.
h) Die queere Geschichte Anne Franks.
i) Die deutsche Infrastruktur verrottet.
l) Unabhängig von der elektoralen Cleverness ist das eine irrsinnige Botschaft.
m) Konservativer Aufruf zu mehr Klimaschutz.
n) Ihren Haarschnitt sollten Politiker schon selbst bezahlen. Sehe ich nicht so. Diese Neiddebatte ist unwürdig. Die Leute hätten diese Ausgaben nicht, wären sie nicht Minister*innen. Das ist völlig ok.
o) Plädoyer gegen die Verherrlichung von Überstunden.
p) Zum Kollaps des Rentensystems.
q) Guter Punkt zum Thema Moralisieren.
Fertiggestellt am 06.05.2024
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