Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Schluss mit der Einbinderitis

Hier soll von einem politischen Leiden die Rede sein, das sich derzeit immer weiter ausbreitet: der Einbinderitis. Die deutsche Variante der Einbinderitis war nach dem CDU-Parteitag zu beobachten: Friedrich Merz hatte gerade die Wahl zum Parteivorsitzenden verloren, da hieß es schon, der Wahlsieger Armin Laschet müsse das Merz-Lager "einbinden", weil sonst eine Spaltung der Partei drohe. So wie es zuvor schon in den USA geheißen hatte, Joe Biden müsse jetzt die Wähler von Donald Trump "einbinden", nachdem er das Weiße Haus erobert hatte. Bei genauerem Hinsehen erweist sich diese Form der Interpretation politischer Machtverschiebungen jedoch als entweder trivial – oder gefährlich. Sie ist trivial, weil natürlich niemand, der bei Verstand ist, auf die Idee käme, die Anhänger von Donald Trump oder Friedrich Merz ins Gefängnis zu werfen oder in die Verbannung zu schicken. Sie bleiben im Fall der USA Staatsbürger mit allen Rechten und im Fall der CDU sogar Parteimitglieder. Insofern sind sie natürlich weiter eingebunden. Aber es geht den von dieser Krankheit Befallenen um mehr: Sie zweifeln im Kern am Mehrheitsprinzip als Instrument der politischen Willensbildung. [...] Keine Frage: Wenn Demokratie nicht nur zum formalen Abstimmungsritual verkommen soll, dann muss die siegreiche Mehrheit natürlich zu einem angemessenen Umgang mit der unterlegenen Minderheit in der Lage sein, allein schon weil sonst bei der nächsten Wahl sich die Verhältnisse möglicherweise umkehren. Aber man sollte schon einmal in aller Deutlichkeit festhalten, wer Mehrheit ist (Biden, Laschet) und wer Minderheit (Trump, Merz). Alles andere käme einer Ausschaltung des Wettbewerbsprinzips gleich und das bedeutet: Stillstand. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet die Anhänger freier Märkte nach ihrer Niederlage eine Art politischer Schutzzone für sich beanspruchen. (Mark Schieritz, ZEIT)

Ich teile Schieritz' Argumentation völlig. Die ganze Idee hinter "Einbinden" ist, eine gerade erzielte Entscheidung wieder zu verwässern. Es ist das politische Äquivalent eines institutionellen Veto-Punkts. Damit bedient es die Interessen derjenigen, die Veränderungen zu vermeiden suchen. Es ist daher kein Zufall, dass es zwar massenhaft Forderungen gibt, Pegida, die Werteunion, Trump-Anhänger, Brexiteers und so weiter einzubinden, aber praktisch keine, die eine Einbindung von Democrats 2016,  der LINKEn nach irgendeiner Bundestagswahl, Jeremy Corbyn oder #BlackLivesMatter fordern.

Natürlich kann man in einer Demokratie Konflikte nicht total austragen. Aber das "Einbinden" der Unterlegenen kann nicht bedeuten, dass man den eigenen Sieg zunichte macht. Ansonsten braucht man ja nicht mehr zu wählen, sondern kann das Ganze gleich sein lassen. Und erneut, mich beschleicht der durchaus begründete Verdacht, dass von Merz nicht verlangt worden wäre, die Laschet-Unterstützer*innen einzubinden. Das hat eine ganz merkwürdige Schlagseite, die viel über die Legitimitätskonzepte im öffentlichen Diskurs verrät.

2) Opposition im Lockdown

Die Grünen haben das sofort begriffen. Kritische Töne darf man von dieser „Regierungspartei im Wartestand“ nicht mehr erhoffen. Die Grünen wissen, dass sie nur mit kräftigem Applaus für den Mitte-Kurs Angela Merkels ein gutes Ergebnis einfahren werden. Das wiegt im Zweifel schwerer als jedes Schaulaufen als Oppositionspartei. Claudia Roth brachte die Lage für ihre Partei auf den Punkt: „Mit Laschet und Spahn hat die CDU die Verwalter des Status quo gewählt … Damit wird überdeutlich, dass es auf die Grünen entscheidend ankommen wird.“ Als Partner der Verwalter, nicht als Gegner. [...] Mit Ausnahme der FDP sind ja sowieso alle Oppositionsparteien bloße Korrektivparteien: Die Linke wurde 2007 als Korrektiv der Mitte-SPD gegründet, die AfD entstand 2013 als Korrektiv der Mitte-Union und derzeit entstehen vielerorts „Klimaparteien“ als Korrektiv der Mitte-Grünen. [...] Es ist übrigens kein Zufall, dass AfD und Linke in den Planspielen für das Superwahljahr kaum vorkommen. Als Korrektiv-Parteien sind sie zwar vorhanden, können aber wenig Nutzen daraus ziehen, weil der Corona-Konsens der Mitte-Parteien jede Kritik als unangebracht und destruktiv abbürsten kann. [...] Selbst die SPD-Linke, vor Kurzem noch bereit, aus dem Mitte-Konsens auszuscheren, übt sich heute brav in „konstruktiver Zusammenarbeit“. Kein böses Wort kommt Saskia Esken oder Norbert Walter-Borjans über die Lippen. Nach dem missglückten Ausreißversuch Anfang Januar hat die SPD die „Klugheit“ der Grünen übernommen und setzt nun auf Zusammenhalt und Barmherzigkeit. Insgeheim hofft sie vielleicht auf ein „Weiter so“ mit der Union. Auch Olaf Scholz fremdelt mit allem, was Wahlkampf heißt. Er glaubt, dass die Deutschen seine ruhige hanseatische Wesensart zu schätzen wissen, die gebürtige Hanseatin Merkel hat es ja erfolgreich vorgemacht. (Wolfgang Michal, Freitag)

Man mag sich aus guten Gründen über obige Entwicklungen beklagen, aber Fakt ist nun mal, dass die Deutschen ein ziemlich klares Signal gesendet haben, was sie haben wollen - und die Politik hat sehr feine Sensoren dafür, was die Wählenden wollen. Auch ohne Merkel an der Spitze bleibt der Schmusekurs mit der CDU populär. Ich wage die Prognose, dass er das auch bleiben wird, solange keine andere Partei eine Alternative formulieren kann. Und das tut aktuell keine.

Der Grund dafür wird von Michal mit "Korrektivparteien" gut umschrieben. Sicher, die LINKE und die AfD haben eine teils fundamentale Kritik am Konsens der Mitte-Parteien, aber weder haben sie eine Machtperspektive noch wollen sie eine. Die LINKE hat erst kürzlich angefangen, ernsthaft Regierungsbereitschaft zu signalisieren - und das ging wenig überraschend mit einer Verwässerung ihres Korrektiv-Profils einher.

Die AfD dagegen ist fundamental eine Oppositionspartei; die Vorstellung, sie käme in Regierungsverantwortung, kann nur naiven Rechtsaußen-CDU-PolitikerInnen gefallen, die sich der immer gleichen Illusion hingeben, Rechtsextremist*innen als Mehrheitsbeschaffer nutzen und in der Koalition zähmen zu können. Davon gibt es glücklicherweise aber nur wenige.

Mittelfristig führt daher am Bündnis der Mitte-Parteien kein Weg vorbei. Ob Schwarz-Grün, ob Jamaika, ob Ampel, ob R2G - so oder so wird sich in der Republik wenig einschneidend ändern, weil in jeder möglichen Koalition mindestens zwei Partner kein Interesse an einschneidenden Änderungen haben. Das ist Fluch und Segen der deutschen Politik zugleich.

3) Der Diktator in uns

Je länger die Pandemie andauert, desto stärker sehnen sich viele Menschen nach harten Maßnahmen. Mich eingeschlossen. Die autoritäre Versuchung ist groß. Ich entdecke den Diktator in mir. [...] Der Diktator in mir sagt: Wir opfern unsere Freiheit für den Sieg über das Virus. Das ist nötig und richtig. Einerseits. Andererseits gruselt es mich zu sehen, wie Maß und Mitte zunehmend verloren gehen. Man merkt es daran, wie die Begriffe verrutschen. [...] Mir fällt auf, dass viele Menschen China bewundern: Toll, wie die Chinesen das Virus unter Kontrolle gebracht haben. Mit welchen Methoden, spielt offenbar keine Rolle: Totalüberwachung aller Handydaten, Drohnen, Gesichtserkennung, Polizeigewalt, soll das ein Vorbild für uns sein? Von Bundeskanzlerin Angela Merkel ist der Satz, das Virus sei eine demokratische Zumutung. Ich weiß nicht, was mir inzwischen mehr Sorgen macht: das Virus – oder der Diktator in uns. (Alexander Neubacher, SpiegelOnline)

Ich hasse diese Art von Artikeln. Dieses moralingetränkte Überlegenheitsgetue, ein "fishing for compliments", ohne irgendetwas Neues zu sagen, mit unglaublichem Geschwätz und faktenfreien Annahmen. "Viele Menschen" bewundern China, "fällt mir auf". Aha. Das wäre mir neu. Aber es erlaubt natürlich, sich maximal in Szene zu setzen. Es ist ein Aufbauen einer Popanz, gegen die man dann argumentiert. Die hat wenig mit der Realität zu tun, aber erlaubt es, den Mantel des Freiheitskämpfenden umzulegen. Fruchtbar, dieses Genre. Das kann echt weg.

4) The 'awesome' power of America's CEOs

America's CEOs have suddenly become "a new political force," wielding "awesome power," said Felix Salmon at Axios. "They have money, they have power, and they have more of the public's trust than politicians do." We saw that on full display last week from a "broad coalition of CEOs who are silencing Trump and punishing his acolytes in Congress." [...] "When I suggested a week ago that companies should stop making campaign contributions to House and Senate Republicans who perpetuated the fiction that Joe Biden had stolen the presidential election, I didn't really think it would happen." It has — in fact, at least 48 major corporations have now taken this stance. This is "more than public relations and more than a purely business calculation." In a country in which trust in almost every other institution has cratered, corporations are trying to project "confidence in the rule of law and the stability of democratic institutions." [...]  "Corporate America is running so far to the left of the GOP because both corporations and parties try to win the future." Corporations do that by appealing to consumers, parties do it by appealing to voters. The Republican Party, though, has followed its "older, whiter, less-educated" base to the right while "younger Americans and college-educated Americans have moved sharply left." Companies are acting just as cowardly or brave "as their consumer demographic allows them to be." For many decades, "college-educated Americans voted far to the right of those without diplomas," said Eric Levitz at New York magazine. Now that's turned upside down, and companies are siding with their most valuable employees and customers in a time of "historic generational polarization." (The Week)

Gleich mehrere Dinge sind hier bemerkenswert.

Einerseits sehen wir einmal mehr, dass in den USA einfach zu viel privates Geld in der Politik ist. Die Entscheidung von Superreichen einerseits und CEOs andererseits, welche Kandidat*innen sie unterstützen, ist zwar nicht die alles entscheidende Kategorie, aber ihr Einfluss ist gigantisch.

Andererseits haben wir es durch die wechselnde Stimmung in den Unternehmen schwarz auf weiß: die Republicans sind keine Mehrheitspartei. Und da die meisten Unternehmen ein Interesse zu haben, die Mehrheit als Kundenstamm zu haben, wechseln sie die Seiten. Das macht deutlich, dass die Möglichkeit besteht, durch öffentlichen Druck Beeinflussung aufzubauen und den Extremismus von Geldquellen abzuschneiden.

Relativierend sei aber hinzugefügt: Es ist ein Mythos, dass Arme Leute Trump wählen. Im Schnitt sind die GOP-Wähler*innen weiterhin deutlich reicher als die der Democrats, ganz egal, wie viele Stories über Arbeiter (bewusst maskulin) geschrieben werden, die Trump wählen. Da sollte man sich nicht von Narrativen leiten lassen.

5) Die absurdeste Definition von Fairness, die ich je gehört habe

Laut einer Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung arbeiten seit November 14 Prozent der Beschäftigten überwiegend oder ausschließlich von zu Hause aus. Im April, während der ersten Welle, waren die Covid-Zahlen deutlich niedriger, aber die Zahl der Heimarbeiter mit 27 Prozent sehr viel höher. Wie kann das sein? [...] Natürlich sind all diese Verordnungen wichtig. Aber ich habe zehn Jahre als Führungskraft in Deutschland gearbeitet und nie einen derartigen Enthusiasmus für Schutzverordnungen erlebt, wie er mir derzeit entgegenstrahlt. Und das, ich muss mich wiederholen, angesichts von 50.000 Covid-Toten. [...] Man muss sich da schon umstellen und anders arbeiten. [...] Womit wir auch gleich beim eigentlichen Problem wären: dem Wollen. Man will nämlich meist nicht. Weil es unbequem ist, und weil es einem zusätzliche Anstrengungen abverlangt. Vor allem aber, weil immer noch zu viele Führungskräfte eine überholte Vorstellung von ihrer eigentlichen Aufgabe haben: Führung wird mit Kontrolle gleichgesetzt und das Verhältnis zwischen Führungsebene und Mitarbeitern ist von Misstrauen geprägt. Man gibt sich der süßen Illusion hin, man könne den Mitarbeiter hinterm Computer durch schiere körperliche Anwesenheit im Büro irgendwie zur Produktivität zwingen. [...] Das sei übertrieben, denken Sie? Dann lassen Sie sich mal von Michael Jahn, dem Personalchef der Flensburger Fahrzeugbau GmbH, erklären, warum das mit dem Homeoffice selbst bei seinen Verwaltungsmitarbeitern nicht geht: »Es gibt natürlich auch den Mitarbeiter, der da unter Umständen einen persönlichen Vorteil daraus schlagen möchte und jetzt den Wunsch nach einem Heimarbeitsplatz verwirklichen möchte unter dem Argument der Pandemie.« Das ist genau das Misstrauen, das ich in Deutschland immer wieder beobachte. (Katharina Borchert, SpiegelOnline)

Erst gestern habe ich wieder von einer Bekannten gehört, dass der Chef kein Homeoffice erlaubt, weil er die Mitarbeitenden dann nicht kontrollieren könne. Solche Führungskräfte sind einfach nur inkompetent. Wer sich der Illusion hingibt, er könne seine Mitarbeitenden im Büro durch einen reinen Willensakt zur Produktivität zwingen, lügt sich in die Tasche. Und wer das tut, hat den falschen Job, zumindest was die Komponente der Personalführung anbelangt.

Ich erlebe das an der Schule genauso, wo diverse Kolleg*innen der Überzeugung sind, Fernunterricht sei vor allem deswegen ein Problem, weil sie die geistige Anwesenheit der Schüler*innen nicht kontrollieren könnten. Als ob das im Präsenzunterricht möglich wäre! Ich weiß, wie deren Unterricht aussieht, ich höre die Schüler*innen darüber sprechen. Da beklagen die gleichen Leute, dass man ja nicht kontrollieren könne, was die Schüler*innen am Rechner tatsächlich machen und erspinnen sich allerlei Kontrollmechanismen (die natürlich gegen die Datenschutzverordnungen verstoßen, aber das nur nebenbei), bei denen im Präsenzunterricht Leute in den hinteren Reihen mit Kopfhörern Netflix geschaut haben! Den gleichen Blödsinn haben wir hier.

Ein guter Artikel zum Thema auch hier.

6) Republicans Have Decided Not to Rethink Anything

The heady predictions that the party would break free of the Trumpist grip already seem fanciful. If anybody is suffering repercussions for their response to Trump’s autogolpe, it is the Republicans who criticized it. Conservative Republicans are threatening to strip Liz Cheney of her leadership post after she voted to impeach Trump. [...] The clearest sign of the counter-revolutionary momentum is the flagging prospects for impeaching Trump. [...] A terrifying seventy percent of Republican voters agree with Trump’s lie that he received more votes than Biden. Trump’s loyalists are threatening revenge if he is convicted. [...] You can already see the internal Republican tension abating as they pull together in opposition. Did Trump make mistakes? Perhaps so, they will concede, but they are behind us, and now they face new dangers and outrages from Biden. No rethinking of the Republican platform — indeed, no thinking of any kind — will be needed. Republicans can simply repurpose Trump’s attacks on Biden as a corrupt, doddering crypto-socialist tool of AOC. The Republican civil war is over before it even began. (Jonathan Chait, New York Magazine)

Ich sehe meine Diskussion mit Stefan Pietsch im Artikel zum Putschversuch Trumps bestätigt: Die Republicans wenden sich eben nicht von ihm ab, sie bleiben ihm treu und wenden sich damit gegen die Demokratie. Im Atlantic findet sich der passende Vergleich zum Dreyfus-Skandal. Wer weitere Belege braucht (ich habe gerade keine Kraft und Lust für einen eigenen Artikel) findet hier, hier, hier, hier, hier und hier, nur aus den letzten zwei Tagen. Währenddessen säubert die FOX-News-Führungsriege den Sender von Journalist*innen, die nach der Wahl das Wahlergebnis in Arizona bestätigt haben, nur falls jemand glaubt, dass dieser Hetzsender sich irgendwie bessern würde.

Im Übrigen kommen gerade immer mehr Beweise für Trumps Verbrechen ans Tageslicht - und wie unglaublich knapp der Putsch wirklich war. Die New York Times etwa hat etwas dazu. Sie werden es wieder versuchen.

7) Tweets

Somehow I'm glad we're back to this bullshit. https://t.co/NYsTeWuHje

— Stefan Sasse 🇪🇺 (@StefanSasse) January 22, 2021

folks, i regret to inform you that the reviews are in pic.twitter.com/GNxw6Dt0bq

— Aaron Rupar (@atrupar) January 22, 2021

.@nytimes : “Biden has a Rolex” pic.twitter.com/PDTJezoQeY

— Vic 💛 (@vicsepulveda) January 23, 2021


Ich hatte nie die Illusion, dass die Medien aus den letzten vier Jahren gelernt haben könnten, weswegen das alles wenig überraschend kommt. Es hat keine zwei Tage gedauert, bevor das Bullshitkarussell sich wieder mit voller Kraft dreht. Es ist zum Haare raufen. Auf der anderen Seite deutet es eine gewisse Rückkehr zur Normalität an, in der mit völlig verschobenen Maßstäben auf demokratische Politiker*innen eingehauen wird, nur um das Skandallevel hoch zu halten. Und 2024 wundern sich dann wieder alle, wie der nächste Faschist so weit kommen kann.

8) Democrats, Here’s How to Lose in 2022. And Deserve It.

But now Democrats have another chance. To avoid the mistakes of the past, three principles should guide their efforts. First, they need to help people fast and visibly. Second, they need to take politics seriously, recognizing that defeat in 2022 will result in catastrophe. The Trumpist Republican Party needs to be politically discredited through repeated losses; it cannot simply be allowed to ride back to primacy on the coattails of Democratic failure. And, finally, they need to do more than talk about the importance of democracy. They need to deepen American democracy. [...] But none of these bills will pass a Senate in which the filibuster forces 60-vote supermajorities on routine legislation. And that clarifies the real question Democrats face. They have plenty of ideas that could improve people’s lives and strengthen democracy. But they have, repeatedly, proved themselves more committed to preserving the status quo of the political system than fulfilling their promises to voters. They have preferred the false peace of decorum to the true progress of democracy. If they choose that path again, they will lose their majority in 2022, and they will deserve it. [...] The last time Democrats won the White House, the Senate and the House was in 2008, and they didn’t squander the moment. They passed the stimulus and Obamacare and Dodd-Frank. They saved the auto industry and prevented a second Great Depression and, for good measure, drove the largest investment in clean energy infrastructure in American history. But too little of their work was evident in 2010, when Democrats were running for re-election. (Ezra Klein, New York Times)

Ich teile Kleins Meinung hier vollständig. Die Democrats sind sehr gut, was Policy anbelangt, aber ziemlich lausig, wenn es zu Politics kommt. Dazu kommt eine fast manische Obsession mit dem Bewahren institutioneller Normen. Wo ihre Gegner, die Republicans, völlig ohne Probleme noch jede institutionelle Norm gebrochen haben. Die Erwartung der Democrats, dafür an der Wahlurne bestraft zu werden, ist aus der Luft gegriffen. Die Wähler*innen kümmern sich nicht um den filibuster. Sie kümmern Ergebnisse. Die Republicans haben das längst verstanden.

Die Furcht scheint sich aber auch auf die Medien zu beziehen, von denen die Democrats wesentlich mehr zu befürchten glauben als die GOP. Nicht zu Unrecht, werden an sie doch wesentlich höhere Maßstäbe angelegt. Aber letztlich sollte die Partei auch hier von ihren Gegner*innen lernen.

9) Der schlimmste, ärgste, längste Fehler

Es lag längst kein Erkenntnisproblem mehr vor, sondern ein Beschaffungsproblem. Es war völlig klar, dass einfache Masken zumindest andere, FFP2-Masken auch einen selbst vor Ansteckung schützen können. Ersteres erkannte auch Christian Drosten im NDR-Podcast am 23. März erstmals an. Spätestens nach dem Erscheinen der »Lancet«-Studie hätte die Bundesregierung alles daransetzen müssen, hochwertige Masken in ausreichender Menge produzieren zu lassen, um die gesamte Bevölkerung damit  versorgen zu können, und zwar möglichst schnell. Das wäre eine »Strategie« gewesen. Und das ist 10 Monate her. Stattdessen wurden weiterhin diverse, heute grotesk anmutende Ausreden angeboten. Masken verliehen denen, die sie tragen ein »falsches Gefühl der Sicherheit« zum Beispiel. Das kam sogar von der Weltgesundheitsorganisation. [...] Das führt uns zur entscheidenden Frage: Wie kann es sein, dass die Hochtechnologie-Nation Deutschland es nicht geschafft hat, in mehr als einem halben Jahr die Bevölkerung flächendeckend mit dem billigsten, nachweislich wirksamen Mittel zur Eindämmung der Pandemie zu versorgen? [...] Wie kann es sein, dass Bayern nun, ein volles Jahr nach Beginn der Pandemie, eine FFP2-Maskenpflicht ausruft, aber selbst von Obdachlosen und Hartz-IV-Empfängern erst einmal erwartet wird, dass sie dieses elementare Schutzgut selbst finanzieren? Wie kann es sein, dass diese Masken nicht überall kostenlos verfügbar sind, für alle die nicht bezahlen können? Es wurden schneller Impfstoffe entwickelt und zugelassen als dieses einfache, erwiesenermaßen wirksame vergleichsweise spottbillige Mittel gegen das Virus flächendeckend und unbürokratisch zur Verfügung zu stellen. Und selbst heute, ein Jahr nach Beginn der Pandemie, gibt es weder eine einheitliche Versorgung noch eine bundesweit einheitliche Regelung zum Thema. Das hat, um es klar zu sagen, Menschenleben gekostet, wer weiß wie viele. (Christian Stöcker, SpiegelOnline)

Das Thema Masken ist in der ganzen westlichen Welt völlig absurd. Die Zögerlichkeit ließ sich anfangs vielleicht noch mit Lieferengpässen begründen, aber nach 10 Monaten kann man nur noch von breitflächigem Versagen sprechen. Das erschöpft sich nicht auf der logistischen Ebene, also rein in der Beschaffung, sondern auch im ganzen umgebenden politischen Prozess.

Die Beliebigkeit, die das Tragen von Masken - und ihren Typus - umgibt ist eine direkte Folge der Signale aus der Politik. Noch immer sind die Botschaften gedämpft und verhalten, wird erst nach 10 Monaten die FFP2-Pflicht eingeführt, und auch die nur teilweise statt flächendeckend. Als wäre mittlerweile nicht gut genug deutlich geworden, dass dieser Maßnahmenflickenteppich verheerende Auswirkungen auf die Kommunikation hat.

Die absolute Barbarei, solch teure Mittel wie die Masken zwar vorzuschreiben, aber keinerlei Angebote für die Schwächsten in der Gesellschaft zu machen, fällt da schon fast nicht mehr auf. Die völlige Ignoranz und Rücksichtslosigkeit, die da deutlich kommuniziert wird, passt leider nur allzu sehr ins Bild.

10) We Mock the Rioters as Ignorant Buffoons at Our Peril

It would, of course, amount to an overcorrection if we attempted to characterize the riot as a middle-class insurgency. But many of the protesters who filled Washington’s 17 Hilton hotels to capacity and made the Grand Hyatt’s lobby their after-action lounge did not come from Dogpatch. Many hail from the Republican professional and political classes, and they fueled the rampage with their organizational skills and reputations just as much as the face-paint guy did with his horns, fur, a U.S. flag mounted on a spear, and tattoos. [...] Yes, there was plenty of class resentment at play at the Capitol and lots of overt racism, but we can’t assume that this was just a revolution by the powerless, the pathetic and the rural. The most shocking thing about the attack on the Capitol was that so many of the rioters were people who better resemble our kin and neighbors than they do the so-called barbarians from the boondocks. [...] The point here isn’t to sympathize with the rioters, or even seek to “understand” them, but to see them as they are and to prepare ourselves for future confrontations. [...] There are no easy ways to quell this national rebellion, a rebellion that appears to be gaining velocity, but the first step has got to be organizing a political taxonomy that doesn’t marginalize them as aliens. Instead of thinking of the rioters as “them,” try thinking of them as “us.” It’s bound to make you uncomfortable, but at least it’s a start. (Jack Shafer, Politico)

Ich frage mich bei solchen Artikeln immer: "Who the fuck is "we"?" Ich habe von Anfang an betont, wie gefährlich diese Leute sind und wozu das noch führen wird. Die Überraschung Shafers ist entlarvend. Er hat die Bedrohung bisher nicht ernst genommen, weil er sich selbst als nicht bedroht ansah. Die Bedrohung durch Trumps faschistische Schlägerbanden betraf andere Menschen, aber nicht "uns", nicht "wir". Dieses "wir" definiert Shafer implizit als die weiße Mittelschichtengesellschaft, der er angehört. Und klar, die war von den Faschisten bisher nicht bedroht. Das ist immer so.

Erst jetzt, wo deutlich wird, dass diese Täter eben auch aus der Gruppe des "wir" kommen, werden sie real. Vorher las man "Hillbilly Elegy" und wohlwollende Portraits von TrumpWähler*innen in der New York Times (bezeichnend, dass wir immer noch keine für Biden-Wähler*innen lesen) und konnte sich (siehe auch Fundstück 3) in moralischer Überlegenheit wähnen und vor Überreaktionen und Übertreibungen warnen. Ich glaube, Niemöller hat dazu die definitive Antwort gegeben.

11) Dieses Gedankenspiel sorgt für Schrecken in der CDU

Ampelkoalitionen waren in der Bundesrepublik bisher eher selten. In Brandenburg und in Bremen regierten Sozialdemokraten, Grüne und Liberale Anfang der 90er-Jahre, in der Hansestadt zerbrach das Bündnis 1995 nach vier Jahren an einem erbitterten Streit über ein Vogelschutzgebiet. Wirtschaftsinteressen und Naturschutz kamen sich in die Quere. Doch in Mainz regiert die Ampel nun schon seit fünf Jahren weitgehend schmerzfrei. Die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Malu Dreyer möchte das Bündnis gern verlängern. Ein „sehr gut ausgehandelter Koalitionsvertrag“ und „ein sehr guter menschlicher Umgang miteinander“ hätten die aktuell einzige Ampelkoalition in Deutschland erfolgreich gemacht, sagte die Regierungschefin in der vergangenen Woche bei der Bilanz der Regierungsarbeit seit 2016. Die Weichen für die Zukunft seien gestellt, die Leitidee „Wir sind für alle da“ gelte weiterhin. [...] „Das ist das Allerschwierigste: Eine Koalition aus SPD, die das Soziale abdeckt, den Grünen, und der FDP, die dann den Wirtschaftsteil abdeckt – was macht dann noch die CDU dagegen?“, sagte er vorige Woche. „Das ist die große Gefahr sowohl für Baden-Württemberg als auch die Bundesrepublik Deutschland.“ [...] Anders als 2016 wären die Liberalen für ein solches Bündnis mittlerweile durchaus bereit. Zwar halte die FDP eine „Deutschland-Koalition“ aus CDU, SPD und FDP aus wirtschaftspolitischen Gründen für vorzugswürdig, sagte Landeschef Michael Theurer WELT: „Wir schließen aber eine Zusammenarbeit mit den Grünen nicht aus.“ Längst haben sich hinter den Kulissen Vertreter von Grünen, SPD und FDP getroffen, um über die inhaltliche Gestaltung und sogar die Ressortaufteilung einer grün geführten Ampel nachzudenken. [...] Zwar seien Inhalte die Voraussetzung für eine Ampel und nicht die politische Farbenlehre. Die FDP würde daher mit klaren Forderungen in Gespräche gehen und nicht nur Anpassungen im Schulsystem verlangen, sondern auch eine Wasserstoffstrategie für die Automobilindustrie. (Hannelore Crolly/Thorsten Jungholt/Claus Christian Malzahn, Welt)

Die Überschrift ist natürlich albern. Aber die Überlegung ist grundsätzlich, so wirklichkeitsfern sie aktuell auch scheinen mag, nicht komplett irrelevant. Ich habe ja schon einmal über das Was-wäre-wenn einer Ampelkoalition geschrieben. In Baden-Württemberg mag es dafür sogar eine kleine Chance geben. Aber im Bund? Die FDP hat sich Ampelüberlegungen konsequent verweigert, als die SPD noch eine von Müntefering, Clement und Kurt Beck dominierte Partei war. Wieso um Gottes Willen sollten die Chancen jetzt gestiegen sein, wo die Partei seither so deutlich nach links gerückt ist und sich aktuell für die LINKE öffnet? Das scheint mir mehr Fiebertraum als Realität.Nebenbei bemerkt: Es ist erstaunlich, wie lange sich der Blödsinn mit der Wirtschaftskompetenz von CDU und FDP hält. Das ist ein Beispiel für exzellentes und hoch wirkungsvolles Framing, das muss man neidlos anerkennen. Es ist völlig unhinterfragt und wird hier im Artikel wie ein Naturgesetz genannt: "Die FDP, die den Wirtschaftsteil abdeckt." Klar, das ist ihr Anspruch, aber letztlich steckt da wenig Konkretes dahinter. Die FDP hat eine absolut miese Wirtschaftspolitik und versteht von Volkswirtschaften ungefähr so viel wie Friedrich Merz.

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