Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Ist die Idee der Menschheit tot?
Die Kolumne von Dieter Schnaas fragt, ob die Idee eines verbindenden Menschheitsethos angesichts globaler Krisen und Machtpolitik gescheitert sei. Der Autor zeichnet ein düsteres Bild einer Welt, die von partikularen Interessen, Desinformation und dem Bruch internationaler Normen geprägt ist. Staaten wie Russland, China, die USA unter Trump und die Türkei setzen zunehmend auf Macht statt auf Rechtsstaatlichkeit oder universelle Werte. Schnaas erinnert daran, dass nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa ein idealistisches Denken vorherrschte, das auf Frieden durch Institutionen und geteilte Normen setzte, jedoch die Notwendigkeit, Werte auch verteidigen zu können, vernachlässigte. Europa müsse jetzt aus seiner „Machtvergessenheit“ erwachen und eigene sicherheitspolitische Verantwortung übernehmen. Gleichzeitig plädiert Schnaas für einen realistischeren, aber nicht zynischen Universalismus, der alternative kulturelle und historische Quellen moralischer Normen anerkennt. Er schlägt vor, sich an Judith Shklars „Liberalismus der Furcht“ zu orientieren, der die Vermeidung von Unfreiheit und Grausamkeit ins Zentrum stellt. Ein Europa, das Menschenwürde auch militärisch zu schützen bereit sei, könne international wieder Respekt erlangen. (Dieter Schnaas, WirtschaftsWoche)
Ich denke nicht, dass die Idee der Menschheit tot ist. Alle Ideen gehen durch Boom-und-Bust-Zyklen, und es ist nicht so, als wären Liberalismus und Universalismus nicht schon mal in Mode gewesen, für klinisch tot erklärt worden und dann with a vengeance zurückgekommen. Ich meine, ich schreibe gerade eine Rezensionsserie zu einem Buch, das genau das Thema für die 1920er Jahre behandelt. Das Ideal eines verbindenden Menschheitsethos ist ein Ideal, nicht mehr, nicht weniger. Der Fehler sowohl seiner Verfechter*innen als auch Kritiker*innen war schon immer - wie bei allen Idealen -, das Ideal als Gegenwartsbeschreibung beziehungsweise als realistisches Nahziel zu betrachten. Es war schon immer der Vorteil wahrer Konservativer, dass sie nicht in diese Falle gehen (und dafür sehr anfällig für die Falle des Zynismus sind, aber das ist ein anderes Thema). Und aktuell sind wir von diesem Ideal weit entfernt. Aber das Ideal selbst ist nicht tot. Ich denke auch, dass Schnaas' Idee, erst einmal ein wenig zurückzustecken und einen "Liberalismus der Furcht" zu adaptieren (wenngleich der Isolationismus gleichkommt), durchaus etwas für sich hat. Es werden auch wieder bessere Zeiten kommen, wenn alle Akteure unter dem Eindruck von krisenhaften Entwicklungen wie der Klimakrise die Notwendigkeit für kollektives Handeln und internationale Solidarität neu bewerten.
2) Die Entwertung der deutschen Staatsbürgerschaft
Ahmad Mansour kritisiert die beschleunigten Einbürgerungsverfahren in Deutschland als Gefahr für die Integrität der Staatsbürgerschaft. Er betont, dass Integration ein langfristiger Prozess sei, der Zeit brauche, um emotionale Bindung und Loyalität gegenüber der Demokratie zu entwickeln. Die aktuellen Praktiken, insbesondere in Berlin, wo das Vier-Augen-Prinzip abgeschafft und Einbürgerungen im „Turbomodus“ durchgeführt würden, öffneten Manipulation und Missbrauch Tür und Tor. Mansour warnt, dass viele Bewerber aus Staaten ohne demokratische Traditionen kämen und Werte wie Gleichberechtigung oder Religionsfreiheit nicht unbedingt verinnerlicht hätten. Er stellt die Frage, wie viele Eingebürgerte Israels Existenzrecht wirklich anerkennen oder Grundrechte über religiöse Gebote stellen. Laut Mansour dürfe Einbürgerung kein parteipolitisches Instrument sein, um neue Wählergruppen zu gewinnen. Eine oberflächliche Prüfung schwäche die Demokratie und erodiere das Vertrauen in den deutschen Pass. Statt mehr Tempo brauche es „Sorgfalt, Klarheit und Mut zur Wahrheit“, um die Staatsbürgerschaft als Schutzmauer der Demokratie zu bewahren. (Ahmad Mansour, WELT).
Ich finde die Sicht Mansours faszinierend. Sie erinnert mich wahnsinnig an Jude Laws "Young Pope", als er seine Reformidee für den Katholizismus erklärt: "What do you see? That's the door. The only way in. Small and extremely uncomfortable. And anyone who wants to know us has to find out how to get through that door. Brother cardinals, we need to go back to being prohibited. Inaccessible and mysterious. That's the only way we can once again become desirable. That is the only way great love stories are born." Die Idee ist, dass der Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft hart sein muss, weil nur Dinge, die hart erworben wurden, geschätzt würden. Es ist eine konservative Idee, und sie hat grundsätzlich ihre Berechtigung, auch wenn ich sie nicht vollständig teile. Aber was Mansour hier ausklammert ist, dass das vorherige - härtere - System vor allem willkürlich und wenig zielführend war. Es schloss viele Menschen von der Staatsbürgerschaft aus, die wir eigentlich haben wollen, weil seine Zutrittsbarrieren nicht auf Leistung und Charakter basierten, sondern insitutionellen Schikanen und unsinnigen Abstammungskonzepten. Die Konservativen haben es viele, viele Jahre verpasst, ein eigenes System auf die Beine zu stellen, das Mansours Ansprüchen gerecht wurde. Ergo war ein Vakuum da, das die Ampel füllte. Dass Konservative damit nicht glücklich sind ist klar, aber das ist dasselbe Resultat wie etwa die Dominanz von den Leuten, die die sicherheitspolitische Debatte dominieren: wenn die Linken nicht in der Lage sind, da eigene Expertise zu entwickeln, dann müssen sie sich nicht beschweren, wenn das Vakuum von ihren Gegnern gefüllt wird. Dasselbe gilt hier umgekehrt fürs Staatsbürgerschaftsrecht.
3) Das moralschwere Es-geht-doch-um-den-Menschen-Pathos der Linken
Till-Reimer Stoldt kritisiert die Pläne der Linken für die Kommunalpolitik in NRW scharf und warnt vor deren möglichen Folgen. Frontfrau Heidi Reichinnek sei zwar bei jungen Wählern populär und könne die Partei in den Kommunalwahlen am 14. September auf sieben Prozent bringen, doch würden viele Anhänger übersehen, dass die Partei von linksextremen Gruppen mitgeprägt werde, die vom Verfassungsschutz beobachtet würden. In ihren Leitlinien forderten die Linken Maßnahmen, die laut Stoldt Sicherheit, Migration und Bildung negativ beeinflussen könnten. Dazu zählten die „Entwaffnung des KOD“ und die Ablehnung von Videoüberwachung, was die innere Sicherheit schwäche. In der Bildungspolitik werde auf „queerfreundliche“ Projekte gesetzt, die Stoldt als übergriffig für Kinder bezeichnet. Zudem wolle die Partei alle Menschen ohne deutschen Pass dauerhaft im Land behalten und Abschiebungen gezielt verhindern. Mit Forderungen wie einer Mindestsicherung von 1.400 Euro pro Person und Monat würden zudem starke Anreize für Migration geschaffen. Stoldt befürchtet, dass Kommunen unter linker Führung zu „sicheren Häfen“ für Straftäter werden könnten. (Till-Reimer Stoldt, WELT).
Ich verstehe Stoldts Abneigung völlig und würde die LINKE auch nicht in die Kommunalvertretungen wählen (kein Szenario, das hier im Remstal sonderlich viel Kopfzerbrechen bereiten muss). Allerdings finde ich Stoldts Argumentation auf zwei Feldern etwas merkwürdig. Einerseits überschätzt er die Wirkmöglichkeiten der kommunalen Politik dann doch maßlos. Kita-Bildungspläne werden auf Länderebene gemacht, da werden ein paar "queerfreundliche Projekte" nur Farbflecken sein können. Und ob einzelne Kommunen Leute im Gemeinderat haben, die eine Mindestsicherung für Geflüchtete verlangen, dürfte im Sudan auch nur auf mäßiges Interesse stoßen. Die zweite Dimension ist, dass genau mit diesem Argument - die Kommunalpolitik ist entideologisiert, deswegen passiert da eigentlich nur Pragmatisch-Bürger*innennahes - Zusammenarbeit von CDU und AfD in der Welt immer verteidigt wurde. Dieses Argument zählt nun gar nichts, wenn die SPD und Grünen plötzlich mit der LINKEn zusammenarbeiten könnten. Aber was ist es nun? Ist die Zusammenarbeit auf Kommunalebene unbedenklich oder nicht? Dann ist sie es auch mit der LINKEn, und schon gleich dreimal, wenn hier bei 7% von einem riesigen Erfolg sprechen. Das ist etwas albern. In welchem Gemeinderat entscheidet denn eine 7%-Fraktion irgendwas?
4) »Regierungen müssen den Leuten das Gefühl vermitteln, die Dinge im Griff zu haben«
Der Soziologe Armin Nassehi reflektiert im SPIEGEL-Interview über Angela Merkels berühmten Satz „Wir schaffen das“ und dessen Auswirkungen auf die Flüchtlingspolitik und den Aufstieg der AfD. Er erklärt, Merkel habe den Satz bewusst gewählt, ohne seine Tragweite zu erahnen, und die Entscheidung, 2015 die Grenzen offen zu halten, sei zunächst eine humanitäre Reaktion gewesen. Die späteren Versäumnisse hätten jedoch bei vielen das Gefühl von Kontrollverlust erzeugt und damit populistische Strömungen wie die AfD gestärkt. Nassehi betont, dass Migration zwar ein zentrales Thema der AfD sei, aber eingebettet in einen breiteren Vertrauensverlust gegenüber Eliten. Auch die Union sei durch diese Konflikte innerlich zerrissen worden. Die aktuelle Politik der Zurückweisungen unter Friedrich Merz sieht Nassehi kritisch, weil sie AfD-Narrative bestätige, statt eigene Lösungen zu präsentieren. Entscheidend seien sichtbare Integrationsfortschritte, etwa durch Bildung und Arbeit. Demokratische Regierungen müssten Kompetenz und Kontrolle vermitteln, um Vertrauen zurückzugewinnen. (Maria Fiedler & Sebastian Fischer, Der Spiegel).
Der zentrale Punkt Nassehis ist für mich das "Vermitteln von Kompetenz und Kontrolle", denn genau darin scheitert der Staat. Das liegt natürlich, ich habe darüber geschrieben, auch an unserer eigenen Erwartungshaltung und den Mediennarrativen. Aber es ist auch der Staat selbst, der hier beständig scheitert. Die Gründe sind vielfältig. Einmal in der Mentalität, weil gar nicht daran geglaubt wird, dass Kompetenz und Kontrolle überhaupt möglich sein könnten. Einmal personell, weil es an der nötigen Expertise fehlt. Vor allem aber ideologisch, weil wir eine unglaubliche Verrechtlichung und Verhinderungsneigung im ganzen System haben. Ich vergesse sicherlich Aspekte, aber das alles ist losgelöst vom konkreten sachpolitischen Thema. Aber virulentesten war es sicher in der Migrationsfrage, weil die so viele Themenbereiche im Nahbereich des Menschen so deutlich berührt, aber es ist ein generelles Problem.
5) Die Abrechnung mit dem System Lindner
Nach dem Scheitern bei der Bundestagswahl zieht die FDP eine kritische Bilanz ihrer Politik der letzten Dekade, insbesondere der Ära Christian Lindner. Eine interne Analyse auf Basis umfassender Daten legt dar, wie strategische Fehler, mangelnde Kommunikation und eine Entfremdung vom Wähler zur Wahlniederlage führten. Zentral ist dabei der Austritt aus der Ampelregierung, der laut Umfragen und Fokusgruppen als intransparent und überstürzt wahrgenommen wurde. Die FDP habe ihre Stammwählerschaft enttäuscht und zentrale Anliegen wie Steuererleichterungen oder Deregulierung nicht umsetzen können. Statt Reformen seien lediglich Blockaden vorgewiesen worden, etwa bei der Schuldenbremse oder dem Tempolimit. Die Analyse betont, dass viele Wähler das liberale Profil der Partei nicht mehr erkennen konnten, während der Austritt aus der Koalition als »Schmierentheater« erschien. Künftig will die FDP eine Neuausrichtung wagen: ein neues Grundsatzprogramm, Bürgernähe und eine thematische Rückkehr zu Alltagsproblemen sollen Vertrauen zurückgewinnen. Auffällig ist jedoch, dass die Parteiführung mit Christian Dürr einem engen Vertrauten Lindners übergeben wurde. (Serafin Reiber, Der Spiegel)
Ich finde es lustig zu sehen, dass die FDP dasselbe Spiel spielt, dass die SPD nach jeder Wahl aufs Neue aufführt. Ich meine, ein neues Grundsatzprogramm? Wahnsinn, endlich wieder bedrucktes Papier, wenn wir Glück haben sogar in Magenta. Bürgernähe? Klar, das Schlagwort darf nie fehlen, ist aber komplett irrelevant. Und eine "Rückkehr zu den Alltagsproblemen" darf auch nie fehlen. Diese Art der Selbstkritik könnte in jeder Nachwahlbetrachtung stehen. Ich glaube, die Wahlnachlese der Grünen hatte im Endeffekt genau dasselbe dastehen. Kein Wunder passiert da nichts. Das einzig Substanzielle in dem Ding ist die Erkenntnis, dass man den Koalitionsbruch verkackt hat. Und diese Erkenntnis wird so sehr in Watte gepackt wie bei den Grünen die Erkenntnis zum Desaster um das Heizungsgesetz. "Man hat nicht richtig kommuniziert" und so. Mit solchen Nachwahlanalysen gewinnt man keinen Blumentopf.
Resterampe
a) Die sprechen echt eine ganz eigene Sprache, wie alle Radikalen. (Twitter)
b) Zu Plagiaten im Politikbetrieb. (Spiegel) Sehe ich auch so.
c) Chatbots sind nicht mehr aufzuhalten. (Spiegel) Jepp.
d) Die USA sind mittlerweile korrupter als die meisten afrikanischen Diktaturen. (New York Times)
e) Zahl der Asylerstanträge deutlich zurückgegangen (Spiegel).
f) He-Men (Dreams of Which House). Sehr lesenswerter Essay über die Swords&Sorcery-Filme der frühen 1980er.
g) Wer sich für eine militärgeschichtliche Analyse der Star-Wars-Prequels interessiert, wird hier fündig. (Portal Militärgeschichte) Vielleicht was für Thorsten?
h) Ageing Britain drifts into fantasy politics (Financial Times).
i) Julia Klöckner will Wahlrecht schon wieder ändern (Spiegel). Testballon.
j) Kläranlagen sind faszinierender als Pyramiden (Welt). Stimmt, hilft nur nichts.
k) Fair. (Twitter)
l) Halal-Essen in der Schule – und schon tobt der Kulturkampf (News4Teachers). So ermüdend.
m) Chartbook 402 Dual-circulation: travels through China in the summer of 2025. (Chartbook)
n) Und genau deswegen ist das so ein irrelevantes Argument. (Twitter)
Fertiggestellt am 10.08.2025
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