Mir ist dieses von meiner Kindheit an geschehen, eine Stimme nämlich, welche jedes Mal, wenn sie sich hören lässt, mir von etwas abredet, was ich tun soll, zugeredet aber hat sie mir nie.
Sokrates (469-399 v. Chr.) altgriechischer vorchristlicher Philosoph,
Apologie des Sokrates, Philipp Reclam jun. Verlag, 1986
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- "Die Empfindung stellt fest, was tatsächlich vorhanden ist.
Das Denken ermöglicht uns zu erkennen, was das Vorhandene bedeutet,
das Gefühl, was es wert ist, und
die Intuition schließlich weist auf die Möglichkeiten des Woher und Wohin,
die im gegenwärtig Vorhandenen liegen."
Carl Gustav Jung (1875-1961) Schweizer Psychiater, Psychoanalytiker, Gesammelte Werke, Band 6. Psychologische Typen, Rascher, 10. revidierte Auflage 1967
Ei, Du mein Gott, wie ängstlich ist mir's heute zumut',
und bin sonst so gern bei der Großmutter.
Mit diesem Gedanken schiebt die Märchenfigur Rotkäppchen ihre unterschwellige warnende Ahnung bei Seite, als sie vor der Schwelle des Hauses ihrer Großmutter steht, das der Wolf kurz zuvor in Besitz genommen hat. Trotz ihres Unbehagens handelt Rotkäppchen entgegen ihrer Ahnung. Wäre sie davongelaufen, wäre sie nicht im Wolfsbauch gelandet.
Da das Vertrauen der Heldin in ihre Metasinne, die ihr entlang ihres Evolutionswegs vorhandene Dissonanzen zugeraunt haben, ungenügend entwickelt ist, beeinflussen sie den Verlauf des archetypischen Dramas wenig.
Die Orientierung des Waidmanns, der gelernt hat, seiner Intuition zu folgen, nimmt die Metasinne in Anspruch. Er erkennt das Schnarchen des bösen Wolfs, der vierten Figur im Märchen, als Misston im Haus der Großmutter. Als quintessentielle (fünfte) Figur im Märchen begeht der Waidmann bewusst Hausfriedensbruch, um nach dem Rechten zu sehen. Den als Großmutter verkleideten Wolf erkennt der Jäger, der Ohren hat zu hören und Augen hat zu sehen als betrügerischen Besetzer und als alten Sünder. Statt seinem jägertypischen anfänglichen Tötungsimpuls nachzugeben, hält er inne, um auf seine innere Stimme zu hören, die sich an zweiter Stelle meldet. Sie rät ihm, die Schere zu nehmen, um dem scheinschwangeren Wolf den Bauch aufzuschneiden und das darin vermutete noch Lebende zu befreien. Die Schere symbolisiert den Verstand vereint mit Geistimpuls in Aktion.
Während das instinkt-gesteuerte Verhalten (Wolf = Ego) auf uralten genetisch vorprogrammierten Anlagen und angeborenen Fertigkeiten beruht, ist die Intuition (Waidmann = Selbst) eher ein Talent, das sich dynamisch weiter entwickelt, so man seinen Eingebungen und wachsamen Ahn(ung)en Vertrauen schenkt und ihnen wertschätzend Raum und Überprüfung gewährt.
Lange Zeit ist die Intuitionsforschung von gestandenen Wissenschaftlern sehr stiefmütterlich behandelt worden. Den Forschern, die die Fahne der Vernunft hochhielten, war das Metawissen (Ge-Wissen, das Wissen um das Göttliche) im Wesentlichen suspekt, es erschien unwissenschaftlich und vage, unwägbar und unfassbar, und es rührte an tiefsitzende Ängste, die mit dem verstandesbetonten Ratio-Ansatz übertüncht worden sind.
Das Außer- und Metabewusste und die Intuition als Stimme des Noch-nicht-Bewussten entziehen sich der äußeren Kontrolle; es ist nicht möglich, Intuitionen im Voraus zu planen und zu bestimmen, sie lassen sich nicht erzwingen. Die "Alles-im-Griff"-Mentalität der linkshirnig Orientierten, die eines der vorherrschenden Merkmale der naturwissenschaftlichen Forschung war und weitgehend immer noch ist, wird durch intuitive Wissendheit anscheinend ausgehebelt. Naturwissenschaftler erheben den Anspruch, dass die Dinge objektiv, geordnet und für den Verstand nachvollziehbar sind; Intuition hingegen ist subjektiv, basiert auf Vertrauen in die eigenen Wahrnehmungen, Empfindungen und inneren Impulse und kann selten in allen Aspekten rational nachvollzogen werden.
Seit der Jahrtausendwende hat sich der Trend grundlegend geändert, denn mittlerweile erlebte die Intuitionsforschung einen regelrechten Boom. Es wird immer deutlicher, dass Regelmechanismen und automatische Reflexe, ob diese nun angeboren oder anerzogen sind, für das menschliche Leben viel bestimmender sind als das, was wir bewusst wahrnehmen:
- "In jeder Sekunde gelangen 11.000.000 (elf Millionen) Sinneseindrücke über die Nervenzellen in unser Gehirn und werden dort verarbeitet; sie steuern unsere Bewegungen, beeinflussen unsere Emotionen, unser Denken und unser Wohlbefinden. Bewusst nehmen wir jedoch höchstens 40 Eindrücke aufs Mal wahr, also noch nicht einmal ein Promille aller Informationen, die zu uns gelangen."
Quelle: Artikel Die Stimme aus dem Nichts, präsentiert von dem deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel, Gerald Traufetter, Heft 15, 2006
Wer sich erlaubt – dem Mainstream-Trend nicht folgend – auf seine Intuition, die Stimme des Un- und Metabewussten, zu hören, hat die Aussicht auf den Einblick in nicht rational erfassbares Wissen und den Zugang zu einem enormen Weisheitsreservoir. Dieser Umstand entgeht demjenigen, der Intuition gering schätzt und sich darauf beschränkt, nur mit dem Verstand entscheiden zu wollen (was sich ohnehin als ein Irrtum herausgestellt hat).
Der niederländische Professor für Sozialwissenschaft Ap Dijksterhuis (*1968) bekleidet den Lehrstuhl Psychologie des Unbewussten an der Radboud Universität in Nimwegen. Die favorisierte linkshirnig gesteuerte Vernunft eignet sich, um Fakten zu recherchieren, zu sammeln und Situationen analytisch auszuwerten. Sie kann Dijksterhuis' Forschungsergebnissen nicht standhalten, denn bei komplexeren kontextuellen Fragestellungen versagt das Prinzip der reinen Vernunft. Bei solchen Fällen empfiehlt Dijksterhuis:
"Das Unbewusste trifft nachweisbar die besten Entscheidungen."
Intuitive Eingebungen können nicht bestellt werden. Allerdings stellen sie sich in einem fruchtbaren Feld eher ein. Repetitive körperliche Tätigkeiten sind hilfreich, wenn es gilt, Eingebungen und Ahas auf die Sprünge zu helfen:
- Zu Fuß gehen,
- Auto fahren,
- Musizieren,
- Schwimmen, Duschen, Baden,
- Hausarbeiten (wie Putzen und Geschirr von Hand spülen) und
- Handarbeiten wie Stricken, Häkeln, Flechten, Spinnen und Nähen.
Alte illustrierte Märchenbücher zeigen die erzählende Großmutter, den Archetyp der alten, weisen Frau, vielfach mit einer Strickarbeit auf ihrem Schoß. So wie sie Masche für Masche strickt und das Muster ihrer Arbeit allmählich offenbar wird, so strickt sie Wort für Wort an ihrer Geschichte. Und mit jedem weiteren Satz treten die Verhaltensmuster und Zusammenhänge der Geschichte deutlicher hervor. Gleichzeitig stricken die Neuronen im Gehirn der ZuhörerInnen und erschaffen neue Bahnen und Vernetzungen. Dieser Zusammenhang zwischen Textilien aus Maschen und Texten aus Worten hat sich bis heute in der Sprache erhalten: ein "Text" ist ein Gewebtes oder Gestricktes.
In der Seemannssprache bedeutet die Redewendung ein Garn zu spinnen, eine Geschichte zu erzählen. Wer sich erlaubt, auf der konkreten, irdischen Ebene zum Weben und Stricken zurückzukehren, wird damit auch seine Fähigkeit aktivieren, Gewebe aus Worten zu erschaffen, Masche für Masche, Wort für Wort, aus der Tiefe des kollektiven Unbewussten.
Referenz/Quelle: SpiritualWiki - Intuition
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