Der amerikanische oberste Gerichtshof ist ein ungeheuer mächtiges Gremium. Mit lebenslang dienenden Richter*innen, die nichts und niemandem verpflichtet sind, kann er Gesetze in einem ungeheuer weiten Rahmen auslegen und damit die politische Realität maßgeblich mitbestimmen. Die letzten Jahrzehnte sind zudem von einer ständigen Ausdehnung der Kompetenzen des obersten Gerichts geprägt, die unter dem Vorsitzenden John Roberts neue und nie dagewesene Höhepunkte erreicht hat. Durch die aggressive Besetzungspolitik, mit der Mitch McConnell einen Sitz stahl und damit die rechte Mehrheit zu zementieren half, wie durch die egoistische Weigerung Kennedys und Ginsbergs, rechtzeitig für eine Neubesetzung zurückzutreten, ist das oberste Gericht nun auf Jahre hinaus stark konservativ bis hin ins rechtsradikale Spektrum geprägt. Die neue Marschrichtung des Gerichts wurde durch eine Reihe von Entscheidungen deutlich, die Ende Juni 2024 verkündet wurden, kurz vor der Sommerpause, in einer wahren Ladung von Urteilen, in der einzelne Entscheidungen untergehen - und das in einer ohnehin nicht sonderlich an Details interessierten Öffentlichkeit.
Aber zuerst einige Grundlagen. Der Supreme Court besteht aktuell aus neun Richter*innen, eine Zahl, die bereits seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr verändert wurde (aber grundsätzlich fluide ist; der Gerichtshof bestand auch schon aus acht und zehn Personen). Davon hat einer das Amt seit der Präsidentschaft George H. W. Bushs inne (Clarence Thomas, seit 1991), zwei seit der Präsidentschaft seines Sohns George W. Bush (John Roberts, seit 2001, und Samuel Alito, seit 2006), zwei seit Barack Obama (Sonia Sotomayor, seit 2009, und Elena Kagan, seit 2010), drei seit Trump (Neil Gorsuch, seit 2009, Bret Kavanaugh, seit 2018, und Amy Coney Barett, seit 2020) und eine seit Biden (Ketanji Brown Jackson, seit 2022). Dadurch besteht der Gerichtshof aus drei demokratischen und sechs republikanischen Ernennungen.
Dem Naturell Obamas entsprechend sind Sotomayor und Kagan eher moderat liberale Richterinnen, wie alle seine Ernennungen (man bedenke nur seine Nominierung von Merrick Garland 2016; seine Amtszeit als oberster Staatsanwalt unter Biden zeigt deutlich, welche Leute Obama bevorzugte). Jackson ist demgegenüber schon eher das Kind einer neuen, nach links gerückten demokratischen Partei, bleibt aber immer noch firm im liberalzentristisch Lager.
Auf der Gegenseite findet sich hier John Roberts, der mittlerweile die moderateste Stimme im republikanischen Spektrum darstellt - was einiges heißt, denn Roberts ist nicht eben ein zurückhaltender Zeitgenosse. Etwas überraschend hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass Bret Kavanaugh und Amy Coney Barrett (und damit zwei Trump-Ernennungen) noch gelegentlich ihre Stimmen mit denen ihrer liberalen Amtskolleginnen vereinen (und eine 6-3-Entscheidung für das Fortbestehen der Meinungsfreiheit lässt nicht eben Zuversicht aufkommen), während die Bush-Altlasten Clarence Thomas (der zudem zutiefst korrupt ist) und Samuel Alito zusammen mit Neil Gorsuch den radikalen Rand bilden, dem mittlerweile alles zuzutrauen ist. Thomas und Alito waren schon immer die extremestischen Ausleger des Gerichtshofs, vor allem Thomas mit seiner angeblich "originalistischen" Philosophie (hinter der allerdings nichts steht, wie ich schon ausführlich beschrieben habe), aber zunehmend auch Alito, der immer weniger Rücksicht zeigt. Neil Gorsuch ist für manche hier sicher die größte Überraschung; die schlechten Kolumnen von 2017 sind diesbezüglich nicht gut gealtert; die mahnenden Stimmen haben Recht behalten.
Aber letztlich sind die Entscheidungen des Supreme Courts, wann immer eine relevante Frage ansteht, verlässlich für die republikanische Partei. Der daraus resultierende massive Vertrauens- und Ansehensverlust der letzten Jahre ist so seismisch, dass er eigentlich kaum ignoriert werden kann. Die gleichzeitig immer größere Offenheit und abnehmende Zurückhaltung scheinen Ausdruck eines "ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich's gänzlich ungeniert" zu sein. Jedenfalls Clarence Thomas lebt offensichtlich nach dieser Maßgabe.
Aber damit zu den jüngsten Urteilen. Roberts plante diese mit gewohnter Akribie: im Mai veröffentliche der Gerichtshof eine Reihe von kleinen Urteilen, in denen die moderat-konservativen Richter*innen immer wieder mit den drei progressiven Richterinnen stimmten, um den Eindruck von Objektivität und Unvoreingenommenheit zu wahren. Professionellen Beobachtenden war das jedoch von Beginn an klar; die Verzögerung der großen Urteile zu offensichtlich. In den letzten Stunden der aktuellen Amtsperiode kamen dementsprechend auch die Klopper. The Nation schreibt vom "biggest power grab since 1803", im Spiegel-Leitartikel heißt es, dass der Supreme Court "hilft, die amerikanische Demokratie zu zerstören", das Washington Monthly reminisziert über "This Horrible Supreme Court Term", selbst die Welt sieht "den Grundstein der amerikanischen Demokratie zerschlagen". Was ist passiert? Vor allem zwei Urteile stechen heraus: die Grundsatzentscheidung über die Immunität des Präsidenten und die Aufhebung von Chevron U.S.A. v. Natural Resources Defense Council von 1984.
Kümmern wir uns zuerst um Letzteres. 1984 entschied der damalige Supreme Court in einem wegweisenden Urteil, dass den Behörden der Prärogativ bei der Auslegung von Gesetzen zustehe, soweit es um Ausführungsbestimmungen geht. Wenn also etwa der Kongress ein Gesetz verabschiedet, das neue Umweltregeln für das Beseitigen von Müll vorsieht, dann liegt es an der Umweltbehörde EPA, festzulegen, wie das genau nachgehalten wird. Das macht auch Sinn; schließlich ist genau das die Rolle der Exekutive: die Ausführung von Gesetzen.
Damit hat der Supreme Court jetzt Schluss gemacht. Wie Kevin Drum ätzend zusammfasst, lässt sich die dahinterstehende Logik als "Supreme Court decides courts are the very best at everything" zusammenfassen, was mit Roberts' Institutionalismus durchaus kompatibel ist (wesentlich weniger mit den angeblich konservativen Werten von gerichtlicher Zurückhaltung, die immer nur dann hervorgeholt wird, wenn es um progressive Urteile geht), aber tatsächlich der von der Nation beklagte "größte power grab seit 1803" ist. Zur Erinnerung, damals etablierte John Marshall den Supreme Court überhaupt als das heutige Gremium, indem er das judicial review erfand.
Die Konsequenz ist, dass ab sofort nicht die Behörden (wo die Fachkenntnis zuhause ist) sondern die Gerichte (die keine Sachkenntnis haben, aber dank Jahrzehnten erfolgreicher Organisationsarbeit republikanische Bastionen sind) die Regulierungspraxis bestimmen sollen. Da die Gerichte dafür aber überhaupt nicht die personellen Ressourcen haben, noch die Erfahrung, ist damit zu rechnen, dass dies dazu führen wird, dass ein wilder Mix von inkohärenten Urteilen die jeweils stärksten Kläger bevorzugen wird - und damit auch die Großunternehmen, die Hauptspender der GOP sind.
Die Konsequenzen reichen aber weit über den wirtschaftlichen Sektor hinaus, und dort liegt das Hauptinteresse der Republicans. Wie Andrew Polino in seinem Thread zur Verbindung zwischen Chevron und Project 25 beschreibt, erlaubt die Aufhebung von Chevron eine Durchsetzung der radikalen GOP-Politik unter anderem eine stärkere Kontrolle über die Medien durch die Exekutive, ein unkontrolliertes Vorgehen gegen Immigrant*innen, stärkere präsidiale Kontrolle über FBI und CIA, weitere Zerstörung der legalen Abtreibung, eine Politisierung der Behörden und vieles mehr. Das ist alles konsequent, denn "the Supreme Court really hates federal agencies" (auch The Atlantic sieht das so: "The Supreme Court Won’t Stop Dismantling the Government’s Power"). Selten wurde der Demokratie ein solch heftiger Schlag versetzt.
Von unmittelbarerer Bedeutung ist das Urteil zur Immunität des Präsidenten, aber konkret gesprochen: Trumps. Hier ist bereits der Weg zum Urteil von höchster Ruchlosigkeit. Die Entscheidung über die Strafbarkeit Trumps ist mitten im Wahlkampf, in dem er der Favorit für das Präsidentenamt ist, von größter Bedeutung. Der Supreme Court verschleppte das Urteil über Monate (bereits vergangenen Herbst prognostizierten professionelle Beobachtende, dass er dies tun würde und welchen Effekt dies haben würde), um den republikanischen Kandidaten zu schützen, und gab die Entscheidung vor der Sommerpause zurück an die nachgeordneten Gerichte, was garantiert, dass es zu keinem Urteil vor dem Wahltermin kommen wird. Er betätigt sich damit direkt als Wahlhelfer Trump. Dass er durchaus anders kann, wenn das zur Hilfe Trumps nötig ist, hat er bewiesen, als er im Frühjahr in einer Eilentscheidung das Urteil des obersten Gerichts im Bundesstaat Colorado kippte, das Trump nach seiner Verurteilung nicht auf die Wahlzettel zuließ. Die bereits erwähnte Schamlosigkeit zeigt sich in Roberts' Urteilsbegründung, in der er sich selbst auch noch für die "schnelle" Urteilsfindung lobt. Der Mann braucht dringend einen Twitteraccount, im Shitposten macht ihm niemand etwas vor.
Die eigentliche Substanz des Urteils ist etwas schwieriger zu greifen. In aller Kürze postuliert es eine weitreichende Immunität des Präsidenten für Handlungen während seiner Präsidentschaft, mit der Begründung, dass das Gegenteil bedeuten würde, dass Präsident*innen sich nie sicher sein könnten, dass ihre politischen Gegner sie nicht nach Amtsende gerichtlich verfolgen würden. Die historische Parallele ist eindeutig das Ende der römischen Republik, und ich stehe dieser Argumentation durchaus aufgeschlossen gegenüber. Es hat seinen Grund, dass etwa Obama die Rufe nach einer strafrechtlichen Verfolgung George W. Bushs entschieden ablehnte. Bisher ist das zugebeben ein nur auf Präzedenz und Normen beruhender Fall, wenngleich einer, der in 230 Jahren nicht ein einziges Mal gebrochen wurde. Hier regt sich vermutlich das schlechte Gewissen eines Präzedenzfälle routiniert missachtenden Gerichts. Gleichwohl würde dies vor allem Trump helfen: Obama hat sich nichts vorzuwerfen, und alle anderen politischen Gegner - nehmen wir Hillary Clinton, die Trump und seine fanatische Anhängendenschaft seit 2016 hinter Gittern sehen will - sind dadurch unberührt.
Gleichwohl ist die wahre Konsequenz des Urteils umstritten. Der New Statesman etwa sieht Trump als "König über dem Gesetz", und auch das Washington Monthly sieht die Trump-Entscheidung als "even worse than you think", Kevin Drum dagegen betrachtet sie "nicht das Ende der Demokratie" und erklärt, warum Trump "still can’t shoot someone on Fifth Avenue". Letzten Endes kann es durchaus sein, dass die realen Konsequenzen überschaubar bleiben. Ich hatte bereits vergangenes Jahr prophezeit, dass es zu keiner politischen Verurteilung Trumps kommen würde, schon gar nicht vor den Wahlen, ungeachtet des Urteils, in dem der Supreme Court die "Utterly Baffling" Entscheidung (The Atlantic) trifft, dass ein gewaltsamer Putschversuch kein großes Problem ist, das irgendwie die Gerichte zu beschäftigen habe, solange der Putschist nur ein republikanischer Präsident ist.
Denn das gehört mit zu den Dimensionen dieses neuen Supreme Court: alle Urteile müssen parteiisch gelesen werden. Könnte sich ein demokratischer Präsident (zweideutig hier) darauf verlassen, ebenfalls immun zu sein? Oder würde Roberts' Gerichtshof einen Grund finden, die Klage doch zuzulassen und zu seinem urteilenden Abschluss zu bringen? Würde er, wenn es sich um eine transparent politische Verfolgung handelte, dies anerkennen? Die Antwort darauf ist bestenfalls unsicher, aber wer Geld im Spiel hat, würde auf "Nein" tippen müssen. Und selbst eine unsichere Antwort ist ein vernichtendes Urteil über den obersten Gerichtshof.
Dazu passen auch einige kleinere Entscheidungen, die der Gerichtshof neben diesen Kloppern veröffentlicht hat. So zeigt etwa eine kleine Entscheidung zur Meinungsfreiheit im Internet, dass "Free speech probably lives, though only 6-3" - bereits drei Richter sind bereit, die Meinungsfreiheit, wie sie im ersten Verfassungszusatz garantiert ist, zur Disposition zu stellen (erneut: wer braucht schon Präzedenzfälle als konservativer Richter). Gleichzeitig erlaubte er nebenbei, Obdachlosigkeit zu kriminalisieren, was mit Sicherheit dabei helfen wird, diesem Problem Herr zu werden.
Mit am entmutigendsten aber sind manche Reaktionen der Öffentlichkeit auf diese Urteile. Nicht nur das weitgehende Desinteresse an dieser judikativen Abrissbirne, sondern auch völlig illusorisch-naive Hoffnungen auf Gewaltenteilung spielen mit hinein: als ob in einem Land, in dem der Präsident mit einem ihm ergebenen FBI politische Gegner verhaften lässt, diese noch auf einen fairen Prozess hoffen und wegen der offensichtlichen Gesetzlosigkeit des Handelns freikommen würden! Auch die Verfassung der russischen Föderation garantiert in blumiger Sprache solch rechtsstaatliche Prinzipien. Was es Nawalny genutzt hat, dass das auf bedrucktem Papier steht, sei dahingestellt. Genau dasselbe würde in den USA auch passieren, käme es je soweit. Nur wäre es dann zu spät. Hier muss den Anfängen gewehrt werden, und die sind längst da.
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