Die Europäische Union ist ein Projekt, das viele Gegner hat. Kaum ein Vorwurf wird so oft gegen die Europäische Union erhoben wie der, dass sie undemokratisch sei. Selbst EU-Befürworter tun sich schwer damit, sie von diesem Vorwurf grundsätzlich freizusprechen. Ihre arkanen Strukturen helfen ihr dabei nicht unbedingt; ein Verfassungsschaubild der EU löst nicht nur eine erbitterte Diskussion darüber aus, ob sie überhaupt eine Verfassung hat oder eine haben darf, sondern sieht auch aus, als sei eine Rotte McKinsey-Berater mit einem Organigramm angerückt. Ich will versuchen, mich dieser Frage zu stellen, aber angesichts dessen, dass die meisten Leute die Struktur der EU überhaupt nicht kennen und nicht wissen, wie diese einzuordnen ist, werden wir nicht umhin kommen, eine Art Grundlagenkurs vorzuschieben.
Im Laufe ihrer wechselvollen Geschichte durchlief sie viele verschiedene Stadien, wandelte ihre Natur mehrmals. Infolgedessen ist sie komplex, ein organisch gewachsenes Konstrukt, das zwar mit ihrer ursprünglichen Konzeption nur noch wenig gemein hat, aber nichtsdestotrotz von ihr geprägt ist. Der erste Punkt muss daher eine Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte sein, um sehen, woher sie kommt und wohin sie geht.
Auferstanden aus Ruinen
Im Jahr 1945 stand Europa an einem Scheideweg. Das Nazi-Reich war zerschlagen, zerstört, zerteilt und besetzt. Aber dasselbe galt für viele andere europäische Staaten auch. Frankreich war zwar nicht so getroffen wie nach dem Ersten Weltkrieg, aber von der deutschen Besatzung ausgeblutet und zumindest in Teilen zerstört. Die alliierten Armeen waren gegen erbitterten Widerstand der deutschen Truppen durch Belgien und die Niederlande vorgestoßen und hatten mühsam Italien durchquert. Großbritannien war finanziell und wirtschaftlich ausgeblutet und hatte Bombenschäden zu beseitigen. Von den Verheerungen Osteuropas, die das Ausmaß der Zerstörung in Deutschland oft genug übertrafen, wollen wir gar nicht anfangen.
Für alle Beteiligten galten zwei grundsätzliche Prämissen. Auf der einen Seite wurde Deutschland, anders als 1918, besetzt und als eigenständiger Faktor komplett ausgeschaltet. Auf der anderen Seite sollte der folgende Frieden dieses Mal deutlich nachhaltiger sein als nach Versailles. Demontage und Teilung Deutschlands galten daher in vielen Diskussionen, wenngleich nicht allen, praktisch als gesetzt.
Doch schnell kamen zwei Faktoren auf, die diese Prämissen hinfällig machten.
Faktor eins war der beginnende Kalte Krieg. Die sich abzeichnende Realität war, dass die Nachkriegsordnung, Deutschland von allen vier Siegermächten gemeinsam zu verwalten, nicht aufrechtzuerhalten war. Die sowjetisch besetzte Zone (SBZ), aus der sich später die DDR entwickeln sollte, war perspektivisch nicht für den wirtschaftlichen Zugriff der Westalliierten zu halten.
Das bedingte Faktor zwei: Die Besatzungszonen waren allein nicht lebensfähig. Statt Gewinn in Form von Reparationen und Demontagen aus ihnen ziehen zu können, wurden sie zu Zuschussunternehmungen. Großbritannien, das während des Krieges aus Lebensmittelrationierung verzichtet hatte, musste diese 1946 einführen, um seine Zone mit Lebensmitteln versorgen zu können. Frankreich stand vor einer noch größeren Herausforderung.
Es überrascht daher wenig, dass die USA und das UK sich bereits 1946 zusammentaten und ihre Zone von nun an gemeinsam verwalteten, um die Kosten zu reduzieren und möglichst schnell eine eigenständige, lebensfähige Zone zu erhalten. Frankreich wehrte sich dagegen, weil es noch darauf hoffte, größere Gebietsgewinne (vor allem die Saar) und Reparationsleistungen zu bekommen. Doch aus dem zerstörten Deutschland ließ sich einerseits wenig ziehen, und andererseits war Frankreich wirtschaftlich wesentlich zu schwach, um gegen den Widerstand seiner Verbündeten eine eigenständige Deutschlandpolitik fahren zu können.
Einige weitsichtige Politiker erkannten bereits damals, dass Frankreichs Sicherheitsbedürfnis nicht würde aus einer Niederhaltung Deutschlands gestillt werden können, sondern nur aus einer Symbiose. Am berühmtesten ist hier Winston Churchills Rede von 1946, in der er die Vision der „Vereinigten Staaten von Europa“ entwarf, die sich um eine Achse zwischen Frankreich und Deutschland herum (wenngleich mit einem deutlich dominanten Frankreich) entwickeln sollten. Pointiert nahm er dabei Großbritannien heraus. Während er chauvinistisch (wenngleich korrekt) Frankreich den Großmachtanspruch absprach und es auf den Kontinent verbannte, nahm er ihn für Großbritannien (ungleich weniger korrekt) sehr wohl an.
Hintergrund war, dass Churchill das Empire als Kraftreserve sah, das es Großbritannien ja auch erlaubt hatte, den Krieg durchzustehen. Er hatte da gewisse Erfahrungen aus erster Hand. Diese Erfahrungen aber verstellten ihm den klaren Blick. Churchill stellte sich Großbritannien als eigenständigen Akteur zwischen USA und UdSSR vor, quasi als Brücke zwischen den USA und den USE. Bereits ein Jahr später zeigte die Unabhängigkeit des „Kronjuwels“ Indien, was für eine Fantasterei das war. Die Labour-Partei, die gegen den Fantasten Churchill 1945 die Wahlen gewonnen hatte, war da schon weiter und baute Großbritannien mit einem auf innenpolitische Reformen gerichteten Blick vom Empire zum modernen Staat um – einem modernen Staat, der seinen Platz in Europa und nicht in Weltmachtspielereien hatte.
Einstweilen aber beobachtete Großbritannien die europäischen Vorgänge noch aus wohlwollender Distanz. Es war an den Franzosen, über den eigenen Schatten zu springen. Deutschland hätte, auch nach der Schaffung der Trizone 1947, der Einführung der Mark 1948 und der Gründung der Bundesrepublik 1949, mehr als vermessen gewirkt, in diese Richtung zu agieren.
Die beiden Personen, die mit diesem Schattensprung am bekanntesten verknüpft sind, sind Robert Schuman und Jean Monet. Schuman war der französische Außenminister, während Monet ein Unternehmer mit hervorgehobener Rolle bei der Koordination der britischen und französischen Kriegswirtschaft und damit ein Experte für wirtschaftliche Verflechtungen war.
Sie traten nun an den ersten Bundeskanzler, Konrad Adenauer, heran und machten ihm einen spektakulären Vorschlag. Konkret ging es um die Schaffung einer gemeinsamen Behörde, die supranational und damit den Staaten übergeordnet sein sollte. Diese Behörde, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, kurz: Montanunion), sollte die Montanindustrie beider Länder gemeinsam verwalten. Die Montanindustrie (Bergbau und Eisenverarbeitung) besaß damals noch eine hervorgehobene Stellung, weil sie sowohl als Grundstoffhersteller für alle weiteren Industrien als auch für den Aufbau und Unterhalt einer Rüstungsindustrie entscheidend war.
Die Motive Frankreichs für diesen Zug sind verhältnismäßig leicht zu durchschauen. Einerseits würden sie so, anders als in Weimar, klare Kontroll- und Zugriffsrechte auf die deutsche Montanindustrie haben. Eine verdeckte Aufrüstung à la „Schwarzer Reichswehr“ wäre so unmöglich. Andererseits würde die Versorgung der französischen Eisenindustrie mit Kohle sichergestellt werden. Und zuletzt wurde die französische Eisenindustrie vor der deutschen Konkurrenz geschirmt. Statt sich auf einen ruinösen Preiskampf mit der überlegenen deutschen Konkurrenz einlassen zu müssen, konnten gemeinsame Quoten und Märkte eingeteilt werden. Ein ähnlicher Versuch war in Frankreich mit der Schaffung von Kartellen und Schutzzöllen bereits im nationalen Alleingang in der Zwischenkriegszeit unternommen worden und kläglich gescheitert.
Doch auch für Deutschland hatte das Vorhaben einige verlockende Aspekte. Zwar schwächte es effektiv die deutsche Industrie, da diese freiwillig auf Wettbewerbsvorteile zu verzichten hatte. Aber dem stand der ungehinderte Zugriff auf den französischen Markt ohne ruinöse Schutzzollwettbewerbe gegenüber. Wesentlich bedeutender aber war der politische Effekt der EGKS. Die Selbstfesselung der deutschen Montanindustrie bedeutete, die französischen Vorbehalte gegen die Bundesrepublik deutlich zu reduzieren.
Da solche Vorbehalte seitens Frankreich die Beziehungen nicht nur zwischen diesen beiden Staaten, sondern auch mit den anderen Kriegssiegern in der Zwischenkriegszeit erheblich belastet hatten, konnten hier enorme Spannungen abgebaut werden. Deutschland war aber nach dem verlorenen zweiten Weltkrieg auch ein internationaler Paria; vor 1955 hatte es nicht einmal das Recht, eine souveräne Außenpolitik durchzuführen. Frankreichs ausgestreckter Arm war das erste normale Auftreten der neuen Bundesrepublik auf dem internationalen Parkett, und da diese Einigung sehr im Sinne Großbritanniens und der USA waren, die keine Lust auf eine Wiederholung der ständigen Reparationsstreitigkeiten aus der Zwischenkriegszeit hatten, stand dem Abkommen auch nichts im Wege.
So entstand die Keimzelle der späteren europäischen Union aus Erwägungen heraus, die heute praktisch keine Rolle mehr spielen. Die Montanindustrie erwähnt man eigentlich nur noch im Rahmen der Strukturkrise, und bei Saarland und Ruhrgebiet denken wir an Problemzonen, nicht an das pulsierende Herz der Wirtschaftstätigkeit. Das deutsche Militär beunruhigt in Frankreich allenfalls angesichts seiner Defizite und der weit verbreiteten Weigerung der Deutschen, es einzusetzen. Und Reparationen werden allenfalls in Griechenland und Polen als Thema betrachtet und dienen auch dort eher als Folklore.
Alle Wege führen nach Rom
Die EGKS, so viel wird man sagen dürfen, war ein klarer Erfolg. Weitere Schritte zu einer europäischen Einigung waren bereits vorher unternommen worden. Um die Hilfen des Marshallplans, mit dem die USA Europa wieder aufbauen zu helfen unternahmen, vernünftig zu koordinieren, war bereits 1948 die Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) gegründet worden. Im selben Jahr hatten sich Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Frankreich und Großbritannien im „Brüsseler Pakt“ zur „Westunion“ zusammengeschlossen, einem Militärbündnis, das damals noch eine starke anti-deutsche Stoßrichtung hatte, aber für unsere Zwecke vor allem wegen seiner langfristigen und verlässlichen Kooperationsperspektive relevant.
Bereits 1954 wurde die Westunion zur Westeuropäischen Union umgewandelt, in der auch Deutschland bald Mitglied wurde. Ihr Zweck war offensichtlich damals bereits eine Abwehr möglicher sowjetischer Aggression. Dieses Militärbündnis ist im Geiste bis heute Teil der EU, wenngleich es seit dem Lissabonner Vertrag 2009 in der allgemeinen Beistandsklausel aufgegangen und folgerichtig 2011 aufgelöst worden ist.
Bereits 1949 wurde zudem der Europarat gegründet. Diese britische Initiative sollte die UN-Menschenrechtscharta in Europa absichern. Dem lag die klare Erkenntnis zugrunde, dass nur eine supranationale Institution dies bewerkstelligen könnte – der Europäische Gerichtshof. Dessen Einrichtung wurde durch die 1950 ratifizierte Europäische Menschenrechtserklärung noch weiter flankiert.
Ich führe diese Entwicklungen hier deswegen auf, weil die Genese der Europäischen Union sehr häufig unzulässig auf ein reines Wirtschaftsbündnis verkürzt wird. Diese Erzählung kommt interessanterweise sowohl von ihren linken als auch ihren rechten Kritikern. Linke Kritiker betonen ihre Struktur als Wirtschaftsbündnis, um die Defizite besonders hervorzuheben. Rechte Kritiker betonen ihre Struktur als Wirtschaftsbündnis, um eine Rückbesinnung auf angebliche Kernkompetenzen zu fordern. Beides führt in die Irre.
Die Europäische Einigung war von Beginn an ein mehrgleisiges Projekt. Sie war bereits in ihrer Anlage eine Werteunion: Die Menschenrechtscharta, die Europäische Menschenrechtskonvention und die Einrichtung eines übergeordneten Gerichtshofs zur Durchsetzung dieser Werte noch vor der Einrichtung der EGKS sollten dies deutlich machen. Sie war aber auch ein militärisches Projekt, eine Absicherung sowohl gegen ein Wiedererstarken Deutschlands als auch gegen die Bedrohung durch die Sowjetunion. All diese Anlagen müssen bedacht werden, denn sie werden später in eine kohärente Form gebracht werden müssen.
Der Erfolg der EGKS gebar logische Folgeschritte. Neben der wirtschaftlichen Verschränkung Frankreichs und Deutschlands schien es sinnvoll zu sein, auch die politische und militärische Einheit anzugehen. In den frühen 1950er Jahren wurden hierzu mehrere Pläne ersonnen. Möglicherweise ist Stalins Störfeuer mit dem Wiedervereinigungsangebot von 1952 auch in diesem Zusammenhang zu sehen. Es erwies sich letztlich als überflüssig. Die Begeisterung für eine weitergehende Integration hielt sich in beiden Ländern in Grenzen. Die Deutschen wollten Autonomie und sahen Frankreich als Werkzeug dafür, während in Frankreich die Garde jener Politiker, die unbedingt die nationale Souveränität als Großmacht erhalten wollte, an Auftrieb gewann.
Die Pläne einer politischen Einheit wurden stillschweigend begraben. Wesentlich krachender war der Tod der militärischen Einheit. Französische Vorschläge einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), die eine Zusammenlegung der französischen und einer neu zu schaffenden deutschen Armee vorsah, scheiterten 1954 in der Nationalversammlung. Zu diesem Zeitpunkt hatten die USA und Großbritannien, die ihre Besatzungskosten durch einen deutschen Militärbeitrag zu reduzieren hofften, die Gründung einer eigenen deutschen Armee forciert – der Bundeswehr.
Die Europäische Einigung hatte damit, keine zehn Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs, bereits einen empfindlichen Schlag und eine erste Krise erlitten. Die französische Grundsatzentscheidung, von einer Union abzusehen, legte damit das Fundament für die kommende Wirtschaftsgemeinschaft – und schuf einen Präzedenzfall für alle weiteren Integrationsschritte. Wo Widerstand auftrat, legte man das Projekt auf Eis, wo es Spielräume gab, setzte man es fort.
Nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft verlegten sich die westeuropäischen Länder darauf, erst einmal bei der wirtschaftlichen Einigung weiter voranzuschreiten – ein Projekt, das sich mit der EGKS bereits äußerst erfolgreich angelassen hatte. Die EGKS hatte zwar als deutsch-französisches Programm begonnen, aber immer die Beitrittsperspektive der anderen europäischen Marktwirtschaften und Demokratien im Auge gehabt.
Die waren damals überschaubar: die drei Benelux-Staaten, Italien und Großbritannien sowie den skandinavischen Ländern. Spanien, Portugal und Griechenland waren brutale Militärdiktaturen, mit denen man zwar militärisch in der NATO kooperierte und von denen man Gastarbeiter anwarb, die aber sonst für das Projekt keine Rolle spielten. Dänemark, Großbritannien und Norwegen hatten ihre eigenen Vorbehalte gegen eine Mitgliedschaft in der neuen Wirtschaftsgemeinschaft und assoziierten sich lieber im Rahmen des Freihandels. Und Schweden und Finnland hatten, wie auch Österreich, eine Neutralitätsverpflichtung gegenüber der Sowjetunion und blieben daher bündnisfrei, während die Schweiz traditionell ihre Neutralität wahrte.
Recht schnell fand sich daher in Vorgesprächen 1955 eine Einigung der sechs Gründungsmitglieder EWG, eine solche zu schaffen. Bereits damals war der weitere Weg der europäischen Integration umstritten. In Deutschland etwa teilte sich die Regierung in das Lager der Institutionalisten, die eine Hohe Behörde zur zentralen Regelung des Handels einrichten wollten (quasi eine Art Super-EGKS) und die Funktionalisten, die eher der freien Macht des Marktes vertrauten, wenn man sie nur von ihren staatlichen Fesseln löse. Am Ende stand, wie so häufig, ein Kompromiss.
Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957 in Rom sah vor, Kontingentbeschränkungen – also Höchstmengen handelbarer Güter – zwischen den EWG-Mitgliedstaaten abzuschaffen, interne Zollschranken zu beseitigen und eine gemeinsame Außenhandelspolitik zu fahren, indem ein einheitlicher Außenzoll erhoben wurde. Zudem wurde die Freiheit von Menschen, Waren und Kapital gewährleistet – die grundsätzlichen Freiheiten, die die europäische Integration ausmachen und die vor allem mit Gründung der Europäischen Union zentral in den Fokus rücken sollten.
Doch die EWG war nicht die einzige Gemeinschaft, die 1957 in Rom gegründet wurde. Gleichzeitig gründete man auch die europäische Atombehörde, EURATOM, in der Erwartung, dass die Nuklearenergie die Schlüsseltechnologie des 20. Jahrhunderts werden würde. Unter Aufsicht der EURATOM fand in den kommenden Jahrzehnten ein beispielloser, von gigantischen Subventionen betriebener Ausbau der Nuklearenergie statt – eine technologische Sackgasse, an der noch viele Nachfolgegenerationen zu knapsen haben werden.
Am bedeutendsten für den weiteren Fortgang der europäischen Integration aber ist das dritte große Abkommen der römischen Verträge, das „Abkommen über gemeinsame Organe der europäischen Gemeinschaften“. Denn aktuell existierten nun mit EWG, EGKS und EURATOM bereits drei voneinander reichlich unabhängige Verbünde, die jeweils offen für Beitritte anderer europäischer Nationen und Assoziierungen derselben waren (Griechenland etwa assoziierte sich 1961 mit der Europäischen Gemeinschaft).
Das Abkommen über gemeinsame Organe sah daher vor, die einzelnen Verbünde zusammenzuschließen und eine „Europäische Gemeinschaft“ zu gründen und dadurch den Plural der „Gemeinschaften“ quasi überflüssig zu machen. Hierzu waren ein gemeinsames Parlament, ein Gerichtshof und ein Wirtschafts- und Sozialausschuss einzurichten.
Aufmerksame LeserInnen dürften sich jetzt am Kopf kratzen. Wurde ein europäischer Gerichtshof nicht bereits 1947 eingerichtet? Aber ja. Aber dabei handelt es sich um den Gerichtshof des Europäischen Rats, der 1946 gegründet worden war, mit dem Ziel, die Werte Europas zu verteidigen. Wir kennen diesen Gerichtshof als den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), während die neu gegründete Institution der Europäische Gerichtshof (EuGH) ist, der zuletzt mit dem „ultra vires“-Urteil zur EZB für Aufregung sorgte.
Verwirrt? Das ist noch nichts gegen das, was folgen wird. Daher noch einmal zur Klarstellung. Es existiert der Europäische Rat, eine lose Ansammlung europäischer Staaten zur Garantie der Menschenrechte. Dann existiert die Westeuropäische Union, ein ursprünglich gegen Deutschland, nun gegen die Sowjetunion gerichtetes Militärbündnis der westeuropäischen Staaten, dem auch Deutschland beitreten würde und das 2011 abgewickelt wurde. Die römischen Verträge gründeten die zudem die Europäischen Gemeinschaften (man beachte den Plural), in denen die EGKS, die EWG und die EURATOM sowie der EuGH und der gemeinsame Ausschuss sowie das zu gründende Parlament vertreten waren.
Kenner der Materie werden jetzt darauf verweisen, dass ein europäisches Parlament ja bereits seit 1952 existierte. Als „Gemeinsame Versammlung“ nahm es Kontrollfunktionen innerhalb der EGKS wahr, ohne aber allzuviele Merkmale eines Parlaments zu besitzen. Man orientierte sich dabei an der 1949 gegründeten Parlamentarischen Versammlung des Europarats. Die Gemeinsame Versammlung, deren Mitgliederzahl angesichts der Römischen Verträge vervielfacht wurde und die nun für alle Europäischen Gemeinschaften (Plural) zuständig war, gab sich den Namen „Europäisches Parlament“, was die Mitgliedsstaaten als Anmaßung empfanden und erst 1986 (!) offiziell anerkannten. Von Beginn an musste das EP sich also seine Mitwirkungsrechte hart erkämpfen und eigene Präzedenzfälle schaffen.
Wenn also jemand hofft, in eine frühere, unkompliziertere Zeit der Europäischen Gemeinschaft zurückgehen zu können, sollte diese Person spätestens jetzt enttäuscht sein. Oh, übrigens, im englischen und skandinavischen Sprachraum werden die Europäischen Gemeinschaften (Plural) als „common market“ bezeichnet, weil warum auch eine einheitliche Terminologie verwenden. Nur falls sich jemand fragt, was es damit auf sich hat.
Vive la France
1958 war jedoch nicht nur wegen der Selbsternennung der Gemeinsamen Versammlung in „Europäisches Parlament“ ein wichtiges Datum, sondern wegen der schweren Krise der Vierten Republik in Frankreich. Diese zerbrach 1958 an allerlei innen- und außenpolitischen Gründen (unter anderem die Entwicklungen in Vietnam und Algerien, aber sicherlich nicht nur), und die fünfte Republik wurde von und unter ihrem ersten Präsidenten Charles de Gaulles aus der Traufe gehoben.
Damit begann ein fundamentaler Kurswechsel in den Europäischen Gemeinschaften (Plural). Der eigentliche Auftrag, sich binnen kurzer Frist in eine Europäische Gemeinschaft (EG) zu verwandeln, war plötzlich hinfällig. Die Franzosen stellten sich quer. Es sollte daher bis 1993 (!) dauern, ehe die Europäischen Gemeinschaften offiziell zur Europäischen Gemeinschaft verschmolzen, was angesichts der Gründung der Europäischen Union 1995 eigentlich nur noch als Schildbürgerstreich gesehen werden kann. Glücklicherweise focht die französische Haltung weder PolitikerInnen noch JournalistInnen noch BürgerInnen an, die munter den Singular zu verwenden begannen. Wir werden es im Folgenden gleich halten und von der Europäischen Gemeinschaft (EG) reden, und nur in Ausnahmefällen die Einzel-Gemeinschaften benennen.
Noch 1957 konnte Frankreich in den Verhandlungen der Römischen Verträge einen Triumph feiern: Als Preis für die weitgehende Aufhebung von Zöllen und Kontingentbegrenzungen, die die aufstrebende Exportnation Deutschland begünstigen würden, handelte Frankreich die praktisch nur es bevorzugunde Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) aus. Diese gigantische Umverteilungsmaschine beschäftigt die EU mit wahnwitzigen Folgen bis heute.
Doch zu Beginn der 1960er Jahre begann eine scharfe Kehrtwende in Frankreich. Noch 1961 machte das Land Vorschläge zu einer Europäischen Politischen Union (EPU), die eine Wiederbelebung der 1952-1954 gescheiterten EVP sowie eine vertiefte Integration auf allen Ebenen mit sich gebracht hätte – quasi das politische Gegenstück zur EWG. Doch bevor die Deutschen es ablehnen konnten – und gerade Ludwig Erhard wehrte sich verbissen, während Adenauer etwas aufgeschlossener war – schob de Gaulle 1962 eine überarbeitete Version nach, die praktisch nichts mehr mit dem ersten Entwurf gemein hatte und mit einer Art Rückabwicklung der Gemeinschaften hausierte; gleichzeitig sollten bilaterale Abkommen gestärkt werden. Ein Artefakt dieser Zeit ist denn auch der 1963 geschlossene und eher irrelevant gebliebene Elysée-Vertrag.
Gleichzeitig stand zu dieser Zeit die bereits seit der Genese in den frühen 1950er Jahren geplante Erweiterung der EG in Richtung Großbritannien, Irland und Skandinavien an. Mit allen Kandidaten wurden Beitrittsgespräche geführt, der Beitritt schien 1963 nur noch eine Formsache zu sein. Da platzte Charles de Gaulle mit einem Veto Frankreichs die Party: Großbritannien durfte nach dem Willen Paris‘ nicht der EG beitreten. Ohne den Inselstaat allerdings wollten auch Dänemark und Irland nicht mitmachen, fürchteten sie doch, zwischen den mächtigen Interessen Deutschlands und Frankreichs zerrieben zu werden. Auch Norwegen hielt sich zurück.
Doch die größte Krise erlebte die junge EG zwischen 1965 und 1966 über die „Politik des leeren Stuhls“ über, wie sollte es anders sein, die gemeinsame Agrarpolitik. Diese war erst einige Jahre alt, aber die gewaltigen Kosten sorgten bereits für Verstimmungen. Deswegen sollte, beginnend 1966, ein geändertes System eingeführt werden. Zum einen würden die Außenzölle voll zur Finanzierung herangezogen werden, zum anderen aber das Europäische Parlament Mitbestimmungsrechte im EU-Haushalt (und damit der GAP) erhalten und, das war entscheidend, die Konsensfindung im Ministerrat vom Einstimmigkeitsprinzip auf eine Zwei-Drittel-Mehrheit umgestellt. Da Frankreich aber nicht über ein Drittel der Stimmen verfügte, würde es Beschlüsse der anderen fünf Länder nicht wie bisher blockieren können. De Gaulle zog daher die französischen Vertreter aus den EG-Institutionen ab, die immer noch nach dem Einstimmigkeitsprinzip funktionierten. Damit war die EG de facto gelähmt und handlungsunfähig.
Die Krise wurde zwar 1966 im Luxemburger Kompromiss beigelegt. Jedoch setzte dieser einen folgenschweren Präzedenzfall. Zwar wurde die Mehrheit für Beschlüsse nicht angetastet und die EG entsprechend reformiert. Aber gleichzeitig wurde ein Beschluss hinzugefügt, dass in Kernfragen nationalen Interesses ein Staat „nicht ohne Weiteres“ überstimmt werden dürfe und mit dem Ziel der Einstimmigkeit weiter verhandelt werden müsse. Diese Entscheidungsstruktur würde die EG und später EU, gerade aufgrund der wachsenden Mitgliederzahl, immer wieder lähmen und bestimmte auch alle weiteren Vertragsreformen, wie wir noch sehen werden.
Der Luxemburger Kompromiss änderte gleichwohl wenig an de Gaulles ablehnender Haltung zu Großbritanniens Beitritt; auch ein weiteres Eintrittsgesuch des Inselstaats wurde 1968 mit einem Veto verhindert. Erst de Gaulles Rücktritt 1968 – zufälligerweise auch das Jahr der Vollendung des Binnenmarktes und der Europäischen Gemeinschaften – machte den Weg in diese Richtung frei.
Zwar waren auf dem Weg dorthin noch diverse Hindernisse auszuräumen. So mussten die Tories in Großbritannien den Widerstand Labours (!) zum Eintritt überwinden; auch in Dänemark und Norwegen gab es erbitterte innenpolitische Streitigkeiten über die Frage des Beitritts. Norwegen griff zum Instrument des Referendums, um den Konflikt aufzulösen; wie in einem weiteren Anlauf 1994 beschied eine knappe Mehrheit der Norweger aber abschlägig. Bis heute ist das Land daher nicht Mitglied. Dänemark, Großbritannien und Irland traten daher in einer ersten Erweiterungsrunde 1973 der EG bei, die damit neun Mitglieder hatte – und mit Irland auch zum ersten Mal ein Land, das nach den Standards der anderen Mitglieder als deutlich unterentwickelt gelten musste.
Die Aufgabe der Blockadehaltung seitens Frankreich und die Erweiterung der EU in Richtung Norden waren jedoch kaum angetan, in der EG großen Reformergeist zu wecken und die Integration weiter voranzutreiben. Der Anbruch der 1970er Jahre war mit einer Dauerkrise verknüpft, die ich die „Große Krise des Westens“ nenne. Nie schien das Modell des Ostblocks so attraktiv und als Alternative wie in den 1970er Jahren, nie zweifelten die westlichen Länder so sehr an der Überlegenheit ihres Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells. Es kommt nicht von ungefähr, dass Reagan, Thatcher und Kohl um 1980 alle mit dem Versprechen auf eine geistig-moralische Wende der ein oder anderen Art reüssierten. Auch die EG konnte von dieser Krise nicht unbeeinträchtigt bleiben.
Die große Krise des Westens
Das erste dieser Krisenphänomene wurde bereits Ende der 1960er sichtbar. Die USA, deren Währung, der Dollar, als Leitwährung der Welt fungierte, gerieten unter anderem wegen der gigantischen Ausgaben für den Vietnamkrieg in schwierige finanzielle Fahrwasser. Den europäischen Staaten war aber klar, dass sie für eine Welt der frei schwankenden Währungen zu schwach waren. Auf britische Initiative (!) hin begannen deswegen ab 1969 Überlegungen zu einer europäischen „Wirtschafts- und Währungsunion“ (WWU), die Europa unabhängiger von der Politik der amerikanischen Notenbank machen sollten.
Dieser ersten WWU allerdings war keine lange Lebensdauer beschieden. Es klingt vertraut, aber den europäischen Staaten fehlte eine Koordination ihrer Wirtschafts- und Währungspolitik. Zu disparat waren die verschiedenen nationalen Ansätze, zu schwierig die nationalen Egoismen zu überkommen. Als 1973 der Jom-Kippur-Krieg ausbrach und die OPEC-Staaten mit ihrem Ölembargo gegen den Westen einen riesigen inflationären Druck aufbauten (der gleichzeitig zu dem erwähnten wirtschaftlichen Aufschwung der Sowjetunion beitrug, die plötzlich mehr Devisen für Ölexporte einnehmen konnte), brach das System wieder in sich zusammen. Gleichzeitig beerdigten die USA offiziell das System von Bretton Woods.
In allen EG-Staaten stieg erstmals die Arbeitslosigkeit. Der Westen war in einem neuartigen Phänomen gefangen, das damals zwar beschrieben, aber nicht verstanden wurde: Stagflation, das gleichzeitige Zusammenfallen von Inflation und wirtschaftlicher Stagnation. Nach der herrschenden Lehre war dies eigentlich unmöglich. Auch hier ergibt sich eine spannende Parallele zu heute, wo in allen westlichen Staaten zwar eine ungeheuer expansive Geldpolitik gefahren wird, diese aber von realwirtschaftlichen Effekten praktisch losgekoppelt ist – ohne dass klar wäre, warum oder wie lange der Zustand anhalten wird.
Anstatt sich auf eine Neuauflage der WWU zu konzentrieren, kochten alle EG-Staaten erst einmal ihr eigenes Süppchen. Das funktionierte in etwa so gut, wie die Befürworter der WWU sich das vorgestellt hatten, will heißen: gar nicht. Aber die Energien der EG wurden in dieser Zeit völlig durch zahlreiche kleine und kleinste Streits in Anspruch genommen, die – wegen der von Frankreich 1966 durchgesetzten weiteren Gültigkeit des Einstimmigkeitsprinzips – nur durch teure Ausgleiche zu leisten war. Der Ruf der EU, ihre Probleme durch „faule Kompromisse“ und massive Subventionen in einer aufgeblähten Bürokratie zu lösen, stammt aus dieser Ära. Die EG konnte es sich allerdings auch leisten; mit Ausnahme Irlands waren alle Mitgliedsstaaten leicht in der Lage, zusätzliche Ausgaben für den europäischen Hausfrieden zu stemmen und gleichzeitig ein ärmeres Mitglied zu alimentieren. Dies sollte spätestens ab 2004 nicht mehr möglich sein.
Gleichzeitig trat die GAP immer mehr in den Vordergrund. Bis zu 90% des EG-Haushalts wurden in den 1970er Jahren durch die immer weiter steigenden Kosten der Agrarsubventionen verschlungen. Gleichzeitig wurde sie angesichts des zunehmenden Welthandels und der Unabhängigkeit praktisch aller europäischen Kolonien immer weniger rechtfertigbar, ein Problem, das bis heute allerdings nicht zu ihrer Abschaffung geführt hat. Fairerweise muss man wohl anmerken, dass die oben beschriebene Selbstblockade der EG auch dazu führte, dass die meisten europäischen Initiativen und Fördermaßnahmen außerhalb der EG abliefen, so dass die 90% relativ zwar hoch, absolut aber im Vergleich zum heutigen europäischen Haushalt bei weitem nicht so ausufernd sind. Gleichwohl konnte man sich in den 1970er Jahren des Eindrucks kaum erwehren, die EG sei hauptsächlich zur Subventionierung eines eigentlich nicht wettbewerbsfähigen Primärsektors da.
Wiederbelebung des deutsch-französischen Motors
Gegen Ende der 1970er Jahre erlaubte allerdings ein erneuter Regierungswechsel in Frankreich eine Wiederbelebung des deutsch-französischen Motors des europäischen Einigungsprozesses. Es ist an dieser Stelle vielleicht generell angebracht, die generelle Bedeutung zweier Phänomene hervorzuheben.
Das wäre auf der einen Seite die Innenpolitik der Mitgliedsstaaten. Wenn in einem EG-Staat innenpolitisch die Opposition gegen die EG gewinnbringend ist, wird die jeweilige Politik das üblicherweise für sich nutzen. Und sie ist praktisch immer gewinnbringend. Das führte unter anderem zu der bis heute üblichen unseligen Sitte, Entscheidungen an die EG/EU zu delegieren, für die man selbst die Verantwortung nicht übernehmen will. Man denke nur an das Glühbirnenverbot.
Auf der anderen Seite ist aber auch wahnsinnig wichtig, wer in den entscheidenden Mitgliedstaaten gerade an der Regierung ist. Wenn das jeweilige Regierungspersonal gegenüber der europäischen Integration aufgeschlossen ist, sind wesentliche Schritte möglich. Wenn nicht, kommt die EU praktisch nicht voran. Und hier gibt es, anders als beim Problem der auf die EG durchschlagenden Innenpolitik, eine klare Hierarchie innerhalb Europas. Denn nur die großen Staaten spielen hier eine Rolle. Wenn Slowenien an weiteren Integrationsschritten integriert ist und für diese wirbt, ist das bedeutungslos. Wenn Frankreich es tut, zwingt es die anderen zur Positionierung. Deswegen sind etwa die Merkel-Jahre in dieser Hinsicht auch so verlorene Jahre.
Gleichzeitig ist es aber notwendig, dass solche Regierungen auf befreundete Regierungen in den anderen mächtigen Mitgliedstaaten stoßen. Wie wir aktuell sehen können, ist ein reformfreudiger, die Integration vorantreibender Macron machtlos, wenn eine blockierende Merkel sein Gegenüber ist. Nur wenn in den relevanten Staaten integrationswillige PolitikerInnen gleichzeitig an der Macht UND willens zur Zusammenarbeit sind, wird etwas passieren.
Ende der 1970er aber ergab sich genau diese Konstellation. In Deutschland regierte Helmut Schmidt, während in Frankreich ein Konservativer namens Giscard d’Estaing an die Macht kam. Man sollte nicht annehmen, dass diese unterschiedlichen Charaktere – hier ein Sozialdemokrat, dort ein verkappter Aristokrat – sonderlich gut zusammenarbeiten würden, aber genau das war der Fall. Die Konstellation sollte sich durch einen historischen Glücksmoment in der überraschenden Freundschaft zwischen dem bräsigen Konservativen Kohl und dem sozialistischen Lebemann Mitterand wiederholen. Parteiüberlappungen jedenfalls scheinen wenig Aussage dafür zu haben, ob zwei Länder miteinander klar kommen. Schröder verstand sich super mit dem Erzkonservativen Chirac, während weder Merkel etwas mit ihrem Parteifreund Sarkozy noch die mitregierende SPD später etwas mit ihrem ostentativen Verbündeten Hollande anfangen konnte.
Doch Schmidts und d’Estaings gutes Verhältnis erlaubte 1979, gerade rechtzeitig zur zweiten Ölkrise, einen zweiten Anlauf für die WWU. Angesichts des Scheiterns der WWU sechs Jahre zuvor backte man dieses Mal kleinere Brötchen. Die EG-Staaten vereinbarten das Europäische Währungssystem (EWS), das bestimmte Wechselkurse festlegte, anhand derer eine Art „Band“ definiert wurde, innerhalb dessen sie schwanken durften. Dieses Band wurde mit +/- 2,5% angesetzt. Verlor also etwa der Franc um mehr als 2,5% gegenüber der Mark, würde die Bundesbank Franc kaufen; gewänne die Mark gegenüber dem Franc um mehr als 2,5%, verkaufte die französische Notenbank Mark – um das System stark vereinfacht darzustellen.
Gleichzeitig wurde auch eine gemeinsame Verrechnungseinheit eingeführt, die European Currency Unit (ECU). Für sie gab es kein Bargeld, und praktisch niemand bezahlte seine Rechnung in ECU, aber die Verrechnungswährung bewährte sich und gab der Finanzbranche wie den Notenbanken wertvolle Erfahrung mit einer gemeinsamen Währung, die später in das Euro-Projekt einfließen sollten und dieses auch nachhaltig prägten – vor allem was den starken Fokus auf der Stabilität der Währung anbelangte.
Demokratisierung, die erste
Doch nicht nur auf der Ebene der Gipfeldemokratie bewegte sich Ende der 1970er Jahre etwas in der EG. Im Jahr 1979 fand neben der Einführung des EWS auch die erste Direktwahl des Europäischen Parlaments statt. Die Mitglieder der Institution waren bislang von den Landesparlamenten gewählt und entsandt worden, in einem Prozess, der der Wahl der Bundesversammlung in Deutschland nicht unähnlich ist und auch entsprechend wichtig gesehen wurde – will heißen, rein symbolisch. Dieses unbestreitbare Defizit an demokratischer Legitimation sollte durch eine Direktwahl des Parlaments ausgeräumt werden.
Man hoffte dadurch auch, ein bisschen mehr Europa-Gefühl in der Bevölkerung verankern zu können. Denn die Abgeordneten im Europäischen Parlament sitzen nicht nach Ländern, sondern allein nach Fraktionen getrennt. Der Schönheitsfehler der Operation ist der Mangel an einem europäischen Wahlrecht; innerhalb der Mitgliedsstaaten wählt jedes Land selbst, so dass die gewählten Abgeordneten erst nach der Wahl mit ihren europäischen Mutterparteien verschmelzen und selbige in der öffentlichen Wahrnehmung praktisch keine Rolle spielen, ein Konstruktionsfehler, der bis heute Bestand hat und zu den dringlicheren Reformaufgaben der europäischen Demokratie gehört.
Doch diese Öffnung der EG gegenüber ihren eigenen Bürgern war bei weitem nicht die einzige Demokratisierungsbewegung jener Epoche. In Griechenland, Spanien und Portugal fielen in den 1970er Jahren die faschistischen Diktaturen, die diese Länder bis dato regiert hatten – weitgehend friedlich und ohne, wie viele befürchtet hatten, den Verlockungen des Sozialismus östlicher Prägung anheim zu fallen.
Gleichwohl war den EG-Staaten sehr wohl bewusst, wie Jahrzehnte der Unterdrückung und Unterentwicklung diese Staaten gegenüber dem Rest Europas hatten zurückfallen lassen. Spanien etwa war schon während des Bürgerkriegs in den 1930er Jahren relativ zu Deutschland oder Frankreich unterentwickelt gewesen; beim Tod Francos 1975 betrug sein Pro-Kopf-Einkommen gerade ein starkes Drittel im Vergleich zu Deutschland. Ähnlich sah die Lage in Griechenland aus; in Portugal war sie fast noch trostloser, und das Land musste zudem eine gewaltige Flüchtlingswelle aus seinen in den 1970er Jahren unabhängig werdenden Kolonien absorbieren, hatte es doch in den Jahrzehnten zuvor eine aktive Siedlungspolitik betrieben. Diese Siedler waren nun in Afrika unerwünscht, aber noch nie in Portugal gewesen und bitterarm.
Die Situation war also, um es milde auszudrücken, volatil. Griechenland stellte als erstes dieser frisch demokratisierten Länder 1975 einen Aufnahmeantrag und die EG damit vor eine Grundsatzfrage. War man vor allem eine Wirtschaftsgemeinschaft? In dem Fall war die Aufnahme Griechenlands und, perspektivisch, auch die Spaniens und Portugals zum gegenwärtigen Zeitpunkt sinnlos. Alle drei Länder würden sofort zu Empfängern sämtlicher Strukturleistungen, würden wegen ihrer landwirtschaftlichen Struktur erklecklichen Anteil an der GAP haben, auf spezifischen Feldern Konkurrenz machen (etwa die spanische Fischerei) und wegen der Freizügigkeit unliebsame Billigkonkurrenz darstellen.
Vor allem die Frage der Förderung war toxisch. Es war praktisch ausgeschlossen, dass Frankreich den bisher praktisch ihm allein zufallenden Kuchen der GAP plötzlich teilen würde. Gleiches galt für unterentwickelte Regionen innerhalb der neun damals aktuellen EG-Staaten. Würden also die drei südeuropäischen Länder beitreten, würden diese Hilfen zwangsläufig deutlich ausgeweitet werden müssen, damit die bisherigen Empfänger ihr Plazet gaben. Und das war angesichts des Einstimmigkeitsprinzips zwingend notwendig.
Auf der anderen Seite war sehr fraglich, ob die Märkte und Wirtschaften dieser Staaten dem Konkurrenzdruck gewachsen sein könnten und überhaupt je eine Entwicklung stattfinden könnte. Für Deutschland mochte die Aussicht, auf Jahrzehnte Maschinen gegen Oliven einzutauschen durchaus attraktiv sein; der Außenhandelsbilanz konnte es nur helfen. Doch die betroffenen Staaten konnten kaum ein Interesse daran haben, künftig durch die EG in ihren Status betoniert zu werden. Es waren solche Überlegungen und Konflikte, die die Beitrittsverhandlungen langwierig machten – auch wenn dieses Mal kein französisches Veto drohte.
Der Beitritt Griechenlands 1982 zeigte denn auch gleich, wie berechtigt die Sorgen gewesen waren. Das Land nutzt seinen neuen Mitgliedsstatus sofort, um die Aufnahme Spaniens und Portugals zu blockieren, bis die EG diverse Sondervergünstigungen zu gewähren bereit war. Von der anderen Seite des Leistungsspektrums nahm Großbritannien 1984 unter Thatcher, die mit dem berühmt-berüchtigten Aussprach „I want my money back!“ einen 40%-igen Rabatt aushandelte, an diesem widerlichen Spiel teil. Unter Führung Deutschlands und Frankreichs bissen die anderen Mitgliedstaaten seinerzeit in den sauren Apfel und teilten die Kosten dieser Rabatte zähneknirschend im Interesse des Großen Ganzen unter sich auf. Dass dies kein dauerhaftes Rezept für die Zukunft sein dürfte, war offensichtlich.
Bis 1986 war man dann jedoch so weit, dass auch Spanien und Portugal Aufnahme fanden und die EG auf 12 Mitglieder erweiterten. Den Ausschlag hatte letztlich gegeben, dass die Frage, ob die EG ein reines Wirtschaftsbündnis sei, emphatisch mit „nein“ beantwortet wurde – wie bereits zu allen früheren Gelegenheiten, zu denen diese Frage gestellt worden war. Dies sei noch einmal betont.
Die drei südeuropäischen Staaten wurden weder als Absatzmärkte noch als leistungsstarke Partner aufgenommen. Stattdessen überwogen politische Argumente. Alle drei waren bis vor kurzem rechtsgerichtete Diktaturen gewesen. Ihre neuen demokratischen Regime waren frisch und unerprobt, die Kräfte der Reaktion warteten nur darauf, ihre Chance wieder zu bekommen – genauso wie die kommunistischen Parteien der jeweiligen Länder, die dort alle noch Erinnerungen an ihre frühere Stärke hatten, ehe sie von den Faschisten blutig unterdrückt worden waren – mit Unterstützung einiger der jetzigen EG-Staaten (Deutschland, Italien), fallen gelassen von einigen anderen (Großbritannien, Frankreich), dagegen unterstützt von der Sowjetunion.
Das Gespenst einer Mitgliedschaft Spaniens im Warschauer Pakt war zwar nicht sonderlich real, aber für die beteiligten PolitikerInnen trotzdem ein Albtraum – und sozialistische, blockfreie Diktaturen nach dem Vorbild Jugoslawiens waren nicht eben dazu angetan, die Integrität sowohl Europas als auch der NATO zu verbessern. Es waren diese (durchaus realen) Befürchtungen, die den Ausschlag zur Aufnahme der Südeuropäer in die EG gaben. Ähnliche Motive sollten später bei der laxen Betrachtung der Aufnahmekriterien für den Euro erneut eine Rolle spielen.
Ab Mitte der 1980er Jahre nahm die Reformdebatte innerhalb der EG wieder an Fahrt auf. Maßgeblich war einmal mehr Frankreich, dieses Mal in Form des Kommissionspräsidenten Jacques Delors. Er entwarf 1985 Vorschläge für eine tiefgreifende Reform der EG mit der expliziten Zielsetzung der Vollendung des Binnenmarkts. Dieser war seit 1957 das Fernziel der EWG gewesen, genauso wie die Überführung der Europäischen Gemeinschaften (Plural) in eine Europäische Gemeinschaft (Singular). Aber Delors ging noch weiter als nur den Binnenmarkt vervollständigen zu wollen. Der Prozess, den er in Gang setzte, sollte innerhalb nur eines Jahrzehnts nicht nur die Europäische Gemeinschaft schaffen, sondern sie auch gleich durch etwas viel Größeres ersetzen – eine Europäische Union.
Pacta sunt servanda
Der Ansatz, den Delors und bald auch die die Vorschläge mittragenden und ausbauenden Deutschen wählten, war ein Geflecht völkerrechtlicher Verträge, die die verschiedenen Zielsetzungen miteinander zusammenschnüren sollten. Dieses Vertragsbündel erhielt den Namen Einheitliche Europäische Akte (EEA) und wurde 1987 final verabschiedet (nachdem Dänemark ein Referendum darüber abgehalten hatte).
Die EEA erforderte einerseits das Erreichen des europäischen Binnenmarkts bis 1992. Hierzu mussten sämtliche bestehenden Hindernisse für den freien Verkehr von Waren abgebaut, Standards vereinheitlicht und viele andere Details harmonisiert werden. Es ist etwas, das die Kernkompetenz der EU darstellt und worin sie seither wieder und wieder brillierte: Aus einer zweistelligen Zahl hoch komplexer einzelstaatlicher Regulierungen ein insgesamt kohärentes Ganzes zu machen, das den Akteuren auf dem freien Markt maximale Rechtssicherheit bietet.
Die gemeinsamen Standards vergrößern den potenziellen Markt für einen Hersteller deutlich. Man sieht dies nirgendwo so gut wie am Beispiel des gescheiterten Freihandelsabkommens mit den USA: Eine große Hoffnung vieler Unternehmen beiderseits des Atlantiks war die Vereinheitlichung der Standards. So können etwa in Europa hergestellte Autos nicht in den USA verkauft werden, weil einige unbedeutende Spezifikationen nicht den dortigen Regularien genügen (und umgekehrt), was die Hersteller zu einer Produktion für den lokalen Markt zwingt. Das sind Friktionskosten, die jedes Unternehmen gerne vermeiden würde. Und das Vermeiden dieser Kosten ist bis heute einer der größten Anreize für den Beitritt zur EU, oder der Assoziierung mit ihr.
Aber die EEA schuf noch weit mehr als nur den gemeinsamen Markt, wenngleich der für viele Teilnehmer (man denke nur an Großbritannien und seine obsessive Konzentration auf den „common market„) der ausschlagende Grund. Wesentlich folgenreicher sollte die Verpflichtung auf die so genannten Konvergenzkriterien sein. In der EEA wurden sie nur als Zielsetzung ausgegeben, aber bereits im Vertrag von Maastricht in Zahlen gegossen. Wir werden an dieser Stelle zu ihnen zurückkommen.
Die EG verstand sich aber einmal mehr – dies sollte sich mittlerweile klar als Leitmotiv herausgestellt haben – nicht nur als wirtschaftliche Verbindung. Die EEA gab ihr explizite neue Aufgabenfelder. So sollte die EU künftig eine eigene, europäische Forschungs-, Technologie-, Umwelt- und Sozialpolitik betreiben. In diesem Kontext ist auch der französische Vorstoß zur Ausweitung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) zu verstehen. Delors war klar, dass die Konvergenzkriterien nur dann sinnvoll implementierbar waren, wenn eine Angleichung des gesamten europäischen Wirtschaftsraums erfolgte. Auch in Deutschland wurde diese Einsicht damals noch geteilt, anders als in den 2000er und 2010er Jahren.
Die EEA sah vor, auch die gemeinsame Außenpolitik zu vereinheitlichen – ein Problem, mit dem die EU bis heute kämpft. Gleichzeitig zeigte sich die EG unfähig, den in Jugoslawien 1991 ausbrechenden Bürgerkrieg einzuhegen oder eine konstruktive Rolle zu spielen – mit großen destabilisierenden Folgen für die Region. Auch dem Zusammenbruch des Ostblocks stand die EG weitgehend ohne gemeinsame Position gegenüber.
Zuletzt machte sich die EG in der EEA an eine Reform ihrer eigenen Institutionen. So wurden etwa die Rechte des Parlaments einmal mehr gestärkt, das Abstimmungsverfahren im Rat wurde geändert und vieles mehr. Diese Reformen sollten sich als essenziell erweisen, als der Zusammenbruch des Ostblocks ab 1990 neue Beitrittsperspektiven eröffnete und das Einstimmigkeitsprinzip sich endgültig nicht mehr aufrechterhalten ließ.
Maastricht
Quasi direkt im Anschluss an die EEA begannen die Arbeiten daran, ihre Zielsetzungen umzusetzen. Konkret mussten Regelungen für die Konvergenzkriterien gefunden, die politische Zusammenarbeit verbessert und endlich eine Union gegründet werden – Ziele, die die EEA direkt und verbindlich vorgegeben hatte. Aus außenpolitischen Gründen, auf die im nächsten Abschnitt noch genauer eingegangen werden wird, hatten alle Beteiligten ein äußerstes Interesse daran, diese Ziele so schnell wie möglich zu erreichen. Uns soll an dieser Stelle interessieren, welche Ergebnisse die Verhandlungen brachten.
Gleich der erste Artikel des Vertrags von Maastricht zeigt, was die Kernbedeutung des Vertragswerks war: Die Gründung der Europäischen Union. Diese wurde als eine Art Dachgesellschaft den bisherigen Europäischen Gemeinschaften übergestülpt und war keine eigene Rechtsperson. Weiterhin lagen alle Rechte bei den einzelnen Gemeinschaften; der EWG, EGKS, EURATOM und so weiter. In einer Entwicklung, die den geneigten LeserInnen mittlerweile sicherlich bekannt vorkommt, enthielt der Vertrag von Maastricht einen Handlungsauftrag an zukünftige Verhandlungen: Die Union durch einen Verfassungsvertrag endgültig als supranationalen Staatenbund zu etablieren. Gleichzeitig wurde eine Reihe bereits damals offensichtlich notwendiger institutioneller Reformen auf spätere Verhandlungsrunden verschoben.
Aber: Die Union existierte. Und sie existierte als weit mehr als nur ein Wirtschaftsbündnis. Es tut mir Leid, dass ich auf diesem Punkt so sehr herumreite, aber da Kritiker von links wie rechts diesen Punkt so oft bemühen, scheint es wichtig zu sein, darauf hinzuweisen. Der Vertrag von Maastricht formulierte erstmals die Institutionalisierung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP, nicht zu verwechseln mit der Gemeinsamen Agrarpolitik GAP). Bis heute ist der Versuch Brüssels, eine Antwort auf Kissingers berühmte Frage „Welche Telefonnummer hat Europa?“ zu geben, ein Stiefkind der Union geblieben. Zwar gibt es mittlerweile sogar so etwas wie ein europäisches Außenministerium. Einen Anruf Kissingers sollte man dort allerdings trotzdem nicht erwarten.
Wesentlich substanzieller ist die dritte Säule Maastrichts (neben der EG und der politischen Zusammenarbeit): die Zusammenarbeit auf Ebene der Polizei und Sicherheitsbehörden. Dem einen oder anderen Temposünder dürfte bereits unangenehm aufgefallen sein, dass ein Knöllchen aus Frankreich auch in Deutschland vollstreckt wird. Generell ist die EU zwar noch kein einheitlicher Rechtsraum. Ein einheitlicher Vollstreckungsraum dagegen ist sie sehr wohl – zumindest noch. Denn dass das Bundesverfassungsgericht aktuell eine Auslieferung nach Ungarn unter allen Umständen genehmigen würde, darf als eher zweifelhaft gelten.
Man sollte das aber nicht zu negativ auffassen. Die Unionsgründung schuf auch die Unionsstaatsbürgerschaft, die mithin segensreichste Einrichtung der EU überhaupt, mit all den damit einhergehenden Rechten. Das europäische Parlament bekam einmal mehr eine Statuserhöhung und wurde offiziell mit dem Ministerrat gleichgestellt, wenngleich es nach wie vor erschreckend wenig Kompetenzen besaß. Und zuletzt wurde mit dem Protokoll zur Sozialpolitik, das 1997 sogar von der neuen Labour-Regierung Tony Blairs ratifiziert wurde, der Weg zu einer Vereinheitlichung von arbeitsrechtlichen Normen und Schutzmaßnahmen gelegt, die wenigstens die krassesten Ungerechtigkeiten innerhalb der Union ausgleichen können – angesichts der zu erwartenden Erweiterungswelle keineswegs zu früh. Zuletzt erhielt die Union die Kompetenz, eigenständige Kulturförderung zu betreiben.
Am berühmt-berüchtigsten aber ist Maastricht wegen der vertraglichen Festlegung der Konvergenzkritieren. Der Vertrag von Maastricht gründete offiziell die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU). In drei Schritten sollten die Mitgliedstaaten eine gemeinsame Währung, den Euro, einführen (spätestens 1999 als Buchgeld, was dann auch geschah). Die Teilnahme an dieser Währung war an die Erfüllung der Konvergenzkriterien geknüpft, woraufhin (außer für Dänemark und Großbritannien) der Euro-Eintritt zwingend erfolgen MUSSTE. Nach dem Beitritt zur WWU mussten „nur“ noch die zwei permanenten Konvergenzkriterien erfüllt werden, die seither für so viel politische Konflikte sorgten: einerseits eine maximale jährliche Neuverschuldungsquote von 3% und andererseits eine maximale Gesamtschuldenquote von 60%. Es ist sicherlich nicht zu viel gesagt, dass diese Kriterien von sämtlichen Mitgliedstaaten eher als „grobe Richtlinien“ im Sinne Kapitän Barbossas ausgelegt wurden.
Mit dem Vertrag von Maastricht schuf die EU (zur Abwechslung) einen neuen Präzedenzfall. Zum ersten Mal galten innerhalb der Union Verträge nicht für alle Mitgliedsländer gleichermaßen. Es entstand ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“, das zwar seither nicht mehr in diesem Umfang benutzt wurde, aber seither in keiner EU-Reformdebatte fehlen darf. Diese Möglichkeit wurde in Maastricht auch explizit festgeschrieben.
Abgesehen von weiteren Volksentscheiden (einmal mehr in Dänemark) erwies sich ausgerechnet das Bundesverfassungsgericht als Hürde für die Annahme des Vertrags. In einem Grundsatzurteil, das als „Ja, aber“-Urteil bekannt wurde, erklärte das BVerfG die grundsätzliche Vereinbarkeit der europäischen Integration mit dem Grundgesetz – vorausgesetzt, die Demokratisierung der Union halte mit weiteren Integrationsschritten schritt, und vorausgesetzt, die Souveränität des Volkes bliebe ultimativ erhalten. Damit behielt sich das BVerfG eine Veto-Rolle für jeden folgenden Integrationsschritt vor – mit weitreichenden Folgen.
Die Öffnung des Ostens
Vermutlich wären die vielen Integrationsschritte dieser Zeit nicht ohne die außenpolitischen Umstände denkbar gewesen, die einen gewaltigen Handlungsdruck aufbauten. Der Fall des Eisernen Vorhangs 1989 und die sich anbahnende Wiedervereinigung zwangen die Akteure zu einem ersten Umdenken bezüglich der Rolle Deutschlands innerhalb der EG; der folgende Fall des Ostblocks machte eine komplette Neuorientierung der Frage, was eigentlich „Europa“ war, erforderlich. Bislang hatte für die EU das Adenauer’sche Diktum gegolten, nach dem hinter der Elbe Asien anfing. Nun fing Asien frühestens hinter dem Donezbecken an, und wenn man die entsprechenden Signale aus der neuen russischen Republik betrachtete, schien es sogar so, als ob die geographische Grenze des Urals auch die künftige Grenze Europas sein könnte.
Unmittelbar erlaubte der Zerfall der Sowjetunion und damit der Nachkriegsordnung die Bereinigung einiger historischer Anomalien. Finnland, Schweden und Österreich, die aufgrund verschiedener Nachkriegsabkommen bisher der EG nicht hatten beitreten können, wurden 1995 Vollmitglieder der Europäischen Union. Norwegen optierte in einem zweiten Referendum erneut dafür, nicht beizutreten. Wie aber im Fall der Schweiz war das Land durch diverse Abkommen ohnehin bereits stark in die EU-Strukturen eingebunden.
Zudem erlaubte der Fortgang des Einigungsprozesses, dass die fünf neuen Bundesländer umstandslos in die EG integriert wurden. Genauso wie bei ihrer Integration ins NATO-Bündnis gab es auch wenig andere sinnvolle Optionen. Deutschland war damit allerdings nun der mit Abstand größte Mitgliedsstaat der EG. Statt wie vorher ungefähr auf derselben Bevölkerungszahl wie Frankreich, Großbritannien und Italien zu stehen (zwischen 60 und 70 Millionen Einwohner) besaß es nun ein gutes Fünftel mehr – rund 82 Millionen.
Dies allerdings brachte die alte Machtfrage zwischen Frankreich und Großbritannien einerseits und Deutschland andererseits wieder aufs Tablett und weckte in den Siegerstaaten alte Ängste. Würde das wiedervereinigte Deutschland danach streben, die Vision von Mitteleuropa wieder zu beleben und sich als eigenständiger Machtfaktor zwischen Ost und West zu etablieren, wie es das bereits in Weimar unternommen hatte? Gleichzeitig war es offensichtlich nicht dauerhaft möglich, Deutschlands gewachsenes Gewicht zu ignorieren.
Diese Befürchtungen führten dazu, dass Frankreich und Großbritannien in den 2+4-Verhandlungen darauf beharrten, dass Deutschland seine Integration in die EG ungebremst fortsetze, ja sogar beschleunige. Die Wirtschafts- und Währungsunion und vor allem die schnelle Zustimmung Deutschlands entsprangen maßgeblich diesen politischen Überlegungen. Die deutsche Ökonomenzunft war, wenig überraschend, kein großer Freund der WWU und schreib seinerzeit einen offenen Brief mit düsteren Warnungen.
Kohl war jedoch verständiger Politiker genug um zu erkennen, dass wirtschaftliche Argumente gegenüber den politischen in dieser Situation klar die zweite Geige spielten. Die Wiedervereinigung hatte nur ein kurzes Zeitfenster, und dieses musste genutzt werden. Wenn der Preis dafür der Souveränitätsverlust über die Währung war, so sei es. Man sollte Kohls Verhandlungsgeschick hier ohnehin nicht kleinreden; die WWU war eine sehr deutsche Struktur. Letztlich wurde der Aufbau der Bundesbank den europäischen Partnern übergestülpt, für die er, wie sich mittlerweile erschöpfend gezeigt hat, nur eingeschränkt geeignet war. Aber die Zwänge des Augenblicks und die Notwendigkeit zum Kompromiss ließen kaum eine andere Wahl.
Erweiterung oder Abschottung?
Die größte Herausforderung für die EU lag ohnehin in Osteuropa. Polen, die neuerdings wieder unabhängigen Baltenstaaten, Tschechien und die Slowakei, Ungarn, Slowenien, Rumänien und Bulgarien – sie alle waren nun mehr oder weniger stabile Demokratien geworden, hatten eine Wirtschaft, gegenüber der die der DDR geradezu paradiesisch wirkte und blickten entschieden nach Westen. Weißrussland und die Ukraine standen als künftige Aspiranten ebenso vor der Tür wie Georgien, und Russland unter Jelzin orientierte sich ebenfalls deutlich in Richtung Washingtoner Konsens. Gleichzeitig wurde Jugoslawien von einem stetig eskalierenden Bürgerkrieg zerrissen und hunderttausende von Flüchtlingen strömten in die EG-Länder, vor allem nach Deutschland. Die Lage war, um es milde auszudrücken, volatil.
Die neuen Demokratien Osteuropas hatten eine klare Präferenz, wie sie sich ihre künftige Rolle vorstellten: Sie wollten Mitglieder sowohl der EU als auch der NATO werden. Gegen beide Bestrebungen gab es heftige Widerstände. Schnell überwanden waren die gegen die NATO-Mitgliedschaft. Bis 1997 war in einem Vertrag mit Russland die Grundlage dafür gelegt worden, dass die osteuropäischen Staaten NATO-Mitglieder werden können (ein Fakt, das Russland heute genauso gerne vergisst wie die deutsche Linke). Derselbe Vertrag regelte zudem dauerhafte Rüstungskontrollen und Konsultationen, deren Ende wir gerade unter den wechselseitigen Attacken Trumps und Putins begutachten dürfen. Durch diese Entwicklungen wurde die Westeuropäische Union endgültig zur Makulatur.
Die Mitgliedschaft in der EU dagegen war wesentlich umstrittener. Bis Mitte der 1990er Jahre hatten die relevanten Nachbarstaaten Assoziierungsabkommen mit der EU abgeschlossen. Viele EU-Mitgliedsstaaten waren allerdings bestenfalls lauwarme Unterstützer einer solchen Erweiterung. Der Grund dafür lag gerade in dem Erfolg der vorherigen Reformbestrebungen. Die Vollendung des europäischen Binnenmarkts erlaubte zwar eine freie Bewegung von Waren, was generell der Exportwirtschaft der EU zugute kommen würde, die erwarten konnte, eher wenig Waren aus osteuropäischer Fertigung zu importieren.
Die gleichzeitige Freizügigkeit von Arbeit und Kapital aber bedrohte die Volkswirtschaften und politische Stabilität auch der alten EU. Es stand schließlich zu erwarten, dass billige osteuropäische Konkurrenz in diese Länder abwandern und dort vor allem das Handwerk und den gerinqualifizierten Dienstleistungssektor unter starken Druck setzen würde. Gleichzeitig war anzunehmen, dass viele Firmen Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe in die Niedriglohnländer Osteuropas verlagern würden, wenn durch die Integration dieser Länder in den gemeinsamen Wirtschaftsraum alle Barrieren fielen.
Letztlich gaben aber auch hier politische und nicht wirtschaftliche Überlegungen den Ausschlag. Nicht nur war in den 1990er Jahren die neoliberale Ära in vollem Schwung und propagierte die völlige Entfesslung des Konkurrenzdrucks der Märkte, so dass das politische Klima sich ohnehin rapide freundlicher gegenüber diesen Problemen entwickelte. Wesentlich schwerwiegender war das Argument der Stabilisierung und Absicherung Osteuropas.
Ähnlich wie bei der Südeuropa-Erweiterung der 1980er Jahre bestand die Befürchtung, dass die Demokratien Osteuropas sich alleine nicht als stabil erweisen würden. Die Probleme der Wiedervereinigung alleine hatten ausreichend gezeigt, in welchem Zustand 40 Jahre kommunistischer Diktatur die Volkswirtschaften gelassen hatten, und die DDR war ja noch das Aushängeschild des Ostblocks gewesen waren. Erneut galt es also, eine größere Bewegung ökonomischer Migration zu verhindern.
Mindestens ebenso wichtig aber war, ein Zurückrutschen dieser Länder in diktatorische Regierungen zu verhindern. Wie die weitere Entwicklung der Ukraine und Weißrusslands ausreichend belegen sollte, waren Diktatur und oligarchische Ausplünderung keineswegs wirre Fieberträume. Einen ganzen Gürtel von failed states an Europas Ostflanke wollte aber niemand. So wurde gegen Ende der 1990er Jahre mit Nachdruck auf die Aufnahme Osteuropas in die EU hingearbeitet. Dabei wurden auch die Konvergenzkriterien einer ersten Belastungsprobe unterzogen, unter anderem, weil Deutschland sich in jenen Jahren zum ökonomischen Problemkind der EU zu entwickeln begann.
Mit nunmehr 25 Mitgliedsstaaten war die Vorstellung, weiterhin nach dem alten Konsensprinzip operieren zu können, völlig illusorisch geworden. Auch die Regelung, dass jedes Land in der Kommission zwei Kommissare stellte, war angesichts eines Exekutivorgans mit 50 Beauftragten wahnwitzig. Auch war dem gestiegenen Gewicht Deutschlands seit der Wiedervereinigung nicht Rechnung getragen worden. Die Politische Einheit blieb weiterhin frommer Wunsch, vor allem auf dem Gebiet einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Entsprechend fanden sich die EU-Staaten neben der parallelen Herausforderung der Osterweiterung auch in einer weiteren Runde von Reformgesprächen.
Vive la France, zweiter Anlauf
Diese kulminierten im Jahr 2000 in dem Vertrag von Nizza. Praktisch von seiner Unterzeichnung an galt das Vertragswerk als Fehlschluss, war ungeliebtes Kind und machte eine sofortige weitere Verhandlungsrunde erforderlich. Zwar schaffte Nizza es, das Einstimmigkeitsprinzip mit wenigen Ausnahmen (vor allem Außenpolitik) zu beseitigen. Aber die gewählten Gewichtungen waren willkürlich und stellten niemand zufrieden, weswegen das Prinzip der doppelten Mehrheit ersonnen und in den Verfassungsvertrag übernommen wurde.
Die Europäische Verfassung war der logische Endpunkt der Entwicklung. Die Europäischen Gemeinschaften (Plural) und die anderen Säulen der EU waren immer noch formal souverän gegenüber der „Dachgesellschaft“ der Europäischen Union. Diese musste eine eigene juristische Person werden, was dann auch gleichzeitig die zersplitterten Gemeinschaften darunter ablösen würde. Da die Union eine Staatsbürgerschaft, einen Haushalt und ein Parlament besaß und den Anspruch formuliert hatte, eine „immer engere Union“ (ever closer union) zu werden, war ein Verfassungsvertrag nur logisch.
Dieser Vertrag wurde 2005 von den Mitgliedsstaaten ausgehandelt. In vielen Staaten wurde er auch ratifiziert, doch für die betroffenen Regierungen überraschend heizte sich in Frankreich und den Niederlanden, wo zu seiner Annahme (anders als etwa in Deutschland) eine Volksabstimmung notwendig war, eine stark polarisierte Grundstimmung an. In einer Vorwegnahme zum Brexit-Votum von 2016 hatte der überparteiliche Konsens zur Annahme des Vertrags eine bestenfalls lauwarme Werbekampagne für die Verfassung gestartet, während eine hochmotivierte Querfront aus Gegnern das Werk knapp zu Fall bringen konnte.
Für das europäische Projekt war die Ablehnung des Verfassungsvertrags ein schwerer Schlag. Die Hoffnung, die europäische Integration auf eine neue Stufe heben zu können, hatte sich vorerst zerschlagen. Gleichzeitig waren die institutionellen Reformen dringender denn je, denn die strukturelle Unmöglichkeit der Entscheidungsfindung und das weitere parallele Bestehen verschiedener Institutionen machten die Reformen des Verfassungsvertrags unerlässlich. Wir werden die konkreten Ergebnisse Lissabons später begutachten, wenn wir das politische System der EU unter die Lupe nehmen, denn der Vertrag definiert das aktuelle institutionelle Zwischenspiel.
Deswegen griffen die Regierungen zu dem Mittel, einen „normalen“ Vertrag abzuschließen, der die relevanten Punkte enthielt. Dieser wurde in Lissabon geschlossen und 2009 von allen Mitgliedsstaaten ratifiziert – ohne Volksabstimmungen. Dieser Weg war zwar formal korrekt und nicht zu beanstanden, aber der Eindruck, dass das Votum der Wahlbevölkerung keine Rolle spielte und gegebenenfalls einfach erneut abgestimmt wurde (wie dies in Irland geschehen sollte) oder aber durch Manöver wie den Lissaboner Vertrag die Zustimmung ganz umgangen wurde, trugen nicht eben zur Vertrauensbildung in der EU bei. Zudem besitzt die EU damit bis heute keine Verfassung.
Die Finanzkrise
Doch solche vergleichsweise luftigen Probleme traten zur Zeit der Ratifizierung des Lissabonner Vertrags bereits in den Hintergrund. 2007 begann die Subprime-Krise in den USA, die mit der Pleite des Branchenriesen Lehman Brothers, der sich die Bush-Regierung in einem Versuch, sich der „too big to fail„-Logik zu entziehen, nicht entgegenstellte, im Jahr 2008 ihre entscheidende Wegmarke erreichte. Ohne die Möglichkeit, geldpolitisch auf die Krise zu reagieren, mussten die Eurostaaten den Auswirkungen zwangsläufig fiskalpolitisch entgegentreten – was nur durch eine steigende Staatsverschuldung und damit eine de-facto Aussetzung der Maastricht-Regeln erreicht werden konnte.
Die Finanzkrise traf die europäischen Staaten auf unterschiedliche Art. Manche waren primär betroffen. Das waren etwa Spanien, Italien, Irland und Griechenland, wo analog zur amerikanischen Krise die Kreditvergabe die Leistungsfähigkeit der Realindustrie überschritten hatte. Andere Staaten wie Deutschland waren sekundär betroffen, weil es ihre Banken waren, die diese gewaltige Expansion ermöglicht hatten. Der Zusammenbruch der bald pejorativ PIIGS-Staaten genannten Gruppe musste daher zu einer Bankenkrise in Deutschland und anderen EU-Ländern führen. Die anderen Staaten waren tertiär betroffen, weil der Zusammenbruch des Interbankenmarkts und die scharf gestiegene Schwierigkeit, an Refinanzierungskredite zu kommen, ihre Wirtschaft belasteten. In allen Fällen war ohne massive und schnelle Staatshilfen nichts zu machen.
Von Beginn an war dabei unter den Staaten Konsens, dass man selbst schuldlos sei und die Krise ein externales Ereignis aus den USA war, auf das man einer Naturkatastrophe gleich reagieren müsse. Die Große Koalition in Deutschland verfocht dieses Mantra besonders aggressiv und zwang auch andere, eher skeptische EU-Staaten auf Linie. Das bedeutete, dass die Staaten jeweils national auf die Problematik reagierten (in Deutschland etwa durch ein gewaltiges Konjunkturprogramm und eine Garantie aller privaten Einlagen) – und damit ihre Defizite in die Höhe fuhren. Die EZB fuhr quasi ein „business as usual„.
Die dahinterliegende Theorie war, dass die Krise nicht an strukturellen Problemen in den EU-Volkswirtschaften und vor allem der Euro-Konstruktion hing, sondern an Ungleichgewichten innerhalb der einzelnen Länder. Entsprechend müsste die Krise diese Ungleichgewichte abbauen, da eine europäische Krisenpolitik diese stattdessen erhalten würde. Die USA unter ihrem neu gewählten Präsidenten Obama verfochten einen anderen Ansatz, indem sie mit Geldpolitik das System stabilisierten (wenngleich der Stimulus 2009 wesentlich zu klein war). Die befürchtete Inflation blieb aus, und die Wirtschaft wuchs seit 2010 mit beeindruckender Kohärenz jedes Jahr wieder und erreichte gegen Ende von Obamas Regierungszeit das Vorkrisenniveau – ein Status, von dem ein Großteil der Eurozone weit entfernt ist.
Doch diese Differenzen wären vielleicht philosophischer Natur geblieben, wenn die Finanzkrise wie in den USA vor allem die öffentlichen Haushalte aufgebläht, realwirtschaftliche Schäden angerichtet und dann ein Problem der Vergangenheit geblieben wäre, so dass man sich auf die Erholung hätte konzentrieren und die Schulden mit dem folgenden Wirtschaftswachstum langsam wieder bezahlen können. Für Deutschland funktionierte dieses Modell ausnehmend gut, was sicherlich zu der langen Regierungszeit Angela Merkels beigetragen hat. In den meisten anderen Euro-Ländern dagegen war die Politik ein Desaster. Denn nicht nur hatten sie mit den Folgen der Finanzkrise zu kämpfen – sie mussten sich einer ausgewachsenen Währungskrise stellen.
Die Eurokrise
An dieser Stelle kann, so viel sei gleich vorweg gesagt, keine detaillierte Aufarbeitung der Eurokrise erfolgen. Wer sich für die Geschichte der Finanz- und Eurokrise im Detail interessiert, sei mit wärmster Empfehlung an Adam Tooze verwiesen, dessen Buch „Crashed“ (deutsch) die absolute Autorität auf diesem Gebiet darstellt. Daher hier in Kürze.
Die Eurokrise begann praktisch im Anschluss an das Erreichen Europas der Schockwellen der Finanzkrise im Jahr 2009. Ihr Brennpunkt war Griechenland, was auf den ersten Blick überraschen mag. Das Land macht kaum 3% der Wirtschaftsleistung der gesamten EU aus; Deutschland alleine hätte die griechischen Schulden übernehmen und dabei nicht die Kosten seines eigenen Konjunkturpakets erreichen können. Von Anfang an war daher die Eurokrise mindestens ebenso eine politische wie wirtschaftliche Krise.
Die Überlegung der deutschen Politik war dabei insgesamt recht simpel. Konsistent mit der Reaktion auf die Finanzkrise wollte man vermeiden, die Schulden der Einzelstaaten in irgendeiner Form zu vergemeinschaften. Obwohl man also eine Währung teilte, sollte die fiskalpolitische Reaktion (nicht aber die geldpolitische!) in jedem Mitgliedsstaat individuell sein. Nach Lage der Dinge bedeutete dies Austerität, weil alle anderen Reaktionsmöglichkeiten durch diese Prämissen verbaut waren. Staaten, die nicht willens oder in der Lage waren, diesen Weg zu gehen, sollten aus dem Euro ausscheiden.
Im Prinzip war dies dieselbe Politik, die lange den Goldstandard unterfüttert hatte (worüber ich hier ausführlich geschrieben habe). Die dahinterstehende Sorge war nicht, dass die griechische Volkswirtschaft nicht gerettet werden könnte, sondern dass ein moral hazard entstehen würde: Athen spielte nicht trotz, sondern wegen seiner geringen Größe keine Rolle in den Überlegungen der großen EU-Staaten. Die Augen in Berlin waren auf Rom und Madrid, nicht auf die Akropolis, gerichtet. Würde man nämlich einen Bailout für Griechenland beschließen, so gäbe es keine Anreize für Italiens und Spaniens (und Irlands) ungleich größer Volkswirtschaften, durch Austerität selbst aus der Krise zu kommen. Das war die fundamentale politische Logik der Krise, die von Deutschland und den mit ihm verbündeten Staaten der Eurozone aufgezwungen wurde.
Es lohnt sich, kurz bei den Bündnissen zu verweilen, die hier zur Anwendung kamen. Durch die gesamte Eurokrise bis heute hat die deutsche Position ihre überzeugtesten Verteidiger in den Niederlanden und in Finnland. Die schärfsten Kritiker sind, wenig überraschend, in Griechenland, Italien, Spanien und Portugal zu finden. Länder wie Frankreich nehmen eine Mittlerposition ein. Frankreich hat auch kein großes Interesse daran, die italienischen Schulden zu garantieren, ist aber gleichzeitig wenig begeistert von der deutsch-dominierten geldpolitischen Haltung der EZB und der Position Berlins. Entsprechend agiert es mal als unwilliger Verbündeter, mal als verhaltener Kritiker, ohne sich je entschlossen auf eine der beiden Seiten zu stellen. Diese Dynamik hat sich innerhalb der EU bis heute wenig geändert.
In den Jahren 2010, in dem die Eurokrise quasi offiziell begann (und in der die Bedürfnisse der deutschen Innenpolitik, die die schwarz-gelbe Haltung angesichts der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen und der beginnenden Anti-Griechenland-Kampagne der BILD zu einer wesentlich kompromissloseren Haltung zwangen als vielleicht sachlich geboten), bis etwa 2012 setzte sich die deutsche Haltung überwiegend durch. Eine Art großer Koalition folgte in Griechenland (mehr schlecht als recht) den Bedürfnissen der Austeritätspolitik; ähnliche Kurse wurden in Spanien und Portugal sowie Irland gefahren. In Italien führte die Krise zum Sturz der dortigen Regierung und der von der EU äußerst positiv begleiteten Einsetzung einer Technokratenregierung.
Letztere kann durchaus als Fanal betrachtet werden. EU-kritische Kräfte betrachteten sie als eine Art Putsch, eine koloniale Übernahme durch die EU. Die Monti-Regierung war schnell unbeliebt (wenig verwunderlich, handelte es sich doch um politische Amateure mit einem extrem unpopulären Programm) und erlaubte es den Italienern, sämtliche schlechten Gefühle rund um die Eurokrise auf die EU abzuladen, die ihnen scheinbar von außen die Austerität aufoktroyiert hatte. Dieses Gefühl der Fremdbestimmung wurde in allen südeuropäischen Ländern beherrschend und führte dort zum Aufschwung populistischer Bewegungen von rechts wie links.
Diese Politik war allerdings ihrem Wesen nach tatsächlich unnatürlich. Die PolitikerInnen der jeweiligen Länder wollten sie eigentlich nicht implementieren und konnten sich nur mit der Alternativlosigkeit (Merkels Worte) dieser Maßnahmen rechtfertigen, was gegen die populistische Widerstandsbewegung ungefähr niemanden überzeugte. Ohne jede Mehrheit in den Ländern, denen sie große Opfer abverlangte, und ohne greifbare unmittelbare Erfolge entwickelte sie eine ähnliche Dynamik wie die Agenda2010 in Deutschland: Möglicherweise führte sie mittelfristig zu einer strukturellen Gesundung, aber mittelfristig, um das Keynes-Wort etwas abzuändern, sind wir alle arbeitslos und sozial abgestiegen. Die Hoffnung, in zehn oder fünfzehn Jahren denselben Wohlstand wie vor der Krise wieder erreicht zu haben, ist nichts, womit man irgendwen begeistert.
Dass die Eurokrise zudem nicht auch nur im Ansatz gelöst wurde, sondern vielmehr schlimmer wurde und immer neue Runden von Rettungspaketen nötig machte, die wegen der ohnehin knappen Kredite im Fahrwasser der Finanzkrise ohne Garantien von außen kaum zu stemmen waren, ließ diese Politik um 2012 vor einer unangenehmen Wahl stehen. Entweder man ging sie bis zu ihrem logischen Ende, was den „Grexit“ aus dem Euro bedeuten würde. Für diese Möglichkeit trat vor allem der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble mit Verve ein. Oder aber die EU schuf eine Vergemeinschaftung, in welcher Form auch immer.
Wer jetzt denkt „da kann ja nur ein Kompromiss rauskommen, der keine Seite befriedigt“ hat die Natur der EU verstanden. Der Mechanismus, auf den man dabei verfiel, war der so genannte „Europäische Stabilitätsmechanismus“ (ESM). Abgesichert durch die strenge Kontrolle der „Troika“, einer aus Vertretern der Europäischen Kommission, EZB und dem Internationalen Währungsfond (IWF) zusammengesetzten eigenen Institution, wurde den betroffenen Staaten Zugang zu Krediten mit vergleichsweise niedrigen Zinsen gewährt, gleichzeitig aber harsche Auflagen gemacht. Diese Auflagen zwangen die Empfängerländer zu tiefschneidenden Austeritätsmaßnahmen, was bezeichnenderweise ausgerechnet der IWF, der in den Jahrzehnten des „Washington Consensus“ eigentlich immer die erste Quelle solcher Maßnahmen war, mit Verweis auf die wirtschaftliche Untragbarkeit ablehnte. Hier setzten sich die Deutschen aber durch, die schon die Kröte der Existenz des ESM schlucken mussten.
Aufstieg der Ränder
Das Resultat war eine Stärkung der populistischen Ränder in allen betroffenen Ländern. In Italien formierte sich das „5-Sterne“-Bündnis unter dem ideologisch recht flexiblen, tendenziell aber rechts zu verordnenden Comedian Beppo Grillo. In Spanien wurde Podemos groß, in Portugal kam seither die Sozialistische Partei (PS) an die Macht, in Griechenland begann der Aufstieg der Syriza. Aber gleichzeitig kam es zu einer gegenläufigen Bewegung in den nördlicheren Ländern. In Deutschland formierte sich aus Protest die AfD (damals noch als nationallliberale Anti-Euro-Bewegung), in Frankreich erstarkte der Front National, in Großbritannien UKIP, in Ungarn kam Fidesz an die Macht, in Finnland stiegen die Wahren Finnen auf, in Polen die PiS-Partei, in den Niederlanden die „Partei der Freiheit“, nur um einige zu nennen.
Das generelle Schema war, dass in den südeuropäischen Staaten eher Linkspopulisten reüssierten (wenngleich in Griechenland und Italien auch oder sogar vorwiegend Rechtsextremisten aufstiegen), während in den Ländern nördlich der Alpen, manchmal zum ersten Mal, rechtspopulistische Parteien in die Parlamente kamen (wobei Frankreich hier eine Zwitterrolle spielt, die zu der beschriebenen Position zwischen den Stühlen durchaus passt). Ich denke das liegt vor allem daran, dass die spezifische jeweilige Unmut sich von diesen glaubhafter artikulieren ließ.
Die südeuropäisch geprägten Länder waren weiterhin Pro-EU, sie wollten Mitglied der Union bleiben (was ja auch maßgeblich zu Griechenlands mehrfacher Entscheidung für den Euro und entschiedenem Widerstand gegen Schäuble führte). Zugleich traten sie aber für eine stärkere Umverteilung und Vergemeinschaftung, mithin eine Vertiefung der Integration ein – sicherlich aus wohl verstandenem nationalen Eigeninteresse, aber dabei handelte es sich nun einmal um Themen, die eher von links als von rechts formuliert werden.
Umgekehrt fanden sich die Länder des nördlicheren Europas überwiegend in einer Abwehrstellung. Sie wollten vor allem eine weiter gehende Integration der Fiskal- und Wirtschaftspolitik verhindern und den aktuellen Integrationsstand bewahren. Auch hier spielten wohl verstandene Eigeninteressen eine Rolle, und die Form, die diese Integration etwa im ESM dann nahm, spiegelte deutlich die Präferenzen dieser Länder wieder.
Ein klarer Effekt dagegen ist, dass das Versagen der jeweiligen Populisten einen klaren Wechseleffekt hat: Wenn die eine Seite es nicht hinbekommt, wird die andere probiert. Das fällt vor allem in Italien und Griechenland auf, wo alle Regierungen seit 2012 erfolglos gegen die Beschränkungen der oben beschriebenen Dynamiken anrannten, scheiterten und dann an Wählergunst verloren. Auffällig ist denke ich allerdings, dass die linkspopulistischen Parteien (bislang) den Rechtsstaat und die Demokratie nicht nur nicht gefährden, sondern sogar zu seinen Garanten wurden – was man von den Rechtspopulisten, die die EU seither von einer Krise in die nächste jagen, so nicht behaupten kann.
Parlamentarische Selbstbehauptung
Die Europawahlen 2014 stellten eine gewisse Trendwende dar, was das viel beklagte Demokratiedefizit in der EU angeht. Seine verhältnismäßig machtlose Position, die wir beim Blick auf das politische System der EU genauer untersuchen werden, wurde langsam, aber kontinuierlich ausgebaut und erhielt mit dem Vertrag von Lissabon einen neuerlichen Schub. Im Jahr 2014 einigten sich die Führer der beiden größten europäischen Parteien, der konservativen Parteienfamilie EVP und der sozialdemokratischen Parteienfamilie S&D, Jean-Claude Juncker, in einem aggressiven Normenbruch die Parlamentarisierung der EU voranzutreiben.
Der letzte Kommissionspräsident Barroso war noch klassisch durch die nationalstaatlichen Regierungen der EU in einem Konsensverfahren ernannt worden und ein eher farbloser Kandidat. Der Vertrag von Lissabon hatte dem Parlament das formale Recht eingeräumt, den Kommissionspräsidenten zu wählen – ein wertloses demokratisches Feigenblatt, da das Parlament nicht das Recht auf Ernennung der Kandidaten besaß.
Schulz und Juncker, deren beide Parteien eine solide Mehrheit im Parlament besaßen, einigten sich darauf, dass das Parlament keineN KandidatIn wählen würde, der nicht von derjenigen Parlamentsfraktion nominiert wurde, die die meisten Stimmen in der Europawahl erreichte. Anstatt also wie bisher die Vorschläge der Kommission abzunicken, wollten die Parlamentarier umgekehrt die Kommission dazu zwingen, ihren Wunschkandidaten zu nominieren – also entweder Juncker oder Schulz, je nachdem, wie die Wahl ausgehen würde.
Der Plan funktionierte. Das Parlament zwang den Regierungen seinen Willen auf, weil Juncker und Schulz beide gewiefte Politiker und erfahrene Parlamentarier waren, mit großem Rückhalt im Parlament (Fähigkeiten, die Schulz drei Jahre später herzlich wenig nutzen würden). Die EVP gewann die Wahlen 2014, in denen zum ersten Mal ein gesamteuropäischer Wahlkampf mit „Spitzenkandidaten“ betrieben wurde, und Juncker wurde Kommissionspräsident.
Eine Wiederholung dieser Übung 2019 scheiterte jedoch an der Unfähigkeit des Parlaments, dasselbe Bündnis hinter den Kandidaten zu versammeln. Als die EVP 2019 gewann, nominierte sie Manfred Weber (CSU), ohne sich zuvor des nötigen Rückhalts in den anderen Fraktionen zu versichern, die daraufhin aus narzistischer Kränkung die Wahl sabotierten und des den Regierungen erlaubten, einmal mehr eine Kompromisskandidatin zu ernennen: Ursula von der Leyen wurde dadurch neue Kommissionspräsidentin. Die Entscheidung darüber, welche Struktur die Gewalten in der EU künftig haben würden, wurde dadurch auf 2024 verschoben.
Keine Verschnaufspause
Während die EU-StaatschefInnen und FinanzminsterInnen noch einen erbitterten Kampf gegen die neue griechische Regierung unter Alexis Tsipras und Yanis Varoufakis führten, die mit einem demokratischen Mandat im Rücken die EU moralisch zu erpressen hofften (und ultimativ scheiterten beziehungsweise ihren Bluff eingestehen mussten) und der die Union bis zum Zerreißen spannte und alle Ressourcen beanspruchte, brach an der Peripherie eine neue Krise los.
Die Flüchtlingskrise von 2015 war, anders als die Finanzkrise, eine Krise mit Ansage. Bereits seit mehreren Jahren klagten die südeuropäischen Staaten an der europäischen Peripherie – vor allem Spanien, Italien und Griechenland – über die ständig steigende Belastung durch die zunehmende Zahl Flüchtlinge aus Nordafrika und dem Nahen Osten. Der Arabische Frühling ab 2011 und der syrische Bürgerkrieg ab 2012 erhöhten den Druck stetig weiter – zu einer Zeit, als die Finanz- und Wirtschaftslage dieser Staaten wegen der Finanz- und Eurokrise ohnehin angespannt war.
Die betroffenen Staaten baten permanent um Hilfe, aber anderen EU-Staaten zogen sich auf eine bekannte Position zurück, indem sie auf die rechtliche Lage verwiesen. Das Dublin-II-Abkommen hatte den besonders für Deutschland sehr vorteilhaften Passus, dass Flüchtlinge und Asylbewerber nur dort Aufnahme beantragen konnten, wo sie EU-Gebiet zuerst betreten hatten – was außer über Nord- und Ostsee sowie die Flughäfen für Deutschland unmöglich war, und da Flughäfen extraterritorial sind, war auch dieser Zugang versperrt. Das war eine extrem komfortable Situation, aus der sich hervorragend moralisierende Vorträge über gutes Haushalten und die Gültigkeit von Verträgen halten ließen.
Eine politische Lösung der Flüchtlingsfrage war aber auch völlig unrealistisch. Deutschland wäre möglicherweise bereit gewesen, eine europäische Verteilung der Flüchtlinge oder wenigstens eine gerechtere Verteilung der Kosten ihrer Aufnahme mitzutragen, aber besonders die neuen Mitgliedsstaaten Osteuropas und Großbritannien waren es sicher nicht – sicher nicht zufällig gerade die Staaten, in denen rechtspopulistische Bewegungen im Aufwind waren. Dazu nahmen die Finanz- und Eurokrise alle Aufmerksamkeit und Ressourcen in Anspruch.
Dieses Verständnis ändert aber nichts daran, dass der Dammbruch 2015 nicht vorhersehbar gewesen wäre. Zwar war die Wanderung zu diesem Zeitpunkt, mit dieser Demographie und unter diesen Bedingungen (Stichwort Syrien, Stichwort Balkanroute) so nicht prognostizierbar gewesen, aber dass das System irgendwo, irgendwann brechen musste – das war praktisch garantiert.
Was folgte war zuvordererst eine Wertekrise. Die Flüchtlinge, die sich 2015 langsam über die Balkanroute nach Norden wälzten, kamen aus katastrophalen Zuständen in überfüllten und unterfinanzierten griechischen Auffanglagern. Sie bewegten sich durch Länder, die nicht eben oben auf der Spitze von Rankings zu wohl ausgebautem Sozial- und Rechtsstaat stehen. Und sie erreichten schließlich Budapest, wo eine rechtsextremistische Regierung in offener Verletzung aller möglichen Abkommen und Konventionen die Grenze mit Stacheldraht abzuriegeln begann.
Die Frage war daher nicht, ob Europa diese Flüchtlinge aufnehmen konnte. Das konnte es, und wie sich zeigen sollte, konnte Deutschland das auch alleine. Das Problem war vielmehr dreigleisig.
Problem Nummer eins war, wie in der Eurokrise auch, die Sogwirkung. Deutschland hätte Griechenland aus der Portokasse retten können, aber das war nie die Frage. Genauso wenig war die Frage, ob man diese Flüchtlinge würde aufnehmen können, sondern was danach geschehen würde. Würde das nicht ein Signal in die gesamte Zweite und Dritte Welt senden, dass jedeR nach Deutschland kommen könne, wenn er oder sie es nur genug wünschte?
Damit verbunden war Problem Nummer zwei. Hier handelte es sich um ein Werteproblem. Denn die EU stand, wie wir mehrfach betont haben, auch als Wertegemeinschaft zusammen, besaß einen eigenen Gerichtshof für Menschenrechte und garantierte daher eine humane Behandlung von Flüchtlingen und eine grundsätzliche Aufnahme. Allein, diese Regelungen waren nie für eine solche Krise ausgelegt gewesen. Die EU stand daher vor der Wahl, entweder gegen ihre Werte oder gegen ihre vertraglichen Regelungen zu verstoßen. Ungarn wählte entschlossen den Werteverstoß; einem Orban war ohnehin nie an Menschenrechten und Demokratie gelegen. Merkel wählte, nach langem Zögern und Schwanken, den Verstoß gegen die Verträge.
Und das führt zu Problem Nummer drei, denn die Flüchtlingskrise ist auch ein politisches Problem. Deutschlands unilaterale Entscheidung, die syrischen Flüchtlinge 2015 aufzunehmen, umging die Blockade der EU, aber gerade dieses Umgehen war natürlich ein Verstoß gegen alles, wofür die Gemeinschaft rechtlich und politisch stand. Damit zog sich Merkel den Unmut vieler anderer RegierungschefInnen zu, was sicherlich zum generellen Unwillen weiterer Integration beigetragen hat.
Die Summe dieser Probleme zeigt deutlich, dass es keine Lösung gibt, die irgendwie als „gut“ gelten kann. Die Flüchtlingskrise ist ein wicked problem, wie es in den Politikwissenschaften heißt, ein unlösbares Dilemma. Wenig überraschend ist die Flüchtlingspolitik von einem Kompromiss bestimmt, der keine Seite zufrieden stellt. Nach der Priorisierung der Werteunion schwenkte Deutschland bereits im Frühjahr 2016 entschieden in die andere Richtung zurück. Die EU schloss ein Abkommen mit dem türkischen Autokraten Recip Erdogan, das das schmutzige Geschäft des Landweg Blockierens für die Zahlung der metaphorischen 30 Silberstücke auslagerte, mit dem Effekt, dass man durch Erdogan erpressbar wurde und sich bei der Verteidigung der Werte völlig unglaubwürdig machte – was sowohl Erdogan als auch seine Gesinnungsgenossen in Budapest und Warschau seither weidlich ausnutzen.
Gleichzeitig wurden die Grenzen nach außen wesentlich vehementer als bisher geschlossen. Die südeuropäischen Staaten wurden mit dem Problem emphatisch und erneut allein gelassen, nicht einmal eine Lockerung der durch die Eurokrise aufoktroyierten Austerität (die in Griechenland mittlerweile wieder von einer Mitte-Rechts-Regierung vertreten wird, nachdem Syriza abgewählt wurde) wurde zugestanden. Ihre Reaktion dürfte nicht überraschen. Die Bilder aus Moria oder die Flüchtlingsboote versenkende griechische Küstenwache mit auf Frauen und Kinder schießenden Marinesoldaten sprechen eine eindeutige Sprache.
Brexit
Dieser faustische Pakt hat das politische Problem gelöst. Die Flüchtlingskrise ist seit spätestens 2017 kein politisch relevantes Thema mehr und wäre als solches ohne massive Schützenhilfe der Leitmedien (Stichwort Bundestagswahl 2017) auch schon vorher von der Agenda verdrängt worden. Doch in einem Anfall von spektakulär schlechten Timing fiel sie genau in jene Zeit, in der der Hasardeur in der Downing Street 10 sich seiner innenpolitische Probleme elegant durch ein Referendum zu entledigen hoffte.
Es dürfte unstrittig sein, dass ein innenpolitisches Manöver selten so gehörig nach hinten los gegangen ist wie Camerons Referendum über den Brexit. Für die meisten Beobachter überraschend entschied sich im Sommer 2016 eine hauchdünne Mehrheit der Briten für den Austritt aus der Union. Die Flüchtlingskrise, die Konkurrenz durch osteuropäische ArbeitsmigrantInnen und, absurderweise, die Debatte über einen EU-Beitritt der Türkei bestimmten neben zahlreichen innenpolitischen Themen die von PolitikerInnen und Medien völlig verhetzt und verzerrte Debatte.
Es lohnt sich an dieser Stelle kurz bei der Frage des Türkei-Beitritts zu verweilen. Dieser stand seit den 1980er Jahren auf der europäischen Agenda, wurde jedoch wegen der offensichtlichen Defizite der Türkei in Sachen Rechtsstaat, Freiheit und Menschenrechte (die Kopenhager Kriterien, die jeder EU-Beitrittskandidat erfüllen muss) immer wieder verschoben.
Die größten Chancen hatte die Mitgliedschaft der Türkei, als Anfang der 2000er Jahre eine reformorientierte, pro-europäische Regierung unter Recip Erdogan an die Macht kam (ja, der Mann hat sich ein klein wenig gewandelt!) und in Deutschland die rot-grüne Regierung in falsch verstandenem Anti-Rassismus stark für den Beitritt trommelte. Letztlich zerschlug sich jede Hoffnung auf einen solchen Erfolg aber an einer Vielzahl von Faktoren und war angesichts der seitherigen Entwicklung der Türkei und Osteuropas sicherlich auch zum Besten. Aber aus Gründen, die nicht-konservative nicht-Briten vermutlich nie verstehen werden, wurde das Thema in der Brexit-Debatte 2016 mit großem Effekt in der Yellow Press und der reaktionären Wahlkampfmaschinerie hochgekocht.
Der Austritt Großbritanniens war ein nie dagewesenes Ereignis. Die EU wie auch das UK selbst mussten jeden Schritt erst einmal finden. Dass die britische Innenpolitik ein mehrjähriges, peinliches Schauspiel politischen Dilettantismus‘ an den Tag legte und ausgerechnet in dieser Zeit die Labour-Partei von einem verknöcherten Linkspopulisten beherrscht wurde, machte die Lage keinen Deut besser.
Für die EU allerdings zeigte sich eine beeindruckende Stärke. Der Austritt Großbritanniens zwang alle anderen kritischen Staaten zu einer Neubewertung ihrer Mitgliedschaft. Offensichtlich war der Austritt möglich und fortan auch denkbar. Gerade Polen und Ungarn mussten sich entscheiden, wo sie hier standen. Britische Hoffnungen, die EU würde hier nicht mit einer Stimme sprechen können, zerschlugen sich. Die EU27 bestimmten einen Vertreter für die Verhandlungen und ließen sich von May und Johnson nicht spalten. Stattdessen vertraten sie die Interessen des restlichen EU-Staaten entschlossen und einstimmig. Ungarn und Polen wollten, bei allem Dissens, emphatisch NICHT aus der EU austreten, sondern Mitglieder bleiben. Damit gaben sie Verhandlungsspielraum und Hebelwirkung auf, die sich in den kommenden Jahren noch als segensreich für die gesamte EU erweisen könnte.
Stagnation
2017 schien das Pendel dann in die andere Richtung zu schwingen. In Frankreich setzte sich der bekennende Pro-Europäer und Wirtschaftsliberale Emmanuel Macron bei der Präsidentschaftswahl und, noch entscheidender, bei der folgenden Nationalversammlungswahl mit seiner neuen Partei En Marche gegen die Rechts- wie Linkspopulisten durch. Der Vormarsch der Populisten und die Desintegration der EU waren damit gestoppt, das Gespenst eines Frexit gebannt. Seither hat sich die EU deutlich stabilisiert.
Gleichzeitig aber ist sie auch stagniert. Obwohl Macron zahlreiche Reformvorschläge aufs Tablett brachte, weitreichend wie sie noch nie zuvor von einem französischen Präsidenten angeboten wurden, schlug die Merkel-Regierung sie ihr ausgestreckt dargebotene Hand zur Seite. Die vom Rechtspopulismus dominierte Bundestagswahl 2017 und das völlige Verglühen des pro-europäischen Martin Schulz etablierte Merkel einmal mehr als die Madame Non der EU. Seither werden vor allem die bekannten Problemfelder beackert – von jedem Nationalstaat für sich.
Dies änderte sich auch nicht, als 2020 die Corona-Krise ausbrach. Wie bereits bei der Finanz- und Eurokrise zuvor gab es keinerlei ernsthafte Bestrebungen um europäische Lösungen oder auch nur eine Einbindung der europäischen Institutionen. Stattdessen dominierte der flagrante Vertragsbruch durch Grenzschließungen und andere Maßnahmen. Emphatisch entschied sich ganz Europa, anders als noch in der Flüchtlingskrise, gegen die europäischen Werte UND die europäischen Verträge. Ein hoffnungsvolles Signal für die Zukunft kann das kaum sein. Allenfalls der Entschluss, die Austeritätspolitik weiter dadurch aufzuweichen, dass die EU Gelder für den Wiederaufbau zur Verfügung stellt, die de facto einen Transfer von reichen an arme Staaten darstellen – zum ersten Mal in der Geschichte der EU – einen Lichtblick für überzeugte Verfechter einer weiteren Integration dar.
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