Die Europäische Union ist ein Projekt, das viele Gegner hat. Kaum ein  Vorwurf wird so oft gegen die Europäische Union erhoben wie der, dass  sie undemokratisch sei. Selbst EU-Befürworter tun sich schwer damit, sie  von diesem Vorwurf grundsätzlich freizusprechen. Ihre arkanen  Strukturen helfen ihr dabei nicht unbedingt; ein Verfassungsschaubild  der EU löst nicht nur eine erbitterte Diskussion darüber aus, ob sie  überhaupt eine Verfassung hat oder eine haben darf, sondern sieht auch  aus, als sei eine Rotte McKinsey-Berater mit einem Organigramm  angerückt. Ich will versuchen, mich dieser Frage zu stellen, aber  angesichts dessen, dass die meisten Leute die Struktur der EU überhaupt  nicht kennen und nicht wissen, wie diese einzuordnen ist, werden wir  nicht umhin kommen, eine Art Grundlagenkurs vorzuschieben.


Im Laufe ihrer wechselvollen Geschichte durchlief sie viele  verschiedene Stadien, wandelte ihre Natur mehrmals. Infolgedessen ist  sie komplex, ein organisch gewachsenes Konstrukt, das zwar mit ihrer  ursprünglichen Konzeption nur noch wenig gemein hat, aber  nichtsdestotrotz von ihr geprägt ist. Der erste Punkt muss daher eine  Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte sein, um sehen, woher sie kommt  und wohin sie geht.

Auferstanden aus Ruinen

Im Jahr 1945 stand Europa an einem Scheideweg. Das Nazi-Reich war  zerschlagen, zerstört, zerteilt und besetzt. Aber dasselbe galt für  viele andere europäische Staaten auch. Frankreich war zwar nicht so  getroffen wie nach dem Ersten Weltkrieg, aber von der deutschen  Besatzung ausgeblutet und zumindest in Teilen zerstört. Die alliierten  Armeen waren gegen erbitterten Widerstand der deutschen Truppen durch  Belgien und die Niederlande vorgestoßen und hatten mühsam Italien  durchquert. Großbritannien war finanziell und wirtschaftlich ausgeblutet  und hatte Bombenschäden zu beseitigen. Von den Verheerungen Osteuropas,  die das Ausmaß der Zerstörung in Deutschland oft genug übertrafen,  wollen wir gar nicht anfangen.

Für alle Beteiligten galten zwei grundsätzliche Prämissen. Auf der  einen Seite wurde Deutschland, anders als 1918, besetzt und als  eigenständiger Faktor komplett ausgeschaltet. Auf der anderen Seite  sollte der folgende Frieden dieses Mal deutlich nachhaltiger sein als  nach Versailles. Demontage und Teilung Deutschlands galten daher in  vielen Diskussionen, wenngleich nicht allen, praktisch als gesetzt.

Doch schnell kamen zwei Faktoren auf, die diese Prämissen hinfällig machten.

Faktor eins war der beginnende Kalte Krieg. Die sich abzeichnende  Realität war, dass die Nachkriegsordnung, Deutschland von allen vier  Siegermächten gemeinsam zu verwalten, nicht aufrechtzuerhalten war. Die  sowjetisch besetzte Zone (SBZ), aus der sich später die DDR entwickeln  sollte, war perspektivisch nicht für den wirtschaftlichen Zugriff der  Westalliierten zu halten.

Das bedingte Faktor zwei: Die Besatzungszonen waren allein nicht  lebensfähig. Statt Gewinn in Form von Reparationen und Demontagen aus  ihnen ziehen zu können, wurden sie zu Zuschussunternehmungen.  Großbritannien, das während des Krieges aus Lebensmittelrationierung  verzichtet hatte, musste diese 1946 einführen, um seine Zone mit  Lebensmitteln versorgen zu können. Frankreich stand vor einer noch  größeren Herausforderung.

Es überrascht daher wenig, dass die USA und das UK sich bereits 1946  zusammentaten und ihre Zone von nun an gemeinsam verwalteten, um die  Kosten zu reduzieren und möglichst schnell eine eigenständige,  lebensfähige Zone zu erhalten. Frankreich wehrte sich dagegen, weil es  noch darauf hoffte, größere Gebietsgewinne (vor allem die Saar) und  Reparationsleistungen zu bekommen. Doch aus dem zerstörten Deutschland  ließ sich einerseits wenig ziehen, und andererseits war Frankreich  wirtschaftlich wesentlich zu schwach, um gegen den Widerstand seiner  Verbündeten eine eigenständige Deutschlandpolitik fahren zu können.

Einige weitsichtige Politiker erkannten bereits damals, dass  Frankreichs Sicherheitsbedürfnis nicht würde aus einer Niederhaltung  Deutschlands gestillt werden können, sondern nur aus einer Symbiose. Am  berühmtesten ist hier Winston Churchills Rede von 1946, in der er die  Vision der „Vereinigten Staaten von Europa“ entwarf, die sich um eine  Achse zwischen Frankreich und Deutschland herum (wenngleich mit einem  deutlich dominanten Frankreich) entwickeln sollten. Pointiert nahm er  dabei Großbritannien heraus. Während er chauvinistisch (wenngleich  korrekt) Frankreich den Großmachtanspruch absprach und es auf den  Kontinent verbannte, nahm er ihn für Großbritannien (ungleich weniger  korrekt) sehr wohl an.

Hintergrund war, dass Churchill das Empire als Kraftreserve sah, das  es Großbritannien ja auch erlaubt hatte, den Krieg durchzustehen. Er  hatte da gewisse Erfahrungen aus erster Hand. Diese Erfahrungen aber  verstellten ihm den klaren Blick. Churchill stellte sich Großbritannien  als eigenständigen Akteur zwischen USA und UdSSR vor, quasi als Brücke  zwischen den USA und den USE. Bereits ein Jahr später zeigte die  Unabhängigkeit des „Kronjuwels“ Indien, was für eine Fantasterei das  war. Die Labour-Partei, die gegen den Fantasten Churchill 1945 die  Wahlen gewonnen hatte, war da schon weiter und baute Großbritannien mit  einem auf innenpolitische Reformen gerichteten Blick vom Empire zum  modernen Staat um – einem modernen Staat, der seinen Platz in Europa und  nicht in Weltmachtspielereien hatte.

Einstweilen aber beobachtete Großbritannien die europäischen Vorgänge  noch aus wohlwollender Distanz. Es war an den Franzosen, über den  eigenen Schatten zu springen. Deutschland hätte, auch nach der Schaffung  der Trizone 1947, der Einführung der Mark 1948 und der Gründung der  Bundesrepublik 1949, mehr als vermessen gewirkt, in diese Richtung zu  agieren.

Die beiden Personen, die mit diesem Schattensprung am bekanntesten  verknüpft sind, sind Robert Schuman und Jean Monet. Schuman war der  französische Außenminister, während Monet ein Unternehmer mit  hervorgehobener Rolle bei der Koordination der britischen und  französischen Kriegswirtschaft und damit ein Experte für wirtschaftliche  Verflechtungen war.

Sie traten nun an den ersten Bundeskanzler,  Konrad Adenauer, heran und machten ihm einen spektakulären Vorschlag.  Konkret ging es um die Schaffung einer gemeinsamen Behörde, die  supranational und damit den Staaten übergeordnet sein sollte. Diese  Behörde, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, kurz:  Montanunion), sollte die Montanindustrie beider Länder gemeinsam  verwalten. Die Montanindustrie (Bergbau und Eisenverarbeitung) besaß  damals noch eine hervorgehobene Stellung, weil sie sowohl als  Grundstoffhersteller für alle weiteren Industrien als auch für den  Aufbau und Unterhalt einer Rüstungsindustrie entscheidend war.

Die Motive Frankreichs für diesen Zug sind verhältnismäßig leicht zu  durchschauen. Einerseits würden sie so, anders als in Weimar, klare  Kontroll- und Zugriffsrechte auf die deutsche Montanindustrie haben.  Eine verdeckte Aufrüstung à la „Schwarzer Reichswehr“ wäre so unmöglich.  Andererseits würde die Versorgung der französischen Eisenindustrie mit  Kohle sichergestellt werden. Und zuletzt wurde die französische  Eisenindustrie vor der deutschen Konkurrenz geschirmt. Statt sich auf  einen ruinösen Preiskampf mit der überlegenen deutschen Konkurrenz  einlassen zu müssen, konnten gemeinsame Quoten und Märkte eingeteilt  werden. Ein ähnlicher Versuch war in Frankreich mit der Schaffung von  Kartellen und Schutzzöllen bereits im nationalen Alleingang in der  Zwischenkriegszeit unternommen worden und kläglich gescheitert.

Doch auch für Deutschland hatte das Vorhaben einige verlockende  Aspekte. Zwar schwächte es effektiv die deutsche Industrie, da diese  freiwillig auf Wettbewerbsvorteile zu verzichten hatte. Aber dem stand  der ungehinderte Zugriff auf den französischen Markt ohne ruinöse  Schutzzollwettbewerbe gegenüber. Wesentlich bedeutender aber war der  politische Effekt der EGKS. Die Selbstfesselung der deutschen  Montanindustrie bedeutete, die französischen Vorbehalte gegen die  Bundesrepublik deutlich zu reduzieren.

Da solche Vorbehalte seitens Frankreich die Beziehungen nicht nur  zwischen diesen beiden Staaten, sondern auch mit den anderen  Kriegssiegern in der Zwischenkriegszeit erheblich belastet hatten,  konnten hier enorme Spannungen abgebaut werden. Deutschland war aber  nach dem verlorenen zweiten Weltkrieg auch ein internationaler Paria;  vor 1955 hatte es nicht einmal das Recht, eine souveräne Außenpolitik  durchzuführen. Frankreichs ausgestreckter Arm war das erste normale  Auftreten der neuen Bundesrepublik auf dem internationalen Parkett, und  da diese Einigung sehr im Sinne Großbritanniens und der USA waren, die  keine Lust auf eine Wiederholung der ständigen Reparationsstreitigkeiten  aus der Zwischenkriegszeit hatten, stand dem Abkommen auch nichts im  Wege.

So entstand die Keimzelle der späteren europäischen Union aus  Erwägungen heraus, die heute praktisch keine Rolle mehr spielen. Die  Montanindustrie erwähnt man eigentlich nur noch im Rahmen der  Strukturkrise, und bei Saarland und Ruhrgebiet denken wir an  Problemzonen, nicht an das pulsierende Herz der Wirtschaftstätigkeit.  Das deutsche Militär beunruhigt in Frankreich allenfalls angesichts  seiner Defizite und der weit verbreiteten Weigerung der Deutschen, es  einzusetzen. Und Reparationen werden allenfalls in Griechenland und  Polen als Thema betrachtet und dienen auch dort eher als Folklore.

Alle Wege führen nach Rom

Die EGKS, so viel wird man sagen dürfen, war ein klarer Erfolg.  Weitere Schritte zu einer europäischen Einigung waren bereits vorher  unternommen worden. Um die Hilfen des Marshallplans, mit dem die USA  Europa wieder aufbauen zu helfen unternahmen, vernünftig zu  koordinieren, war bereits 1948 die Organisation für Europäische  Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) gegründet worden. Im selben Jahr  hatten sich Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Frankreich und  Großbritannien im „Brüsseler Pakt“ zur „Westunion“ zusammengeschlossen,  einem Militärbündnis, das damals noch eine starke anti-deutsche  Stoßrichtung hatte, aber für unsere Zwecke vor allem wegen seiner  langfristigen und verlässlichen Kooperationsperspektive relevant.

Bereits 1954 wurde die Westunion zur Westeuropäischen Union  umgewandelt, in der auch Deutschland bald Mitglied wurde. Ihr Zweck war  offensichtlich damals bereits eine Abwehr möglicher sowjetischer  Aggression. Dieses Militärbündnis ist im Geiste bis heute Teil der EU,  wenngleich es seit dem Lissabonner Vertrag 2009 in der allgemeinen  Beistandsklausel aufgegangen und folgerichtig 2011 aufgelöst worden ist.

Bereits 1949 wurde zudem der Europarat gegründet. Diese britische  Initiative sollte die UN-Menschenrechtscharta in Europa absichern. Dem  lag die klare Erkenntnis zugrunde, dass nur eine supranationale  Institution dies bewerkstelligen könnte – der Europäische Gerichtshof.  Dessen Einrichtung wurde durch die 1950 ratifizierte Europäische  Menschenrechtserklärung noch weiter flankiert.

Ich führe diese Entwicklungen hier deswegen auf, weil die Genese der  Europäischen Union sehr häufig unzulässig auf ein reines  Wirtschaftsbündnis verkürzt wird. Diese Erzählung kommt  interessanterweise sowohl von ihren linken als auch ihren rechten  Kritikern. Linke Kritiker betonen ihre Struktur als Wirtschaftsbündnis,  um die Defizite besonders hervorzuheben. Rechte Kritiker betonen ihre  Struktur als Wirtschaftsbündnis, um eine Rückbesinnung auf angebliche  Kernkompetenzen zu fordern. Beides führt in die Irre.

Die Europäische Einigung war von Beginn an ein mehrgleisiges Projekt.  Sie war bereits in ihrer Anlage eine Werteunion: Die  Menschenrechtscharta, die Europäische Menschenrechtskonvention und die  Einrichtung eines übergeordneten Gerichtshofs zur Durchsetzung dieser  Werte noch vor der Einrichtung der EGKS sollten dies deutlich machen.  Sie war aber auch ein militärisches Projekt, eine Absicherung sowohl  gegen ein Wiedererstarken Deutschlands als auch gegen die Bedrohung  durch die Sowjetunion. All diese Anlagen müssen bedacht werden, denn sie  werden später in eine kohärente Form gebracht werden müssen.

Der Erfolg der EGKS gebar logische Folgeschritte. Neben der  wirtschaftlichen Verschränkung Frankreichs und Deutschlands schien es  sinnvoll zu sein, auch die politische und militärische Einheit  anzugehen. In den frühen 1950er Jahren wurden hierzu mehrere Pläne  ersonnen. Möglicherweise ist Stalins Störfeuer mit dem  Wiedervereinigungsangebot von 1952 auch in diesem Zusammenhang zu sehen.  Es erwies sich letztlich als überflüssig. Die Begeisterung für eine  weitergehende Integration hielt sich in beiden Ländern in Grenzen. Die  Deutschen wollten Autonomie und sahen Frankreich als Werkzeug dafür,  während in Frankreich die Garde jener Politiker, die unbedingt die  nationale Souveränität als Großmacht erhalten wollte, an Auftrieb  gewann.

Die Pläne einer politischen Einheit wurden stillschweigend begraben.  Wesentlich krachender war der Tod der militärischen Einheit.  Französische Vorschläge einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft  (EVG), die eine Zusammenlegung der französischen und einer neu zu  schaffenden deutschen Armee vorsah, scheiterten 1954 in der  Nationalversammlung. Zu diesem Zeitpunkt hatten die USA und  Großbritannien, die ihre Besatzungskosten durch einen deutschen  Militärbeitrag zu reduzieren hofften, die Gründung einer eigenen  deutschen Armee forciert – der Bundeswehr.

Die Europäische Einigung hatte damit, keine zehn Jahre nach Ende des  zweiten Weltkriegs, bereits einen empfindlichen Schlag und eine erste  Krise erlitten. Die französische Grundsatzentscheidung, von einer Union  abzusehen, legte damit das Fundament für die kommende  Wirtschaftsgemeinschaft – und schuf einen Präzedenzfall für alle  weiteren Integrationsschritte. Wo Widerstand auftrat, legte man das  Projekt auf Eis, wo es Spielräume gab, setzte man es fort.

Nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft  verlegten sich die westeuropäischen Länder darauf, erst einmal bei der  wirtschaftlichen Einigung weiter voranzuschreiten – ein Projekt, das  sich mit der EGKS bereits äußerst erfolgreich angelassen hatte. Die EGKS  hatte zwar als deutsch-französisches Programm begonnen, aber immer die  Beitrittsperspektive der anderen europäischen Marktwirtschaften und  Demokratien im Auge gehabt.

Die waren damals überschaubar: die drei Benelux-Staaten, Italien und  Großbritannien sowie den skandinavischen Ländern. Spanien, Portugal und  Griechenland waren brutale Militärdiktaturen, mit denen man zwar  militärisch in der NATO kooperierte und von denen man Gastarbeiter  anwarb, die aber sonst für das Projekt keine Rolle spielten. Dänemark,  Großbritannien und Norwegen hatten ihre eigenen Vorbehalte gegen eine  Mitgliedschaft in der neuen Wirtschaftsgemeinschaft und assoziierten  sich lieber im Rahmen des Freihandels. Und Schweden und Finnland hatten,  wie auch Österreich, eine Neutralitätsverpflichtung gegenüber der  Sowjetunion und blieben daher bündnisfrei, während die Schweiz  traditionell ihre Neutralität wahrte.

Recht schnell fand sich daher in Vorgesprächen 1955 eine Einigung der  sechs Gründungsmitglieder EWG, eine solche zu schaffen. Bereits damals  war der weitere Weg der europäischen Integration umstritten. In  Deutschland etwa teilte sich die Regierung in das Lager der  Institutionalisten, die eine Hohe Behörde zur zentralen Regelung des  Handels einrichten wollten (quasi eine Art Super-EGKS) und die  Funktionalisten, die eher der freien Macht des Marktes vertrauten, wenn  man sie nur von ihren staatlichen Fesseln löse. Am Ende stand, wie so  häufig, ein Kompromiss.

Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957 in  Rom sah vor, Kontingentbeschränkungen – also Höchstmengen handelbarer  Güter – zwischen den EWG-Mitgliedstaaten abzuschaffen, interne  Zollschranken zu beseitigen und eine gemeinsame Außenhandelspolitik zu  fahren, indem ein einheitlicher Außenzoll erhoben wurde. Zudem wurde die  Freiheit von Menschen, Waren und Kapital gewährleistet – die  grundsätzlichen Freiheiten, die die europäische Integration ausmachen  und die vor allem mit Gründung der Europäischen Union zentral in den  Fokus rücken sollten.

Doch die EWG war nicht die einzige Gemeinschaft, die 1957 in Rom  gegründet wurde. Gleichzeitig gründete man auch die europäische  Atombehörde, EURATOM, in der Erwartung, dass die Nuklearenergie die  Schlüsseltechnologie des 20. Jahrhunderts werden würde. Unter Aufsicht  der EURATOM fand in den kommenden Jahrzehnten ein beispielloser, von  gigantischen Subventionen betriebener Ausbau der Nuklearenergie statt –  eine technologische Sackgasse, an der noch viele Nachfolgegenerationen  zu knapsen haben werden.

Am bedeutendsten für den weiteren Fortgang der europäischen  Integration aber ist das dritte große Abkommen der römischen Verträge,  das „Abkommen über gemeinsame Organe der europäischen Gemeinschaften“.  Denn aktuell existierten nun mit EWG, EGKS und EURATOM bereits drei  voneinander reichlich unabhängige Verbünde, die jeweils offen für  Beitritte anderer europäischer Nationen und Assoziierungen derselben  waren (Griechenland etwa assoziierte sich 1961 mit der Europäischen  Gemeinschaft).

Das Abkommen über gemeinsame Organe sah daher vor, die einzelnen  Verbünde zusammenzuschließen und eine „Europäische Gemeinschaft“ zu  gründen und dadurch den Plural der „Gemeinschaften“ quasi überflüssig zu  machen. Hierzu waren ein gemeinsames Parlament, ein Gerichtshof und ein  Wirtschafts- und Sozialausschuss einzurichten.

Aufmerksame LeserInnen dürften sich jetzt am Kopf kratzen. Wurde ein  europäischer Gerichtshof nicht bereits 1947 eingerichtet? Aber ja. Aber  dabei handelt es sich um den Gerichtshof des Europäischen Rats, der 1946  gegründet worden war, mit dem Ziel, die Werte Europas zu verteidigen.  Wir kennen diesen Gerichtshof als den Europäischen Gerichtshof für  Menschenrechte (EGMR), während die neu gegründete Institution der  Europäische Gerichtshof (EuGH) ist, der zuletzt mit dem „ultra  vires“-Urteil zur EZB für Aufregung sorgte.

Verwirrt? Das ist noch nichts gegen das, was folgen wird. Daher noch  einmal zur Klarstellung. Es existiert der Europäische Rat, eine lose  Ansammlung europäischer Staaten zur Garantie der Menschenrechte. Dann  existiert die Westeuropäische Union, ein ursprünglich gegen Deutschland,  nun gegen die Sowjetunion gerichtetes Militärbündnis der  westeuropäischen Staaten, dem auch Deutschland beitreten würde und das  2011 abgewickelt wurde. Die römischen Verträge gründeten die zudem die  Europäischen Gemeinschaften (man beachte den Plural), in denen die EGKS,  die EWG und die EURATOM sowie der EuGH und der gemeinsame Ausschuss  sowie das zu gründende Parlament vertreten waren.

Kenner der Materie werden jetzt darauf verweisen, dass ein  europäisches Parlament ja bereits seit 1952 existierte. Als „Gemeinsame  Versammlung“ nahm es Kontrollfunktionen innerhalb der EGKS wahr, ohne  aber allzuviele Merkmale eines Parlaments zu besitzen. Man orientierte  sich dabei an der 1949 gegründeten Parlamentarischen Versammlung des  Europarats. Die Gemeinsame Versammlung, deren Mitgliederzahl angesichts  der Römischen Verträge vervielfacht wurde und die nun für alle  Europäischen Gemeinschaften (Plural) zuständig war, gab sich den Namen  „Europäisches Parlament“, was die Mitgliedsstaaten als Anmaßung  empfanden und erst 1986 (!) offiziell anerkannten. Von Beginn an musste  das EP sich also seine Mitwirkungsrechte hart erkämpfen und eigene  Präzedenzfälle schaffen.

Wenn also jemand hofft, in eine frühere, unkompliziertere Zeit der  Europäischen Gemeinschaft zurückgehen zu können, sollte diese Person  spätestens jetzt enttäuscht sein. Oh, übrigens, im englischen und  skandinavischen Sprachraum werden die Europäischen Gemeinschaften  (Plural) als „common market“ bezeichnet, weil warum auch eine einheitliche Terminologie verwenden. Nur falls sich jemand fragt, was es damit auf sich hat.

Vive la France

1958 war jedoch nicht nur wegen der Selbsternennung der Gemeinsamen  Versammlung in „Europäisches Parlament“ ein wichtiges Datum, sondern  wegen der schweren Krise der Vierten Republik in Frankreich. Diese  zerbrach 1958 an allerlei innen- und außenpolitischen Gründen (unter  anderem die Entwicklungen in Vietnam und Algerien, aber sicherlich nicht  nur), und die fünfte Republik wurde von und unter ihrem ersten  Präsidenten Charles de Gaulles aus der Traufe gehoben.

Damit begann ein fundamentaler Kurswechsel in den Europäischen  Gemeinschaften (Plural). Der eigentliche Auftrag, sich binnen kurzer  Frist in eine Europäische Gemeinschaft (EG) zu verwandeln, war plötzlich  hinfällig. Die Franzosen stellten sich quer. Es sollte daher bis 1993  (!) dauern, ehe die Europäischen Gemeinschaften offiziell zur  Europäischen Gemeinschaft verschmolzen, was angesichts der Gründung der  Europäischen Union 1995 eigentlich nur noch als Schildbürgerstreich  gesehen werden kann. Glücklicherweise focht die französische Haltung  weder PolitikerInnen noch JournalistInnen noch BürgerInnen an, die  munter den Singular zu verwenden begannen. Wir werden es im Folgenden  gleich halten und von der Europäischen Gemeinschaft (EG) reden, und nur  in Ausnahmefällen die Einzel-Gemeinschaften benennen.

Noch 1957 konnte Frankreich in den Verhandlungen der Römischen  Verträge einen Triumph feiern: Als Preis für die weitgehende Aufhebung  von Zöllen und Kontingentbegrenzungen, die die aufstrebende Exportnation  Deutschland begünstigen würden, handelte Frankreich die praktisch nur  es bevorzugunde Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) aus. Diese gigantische  Umverteilungsmaschine beschäftigt die EU mit wahnwitzigen Folgen bis  heute.

Doch zu Beginn der 1960er Jahre begann eine scharfe Kehrtwende in  Frankreich. Noch 1961 machte das Land Vorschläge zu einer Europäischen  Politischen Union (EPU), die eine Wiederbelebung der 1952-1954  gescheiterten EVP sowie eine vertiefte Integration auf allen Ebenen mit  sich gebracht hätte – quasi das politische Gegenstück zur EWG. Doch  bevor die Deutschen es ablehnen konnten – und gerade Ludwig Erhard  wehrte sich verbissen, während Adenauer etwas aufgeschlossener war –  schob de Gaulle 1962 eine überarbeitete Version nach, die praktisch  nichts mehr mit dem ersten Entwurf gemein hatte und mit einer Art  Rückabwicklung der Gemeinschaften hausierte; gleichzeitig sollten  bilaterale Abkommen gestärkt werden. Ein Artefakt dieser Zeit ist denn  auch der 1963 geschlossene und eher irrelevant gebliebene  Elysée-Vertrag.

Gleichzeitig stand zu dieser Zeit die bereits seit der Genese in den  frühen 1950er Jahren geplante Erweiterung der EG in Richtung  Großbritannien, Irland und Skandinavien an. Mit allen Kandidaten wurden  Beitrittsgespräche geführt, der Beitritt schien 1963 nur noch eine  Formsache zu sein. Da platzte Charles de Gaulle mit einem Veto  Frankreichs die Party: Großbritannien durfte nach dem Willen Paris‘  nicht der EG beitreten. Ohne den Inselstaat allerdings wollten auch  Dänemark und Irland nicht mitmachen, fürchteten sie doch, zwischen den  mächtigen Interessen Deutschlands und Frankreichs zerrieben zu werden.  Auch Norwegen hielt sich zurück.

Doch die größte Krise erlebte die junge EG zwischen 1965 und 1966  über die „Politik des leeren Stuhls“ über, wie sollte es anders sein,  die gemeinsame Agrarpolitik. Diese war erst einige Jahre alt, aber die  gewaltigen Kosten sorgten bereits für Verstimmungen. Deswegen sollte,  beginnend 1966, ein geändertes System eingeführt werden. Zum einen  würden die Außenzölle voll zur Finanzierung herangezogen werden, zum  anderen aber das Europäische Parlament Mitbestimmungsrechte im  EU-Haushalt (und damit der GAP) erhalten und, das war entscheidend, die  Konsensfindung im Ministerrat vom Einstimmigkeitsprinzip auf eine  Zwei-Drittel-Mehrheit umgestellt. Da Frankreich aber nicht über ein  Drittel der Stimmen verfügte, würde es Beschlüsse der anderen fünf  Länder nicht wie bisher blockieren können. De Gaulle zog daher die  französischen Vertreter aus den EG-Institutionen ab, die immer noch nach  dem Einstimmigkeitsprinzip funktionierten. Damit war die EG de facto gelähmt und handlungsunfähig.

Die Krise wurde zwar 1966 im Luxemburger Kompromiss beigelegt. Jedoch  setzte dieser einen folgenschweren Präzedenzfall. Zwar wurde die  Mehrheit für Beschlüsse nicht angetastet und die EG entsprechend  reformiert. Aber gleichzeitig wurde ein Beschluss hinzugefügt, dass in  Kernfragen nationalen Interesses ein Staat „nicht ohne Weiteres“  überstimmt werden dürfe und mit dem Ziel der Einstimmigkeit weiter  verhandelt werden müsse. Diese Entscheidungsstruktur würde die EG und  später EU, gerade aufgrund der wachsenden Mitgliederzahl, immer wieder  lähmen und bestimmte auch alle weiteren Vertragsreformen, wie wir noch  sehen werden.

Der Luxemburger Kompromiss änderte gleichwohl wenig an de Gaulles  ablehnender Haltung zu Großbritanniens Beitritt; auch ein weiteres  Eintrittsgesuch des Inselstaats wurde 1968 mit einem Veto verhindert.  Erst de Gaulles Rücktritt 1968 – zufälligerweise auch das Jahr der  Vollendung des Binnenmarktes und der Europäischen Gemeinschaften –  machte den Weg in diese Richtung frei.

Zwar waren auf dem Weg dorthin noch diverse Hindernisse auszuräumen.  So mussten die Tories in Großbritannien den Widerstand Labours (!) zum  Eintritt überwinden; auch in Dänemark und Norwegen gab es erbitterte  innenpolitische Streitigkeiten über die Frage des Beitritts. Norwegen  griff zum Instrument des Referendums, um den Konflikt aufzulösen; wie in  einem weiteren Anlauf 1994 beschied eine knappe Mehrheit der Norweger  aber abschlägig. Bis heute ist das Land daher nicht Mitglied. Dänemark,  Großbritannien und Irland traten daher in einer ersten Erweiterungsrunde  1973 der EG bei, die damit neun Mitglieder hatte – und mit Irland auch  zum ersten Mal ein Land, das nach den Standards der anderen Mitglieder  als deutlich unterentwickelt gelten musste.

Die Aufgabe der Blockadehaltung seitens Frankreich und die  Erweiterung der EU in Richtung Norden waren jedoch kaum angetan, in der  EG großen Reformergeist zu wecken und die Integration weiter  voranzutreiben. Der Anbruch der 1970er Jahre war mit einer Dauerkrise  verknüpft, die ich die „Große Krise des Westens“ nenne. Nie schien das  Modell des Ostblocks so attraktiv und als Alternative wie in den 1970er  Jahren, nie zweifelten die westlichen Länder so sehr an der  Überlegenheit ihres Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells. Es kommt  nicht von ungefähr, dass Reagan, Thatcher und Kohl um 1980 alle mit dem  Versprechen auf eine geistig-moralische Wende der ein oder anderen Art  reüssierten. Auch die EG konnte von dieser Krise nicht unbeeinträchtigt  bleiben.

Die große Krise des Westens

Das erste dieser Krisenphänomene wurde bereits Ende der 1960er  sichtbar. Die USA, deren Währung, der Dollar, als Leitwährung der Welt  fungierte, gerieten unter anderem wegen der gigantischen Ausgaben für  den Vietnamkrieg in schwierige finanzielle Fahrwasser. Den europäischen  Staaten war aber klar, dass sie für eine Welt der frei schwankenden  Währungen zu schwach waren. Auf britische Initiative (!) hin begannen  deswegen ab 1969 Überlegungen zu einer europäischen „Wirtschafts- und  Währungsunion“ (WWU), die Europa unabhängiger von der Politik der  amerikanischen Notenbank machen sollten.

Dieser ersten WWU allerdings war keine lange Lebensdauer beschieden.  Es klingt vertraut, aber den europäischen Staaten fehlte eine  Koordination ihrer Wirtschafts- und Währungspolitik. Zu disparat waren  die verschiedenen nationalen Ansätze, zu schwierig die nationalen  Egoismen zu überkommen. Als 1973 der Jom-Kippur-Krieg ausbrach und die  OPEC-Staaten mit ihrem Ölembargo gegen den Westen einen riesigen  inflationären Druck aufbauten (der gleichzeitig zu dem erwähnten  wirtschaftlichen Aufschwung der Sowjetunion beitrug, die plötzlich mehr  Devisen für Ölexporte einnehmen konnte), brach das System wieder in sich  zusammen. Gleichzeitig beerdigten die USA offiziell das System von  Bretton Woods.

In allen EG-Staaten stieg erstmals die Arbeitslosigkeit. Der Westen  war in einem neuartigen Phänomen gefangen, das damals zwar beschrieben,  aber nicht verstanden wurde: Stagflation, das gleichzeitige  Zusammenfallen von Inflation und wirtschaftlicher Stagnation. Nach der  herrschenden Lehre war dies eigentlich unmöglich. Auch hier ergibt sich  eine spannende Parallele zu heute, wo in allen westlichen Staaten zwar  eine ungeheuer expansive Geldpolitik gefahren wird, diese aber von  realwirtschaftlichen Effekten praktisch losgekoppelt ist – ohne dass  klar wäre, warum oder wie lange der Zustand anhalten wird.

Anstatt sich auf eine Neuauflage der WWU zu konzentrieren, kochten  alle EG-Staaten erst einmal ihr eigenes Süppchen. Das funktionierte in  etwa so gut, wie die Befürworter der WWU sich das vorgestellt hatten,  will heißen: gar nicht. Aber die Energien der EG wurden in dieser Zeit  völlig durch zahlreiche kleine und kleinste Streits in Anspruch  genommen, die – wegen der von Frankreich 1966 durchgesetzten weiteren  Gültigkeit des Einstimmigkeitsprinzips – nur durch teure Ausgleiche zu  leisten war. Der Ruf der EU, ihre Probleme durch „faule Kompromisse“ und  massive Subventionen in einer aufgeblähten Bürokratie zu lösen, stammt  aus dieser Ära. Die EG konnte es sich allerdings auch leisten; mit  Ausnahme Irlands waren alle Mitgliedsstaaten leicht in der Lage,  zusätzliche Ausgaben für den europäischen Hausfrieden zu stemmen und  gleichzeitig ein ärmeres Mitglied zu alimentieren. Dies sollte  spätestens ab 2004 nicht mehr möglich sein.

Gleichzeitig trat die GAP immer mehr in den Vordergrund. Bis zu 90%  des EG-Haushalts wurden in den 1970er Jahren durch die immer weiter  steigenden Kosten der Agrarsubventionen verschlungen. Gleichzeitig wurde  sie angesichts des zunehmenden Welthandels und der Unabhängigkeit  praktisch aller europäischen Kolonien immer weniger rechtfertigbar, ein  Problem, das bis heute allerdings nicht zu ihrer Abschaffung geführt  hat. Fairerweise muss man wohl anmerken, dass die oben beschriebene  Selbstblockade der EG auch dazu führte, dass die meisten europäischen  Initiativen und Fördermaßnahmen außerhalb der EG abliefen, so dass die  90% relativ zwar hoch, absolut aber im Vergleich zum heutigen  europäischen Haushalt bei weitem nicht so ausufernd sind. Gleichwohl  konnte man sich in den 1970er Jahren des Eindrucks kaum erwehren, die EG  sei hauptsächlich zur Subventionierung eines eigentlich nicht  wettbewerbsfähigen Primärsektors da.

Wiederbelebung des deutsch-französischen Motors

Gegen Ende der 1970er Jahre erlaubte allerdings ein erneuter  Regierungswechsel in Frankreich eine Wiederbelebung des  deutsch-französischen Motors des europäischen Einigungsprozesses. Es ist  an dieser Stelle vielleicht generell angebracht, die generelle  Bedeutung zweier Phänomene hervorzuheben.

Das wäre auf der einen Seite die Innenpolitik der Mitgliedsstaaten.  Wenn in einem EG-Staat innenpolitisch die Opposition gegen die EG  gewinnbringend ist, wird die jeweilige Politik das üblicherweise für  sich nutzen. Und sie ist praktisch immer gewinnbringend. Das führte  unter anderem zu der bis heute üblichen unseligen Sitte, Entscheidungen  an die EG/EU zu delegieren, für die man selbst die Verantwortung nicht  übernehmen will. Man denke nur an das Glühbirnenverbot.

Auf der anderen Seite ist aber auch wahnsinnig wichtig, wer in den  entscheidenden Mitgliedstaaten gerade an der Regierung ist. Wenn das  jeweilige Regierungspersonal gegenüber der europäischen Integration  aufgeschlossen ist, sind wesentliche Schritte möglich. Wenn nicht, kommt  die EU praktisch nicht voran. Und hier gibt es, anders als beim Problem  der auf die EG durchschlagenden Innenpolitik, eine klare Hierarchie  innerhalb Europas. Denn nur die großen Staaten spielen hier eine Rolle.  Wenn Slowenien an weiteren Integrationsschritten integriert ist und für  diese wirbt, ist das bedeutungslos. Wenn Frankreich es tut, zwingt es  die anderen zur Positionierung. Deswegen sind etwa die Merkel-Jahre in  dieser Hinsicht auch so verlorene Jahre.

Gleichzeitig ist es aber notwendig, dass solche Regierungen auf  befreundete Regierungen in den anderen mächtigen Mitgliedstaaten stoßen.  Wie wir aktuell sehen können, ist ein reformfreudiger, die Integration  vorantreibender Macron machtlos, wenn eine blockierende Merkel sein  Gegenüber ist. Nur wenn in den relevanten Staaten integrationswillige  PolitikerInnen gleichzeitig an der Macht UND willens zur Zusammenarbeit  sind, wird etwas passieren.

Ende der 1970er aber ergab sich genau diese Konstellation. In  Deutschland regierte Helmut Schmidt, während in Frankreich ein  Konservativer namens Giscard d’Estaing an die Macht kam. Man sollte  nicht annehmen, dass diese unterschiedlichen Charaktere – hier ein  Sozialdemokrat, dort ein verkappter Aristokrat – sonderlich gut  zusammenarbeiten würden, aber genau das war der Fall. Die Konstellation  sollte sich durch einen historischen Glücksmoment in der überraschenden  Freundschaft zwischen dem bräsigen Konservativen Kohl und dem  sozialistischen Lebemann Mitterand wiederholen. Parteiüberlappungen  jedenfalls scheinen wenig Aussage dafür zu haben, ob zwei Länder  miteinander klar kommen. Schröder verstand sich super mit dem  Erzkonservativen Chirac, während weder Merkel etwas mit ihrem  Parteifreund Sarkozy noch die mitregierende SPD später etwas mit ihrem  ostentativen Verbündeten Hollande anfangen konnte.

Doch Schmidts und d’Estaings gutes Verhältnis erlaubte 1979, gerade  rechtzeitig zur zweiten Ölkrise, einen zweiten Anlauf für die WWU.  Angesichts des Scheiterns der WWU sechs Jahre zuvor backte man dieses  Mal kleinere Brötchen. Die EG-Staaten vereinbarten das Europäische  Währungssystem (EWS), das bestimmte Wechselkurse festlegte, anhand derer  eine Art „Band“ definiert wurde, innerhalb dessen sie schwanken  durften. Dieses Band wurde mit +/- 2,5% angesetzt. Verlor also etwa der  Franc um mehr als 2,5% gegenüber der Mark, würde die Bundesbank Franc  kaufen; gewänne die Mark gegenüber dem Franc um mehr als 2,5%, verkaufte  die französische Notenbank Mark – um das System stark vereinfacht  darzustellen.

Gleichzeitig wurde auch eine gemeinsame Verrechnungseinheit  eingeführt, die European Currency Unit (ECU). Für sie gab es kein  Bargeld, und praktisch niemand bezahlte seine Rechnung in ECU, aber die  Verrechnungswährung bewährte sich und gab der Finanzbranche wie den  Notenbanken wertvolle Erfahrung mit einer gemeinsamen Währung, die  später in das Euro-Projekt einfließen sollten und dieses auch nachhaltig  prägten – vor allem was den starken Fokus auf der Stabilität der  Währung anbelangte.

Demokratisierung, die erste

Doch nicht nur auf der Ebene der Gipfeldemokratie bewegte sich Ende  der 1970er Jahre etwas in der EG. Im Jahr 1979 fand neben der Einführung  des EWS auch die erste Direktwahl des Europäischen Parlaments statt.  Die Mitglieder der Institution waren bislang von den Landesparlamenten  gewählt und entsandt worden, in einem Prozess, der der Wahl der  Bundesversammlung in Deutschland nicht unähnlich ist und auch  entsprechend wichtig gesehen wurde – will heißen, rein symbolisch.  Dieses unbestreitbare Defizit an demokratischer Legitimation sollte  durch eine Direktwahl des Parlaments ausgeräumt werden.

Man hoffte dadurch auch, ein bisschen mehr Europa-Gefühl in der  Bevölkerung verankern zu können. Denn die Abgeordneten im Europäischen  Parlament sitzen nicht nach Ländern, sondern allein nach Fraktionen  getrennt. Der Schönheitsfehler der Operation ist der Mangel an einem  europäischen Wahlrecht; innerhalb der Mitgliedsstaaten wählt jedes Land  selbst, so dass die gewählten Abgeordneten erst nach der Wahl mit ihren  europäischen Mutterparteien verschmelzen und selbige in der öffentlichen  Wahrnehmung praktisch keine Rolle spielen, ein Konstruktionsfehler, der  bis heute Bestand hat und zu den dringlicheren Reformaufgaben der  europäischen Demokratie gehört.

Doch diese Öffnung der EG gegenüber ihren eigenen Bürgern war bei  weitem nicht die einzige Demokratisierungsbewegung jener Epoche. In  Griechenland, Spanien und Portugal fielen in den 1970er Jahren die  faschistischen Diktaturen, die diese Länder bis dato regiert hatten –  weitgehend friedlich und ohne, wie viele befürchtet hatten, den  Verlockungen des Sozialismus östlicher Prägung anheim zu fallen.

Gleichwohl war den EG-Staaten sehr wohl bewusst, wie Jahrzehnte der  Unterdrückung und Unterentwicklung diese Staaten gegenüber dem Rest  Europas hatten zurückfallen lassen. Spanien etwa war schon während des  Bürgerkriegs in den 1930er Jahren relativ zu Deutschland oder Frankreich  unterentwickelt gewesen; beim Tod Francos 1975 betrug sein  Pro-Kopf-Einkommen gerade ein starkes Drittel im Vergleich zu  Deutschland. Ähnlich sah die Lage in Griechenland aus; in Portugal war  sie fast noch trostloser, und das Land musste zudem eine gewaltige  Flüchtlingswelle aus seinen in den 1970er Jahren unabhängig werdenden  Kolonien absorbieren, hatte es doch in den Jahrzehnten zuvor eine aktive  Siedlungspolitik betrieben. Diese Siedler waren nun in Afrika  unerwünscht, aber noch nie in Portugal gewesen und bitterarm.

Die Situation war also, um es milde auszudrücken, volatil.  Griechenland stellte als erstes dieser frisch demokratisierten Länder  1975 einen Aufnahmeantrag und die EG damit vor eine Grundsatzfrage. War  man vor allem eine Wirtschaftsgemeinschaft? In dem Fall war die Aufnahme  Griechenlands und, perspektivisch, auch die Spaniens und Portugals zum  gegenwärtigen Zeitpunkt sinnlos. Alle drei Länder würden sofort zu  Empfängern sämtlicher Strukturleistungen, würden wegen ihrer  landwirtschaftlichen Struktur erklecklichen Anteil an der GAP haben, auf  spezifischen Feldern Konkurrenz machen (etwa die spanische Fischerei)  und wegen der Freizügigkeit unliebsame Billigkonkurrenz darstellen.

Vor allem die Frage der Förderung war toxisch. Es war praktisch  ausgeschlossen, dass Frankreich den bisher praktisch ihm allein  zufallenden Kuchen der GAP plötzlich teilen würde. Gleiches galt für  unterentwickelte Regionen innerhalb der neun damals aktuellen  EG-Staaten. Würden also die drei südeuropäischen Länder beitreten,  würden diese Hilfen zwangsläufig deutlich ausgeweitet werden müssen,  damit die bisherigen Empfänger ihr Plazet gaben. Und das war angesichts  des Einstimmigkeitsprinzips zwingend notwendig.

Auf der anderen Seite war sehr fraglich, ob die Märkte und  Wirtschaften dieser Staaten dem Konkurrenzdruck gewachsen sein könnten  und überhaupt je eine Entwicklung stattfinden könnte. Für Deutschland  mochte die Aussicht, auf Jahrzehnte Maschinen gegen Oliven einzutauschen  durchaus attraktiv sein; der Außenhandelsbilanz konnte es nur helfen.  Doch die betroffenen Staaten konnten kaum ein Interesse daran haben,  künftig durch die EG in ihren Status betoniert zu werden. Es waren  solche Überlegungen und Konflikte, die die Beitrittsverhandlungen  langwierig machten – auch wenn dieses Mal kein französisches Veto  drohte.

Der Beitritt Griechenlands 1982 zeigte denn auch gleich, wie  berechtigt die Sorgen gewesen waren. Das Land nutzt seinen neuen  Mitgliedsstatus sofort, um die Aufnahme Spaniens und Portugals zu  blockieren, bis die EG diverse Sondervergünstigungen zu gewähren bereit  war. Von der anderen Seite des Leistungsspektrums nahm Großbritannien  1984 unter Thatcher, die mit dem berühmt-berüchtigten Aussprach „I want  my money back!“ einen 40%-igen Rabatt aushandelte, an diesem widerlichen  Spiel teil. Unter Führung Deutschlands und Frankreichs bissen die  anderen Mitgliedstaaten seinerzeit in den sauren Apfel und teilten die  Kosten dieser Rabatte zähneknirschend im Interesse des Großen Ganzen  unter sich auf. Dass dies kein dauerhaftes Rezept für die Zukunft sein  dürfte, war offensichtlich.

Bis 1986 war man dann jedoch so weit, dass auch Spanien und Portugal  Aufnahme fanden und die EG auf 12 Mitglieder erweiterten. Den Ausschlag  hatte letztlich gegeben, dass die Frage, ob die EG ein reines  Wirtschaftsbündnis sei, emphatisch mit „nein“ beantwortet wurde – wie  bereits zu allen früheren Gelegenheiten, zu denen diese Frage gestellt  worden war. Dies sei noch einmal betont.

Die drei südeuropäischen Staaten wurden weder als Absatzmärkte noch  als leistungsstarke Partner aufgenommen. Stattdessen überwogen  politische Argumente. Alle drei waren bis vor kurzem rechtsgerichtete  Diktaturen gewesen. Ihre neuen demokratischen Regime waren frisch und  unerprobt, die Kräfte der Reaktion warteten nur darauf, ihre Chance  wieder zu bekommen – genauso wie die kommunistischen Parteien der  jeweiligen Länder, die dort alle noch Erinnerungen an ihre frühere  Stärke hatten, ehe sie von den Faschisten blutig unterdrückt worden  waren – mit Unterstützung einiger der jetzigen EG-Staaten (Deutschland,  Italien), fallen gelassen von einigen anderen (Großbritannien,  Frankreich), dagegen unterstützt von der Sowjetunion.

Das Gespenst einer Mitgliedschaft Spaniens im Warschauer Pakt war  zwar nicht sonderlich real, aber für die beteiligten PolitikerInnen  trotzdem ein Albtraum – und sozialistische, blockfreie Diktaturen nach  dem Vorbild Jugoslawiens waren nicht eben dazu angetan, die Integrität  sowohl Europas als auch der NATO zu verbessern. Es waren diese (durchaus  realen) Befürchtungen, die den Ausschlag zur Aufnahme der Südeuropäer  in die EG gaben. Ähnliche Motive sollten später bei der laxen  Betrachtung der Aufnahmekriterien für den Euro erneut eine Rolle  spielen.

Ab Mitte der 1980er Jahre nahm die Reformdebatte innerhalb der EG  wieder an Fahrt auf. Maßgeblich war einmal mehr Frankreich, dieses Mal  in Form des Kommissionspräsidenten Jacques Delors. Er entwarf 1985  Vorschläge für eine tiefgreifende Reform der EG mit der expliziten  Zielsetzung der Vollendung des Binnenmarkts. Dieser war seit 1957 das  Fernziel der EWG gewesen, genauso wie die Überführung der Europäischen  Gemeinschaften (Plural) in eine Europäische Gemeinschaft (Singular).  Aber Delors ging noch weiter als nur den Binnenmarkt vervollständigen zu  wollen. Der Prozess, den er in Gang setzte, sollte innerhalb nur eines  Jahrzehnts nicht nur die Europäische Gemeinschaft schaffen, sondern sie  auch gleich durch etwas viel Größeres ersetzen – eine Europäische Union.

Pacta sunt servanda

Der Ansatz, den Delors und bald auch die die Vorschläge mittragenden  und ausbauenden Deutschen wählten, war ein Geflecht völkerrechtlicher  Verträge, die die verschiedenen Zielsetzungen miteinander  zusammenschnüren sollten. Dieses Vertragsbündel erhielt den Namen  Einheitliche Europäische Akte (EEA) und wurde 1987 final verabschiedet  (nachdem Dänemark ein Referendum darüber abgehalten hatte).

Die EEA erforderte einerseits das Erreichen des europäischen  Binnenmarkts bis 1992. Hierzu mussten sämtliche bestehenden Hindernisse  für den freien Verkehr von Waren abgebaut, Standards vereinheitlicht und  viele andere Details harmonisiert werden. Es ist etwas, das die  Kernkompetenz der EU darstellt und worin sie seither wieder und wieder  brillierte: Aus einer zweistelligen Zahl hoch komplexer  einzelstaatlicher Regulierungen ein insgesamt kohärentes Ganzes zu  machen, das den Akteuren auf dem freien Markt maximale Rechtssicherheit  bietet.

Die gemeinsamen Standards vergrößern den potenziellen Markt für einen  Hersteller deutlich. Man sieht dies nirgendwo so gut wie am Beispiel  des gescheiterten Freihandelsabkommens mit den USA: Eine große Hoffnung  vieler Unternehmen beiderseits des Atlantiks war die Vereinheitlichung  der Standards. So können etwa in Europa hergestellte Autos nicht in den  USA verkauft werden, weil einige unbedeutende Spezifikationen nicht den  dortigen Regularien genügen (und umgekehrt), was die Hersteller zu einer  Produktion für den lokalen Markt zwingt. Das sind Friktionskosten, die  jedes Unternehmen gerne vermeiden würde. Und das Vermeiden dieser Kosten  ist bis heute einer der größten Anreize für den Beitritt zur EU, oder  der Assoziierung mit ihr.

Aber die EEA schuf noch weit mehr als nur den gemeinsamen Markt,  wenngleich der für viele Teilnehmer (man denke nur an Großbritannien und  seine obsessive Konzentration auf den „common market„) der  ausschlagende Grund. Wesentlich folgenreicher sollte die Verpflichtung  auf die so genannten Konvergenzkriterien sein. In der EEA wurden sie nur  als Zielsetzung ausgegeben, aber bereits im Vertrag von Maastricht in  Zahlen gegossen. Wir werden an dieser Stelle zu ihnen zurückkommen.

Die EG verstand sich aber einmal mehr – dies sollte sich mittlerweile  klar als Leitmotiv herausgestellt haben – nicht nur als wirtschaftliche  Verbindung. Die EEA gab ihr explizite neue Aufgabenfelder. So sollte  die EU künftig eine eigene, europäische Forschungs-, Technologie-,  Umwelt- und Sozialpolitik betreiben. In diesem Kontext ist auch der  französische Vorstoß zur Ausweitung der Europäischen Politischen  Zusammenarbeit (EPZ) zu verstehen. Delors war klar, dass die  Konvergenzkriterien nur dann sinnvoll implementierbar waren, wenn eine  Angleichung des gesamten europäischen Wirtschaftsraums erfolgte. Auch in  Deutschland wurde diese Einsicht damals noch geteilt, anders als in den  2000er und 2010er Jahren.

Die EEA sah vor, auch die gemeinsame Außenpolitik zu vereinheitlichen  – ein Problem, mit dem die EU bis heute kämpft. Gleichzeitig zeigte  sich die EG unfähig, den in Jugoslawien 1991 ausbrechenden Bürgerkrieg  einzuhegen oder eine konstruktive Rolle zu spielen – mit großen  destabilisierenden Folgen für die Region. Auch dem Zusammenbruch des  Ostblocks stand die EG weitgehend ohne gemeinsame Position gegenüber.

Zuletzt machte sich die EG in der EEA an eine Reform ihrer eigenen  Institutionen. So wurden etwa die Rechte des Parlaments einmal mehr  gestärkt, das Abstimmungsverfahren im Rat wurde geändert und vieles  mehr. Diese Reformen sollten sich als essenziell erweisen, als der  Zusammenbruch des Ostblocks ab 1990 neue Beitrittsperspektiven eröffnete  und das Einstimmigkeitsprinzip sich endgültig nicht mehr  aufrechterhalten ließ.

Maastricht

Quasi direkt im Anschluss an die EEA begannen die Arbeiten daran,  ihre Zielsetzungen umzusetzen. Konkret mussten Regelungen für die  Konvergenzkriterien gefunden, die politische Zusammenarbeit verbessert  und endlich eine Union gegründet werden – Ziele, die die EEA direkt und  verbindlich vorgegeben hatte. Aus außenpolitischen Gründen, auf die im  nächsten Abschnitt noch genauer eingegangen werden wird, hatten alle  Beteiligten ein äußerstes Interesse daran, diese Ziele so schnell wie  möglich zu erreichen. Uns soll an dieser Stelle interessieren, welche  Ergebnisse die Verhandlungen brachten.

Gleich der erste Artikel des Vertrags von Maastricht zeigt, was die  Kernbedeutung des Vertragswerks war: Die Gründung der Europäischen  Union. Diese wurde als eine Art Dachgesellschaft den bisherigen  Europäischen Gemeinschaften übergestülpt und war keine eigene  Rechtsperson. Weiterhin lagen alle Rechte bei den einzelnen  Gemeinschaften; der EWG, EGKS, EURATOM und so weiter. In einer  Entwicklung, die den geneigten LeserInnen mittlerweile sicherlich  bekannt vorkommt, enthielt der Vertrag von Maastricht einen  Handlungsauftrag an zukünftige Verhandlungen: Die Union durch einen  Verfassungsvertrag endgültig als supranationalen Staatenbund zu  etablieren. Gleichzeitig wurde eine Reihe bereits damals offensichtlich  notwendiger institutioneller Reformen auf spätere Verhandlungsrunden  verschoben.

Aber: Die Union existierte. Und sie existierte als weit mehr als nur  ein Wirtschaftsbündnis. Es tut mir Leid, dass ich auf diesem Punkt so  sehr herumreite, aber da Kritiker von links wie rechts diesen Punkt so  oft bemühen, scheint es wichtig zu sein, darauf hinzuweisen. Der Vertrag  von Maastricht formulierte erstmals die Institutionalisierung einer  Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP, nicht zu verwechseln  mit der Gemeinsamen Agrarpolitik GAP). Bis heute ist der Versuch  Brüssels, eine Antwort auf Kissingers berühmte Frage „Welche  Telefonnummer hat Europa?“ zu geben, ein Stiefkind der Union geblieben.  Zwar gibt es mittlerweile sogar so etwas wie ein europäisches  Außenministerium. Einen Anruf Kissingers sollte man dort allerdings  trotzdem nicht erwarten.

Wesentlich substanzieller ist die dritte Säule Maastrichts (neben der  EG und der politischen Zusammenarbeit): die Zusammenarbeit auf Ebene  der Polizei und Sicherheitsbehörden. Dem einen oder anderen Temposünder  dürfte bereits unangenehm aufgefallen sein, dass ein Knöllchen aus  Frankreich auch in Deutschland vollstreckt wird. Generell ist die EU  zwar noch kein einheitlicher Rechtsraum. Ein einheitlicher  Vollstreckungsraum dagegen ist sie sehr wohl – zumindest noch. Denn dass  das Bundesverfassungsgericht aktuell eine Auslieferung nach Ungarn  unter allen Umständen genehmigen würde, darf als eher zweifelhaft  gelten.

Man sollte das aber nicht  zu negativ auffassen. Die Unionsgründung  schuf auch die Unionsstaatsbürgerschaft, die mithin segensreichste  Einrichtung der EU überhaupt, mit all den damit einhergehenden Rechten.  Das europäische Parlament bekam einmal mehr eine Statuserhöhung und  wurde offiziell mit dem Ministerrat gleichgestellt, wenngleich es nach  wie vor erschreckend wenig Kompetenzen besaß. Und zuletzt wurde mit dem  Protokoll zur Sozialpolitik, das 1997 sogar von der neuen  Labour-Regierung Tony Blairs ratifiziert wurde, der Weg zu einer  Vereinheitlichung von arbeitsrechtlichen Normen und Schutzmaßnahmen  gelegt, die wenigstens die krassesten Ungerechtigkeiten innerhalb der  Union ausgleichen können – angesichts der zu erwartenden  Erweiterungswelle keineswegs zu früh. Zuletzt erhielt die Union die  Kompetenz, eigenständige Kulturförderung zu betreiben.

Am berühmt-berüchtigsten aber ist Maastricht wegen der vertraglichen  Festlegung der Konvergenzkritieren. Der Vertrag von Maastricht gründete  offiziell die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU). In drei Schritten  sollten die Mitgliedstaaten eine gemeinsame Währung, den Euro, einführen  (spätestens 1999 als Buchgeld, was dann auch geschah). Die Teilnahme an  dieser Währung war an die Erfüllung der Konvergenzkriterien geknüpft,  woraufhin (außer für Dänemark und Großbritannien) der Euro-Eintritt  zwingend erfolgen MUSSTE. Nach dem Beitritt zur WWU mussten „nur“ noch  die zwei permanenten Konvergenzkriterien erfüllt werden, die seither für  so viel politische Konflikte sorgten: einerseits eine maximale  jährliche Neuverschuldungsquote von 3% und andererseits eine maximale  Gesamtschuldenquote von 60%. Es ist sicherlich nicht zu viel gesagt,  dass diese Kriterien von sämtlichen Mitgliedstaaten eher als „grobe  Richtlinien“ im Sinne Kapitän Barbossas ausgelegt wurden.

Mit dem Vertrag von Maastricht schuf die EU (zur Abwechslung) einen  neuen Präzedenzfall. Zum ersten Mal galten innerhalb der Union Verträge  nicht für alle Mitgliedsländer gleichermaßen. Es entstand ein „Europa  der zwei Geschwindigkeiten“, das zwar seither nicht mehr in diesem  Umfang benutzt wurde, aber seither in keiner EU-Reformdebatte fehlen  darf. Diese Möglichkeit wurde in Maastricht auch explizit  festgeschrieben.

Abgesehen von weiteren Volksentscheiden (einmal mehr in Dänemark)  erwies sich ausgerechnet das Bundesverfassungsgericht als Hürde für die  Annahme des Vertrags. In einem Grundsatzurteil, das als „Ja,  aber“-Urteil bekannt wurde, erklärte das BVerfG die grundsätzliche  Vereinbarkeit der europäischen Integration mit dem Grundgesetz –  vorausgesetzt, die Demokratisierung der Union halte mit weiteren  Integrationsschritten schritt, und vorausgesetzt, die Souveränität des  Volkes bliebe ultimativ erhalten. Damit behielt sich das BVerfG eine  Veto-Rolle für jeden folgenden Integrationsschritt vor – mit  weitreichenden Folgen.

Die Öffnung des Ostens

Vermutlich wären die vielen Integrationsschritte dieser Zeit nicht  ohne die außenpolitischen Umstände denkbar gewesen, die einen gewaltigen  Handlungsdruck aufbauten. Der Fall des Eisernen Vorhangs 1989 und die  sich anbahnende Wiedervereinigung zwangen die Akteure zu einem ersten  Umdenken bezüglich der Rolle Deutschlands innerhalb der EG; der folgende  Fall des Ostblocks machte eine komplette Neuorientierung der Frage, was  eigentlich „Europa“ war, erforderlich. Bislang hatte für die EU das  Adenauer’sche Diktum gegolten, nach dem hinter der Elbe Asien anfing.  Nun fing Asien frühestens hinter dem Donezbecken an, und wenn man die  entsprechenden Signale aus der neuen russischen Republik betrachtete,  schien es sogar so, als ob die geographische Grenze des Urals auch die  künftige Grenze Europas sein könnte.

Unmittelbar erlaubte der Zerfall der Sowjetunion und damit der  Nachkriegsordnung die Bereinigung einiger historischer Anomalien.  Finnland, Schweden und Österreich, die aufgrund verschiedener  Nachkriegsabkommen bisher der EG nicht hatten beitreten können, wurden  1995 Vollmitglieder der Europäischen Union. Norwegen optierte in einem  zweiten Referendum erneut dafür, nicht beizutreten. Wie aber im Fall der  Schweiz war das Land durch diverse Abkommen ohnehin bereits stark in  die EU-Strukturen eingebunden.

Zudem erlaubte der Fortgang des Einigungsprozesses, dass die fünf  neuen Bundesländer umstandslos in die EG integriert wurden. Genauso wie  bei ihrer Integration ins NATO-Bündnis gab es auch wenig andere  sinnvolle Optionen. Deutschland war damit allerdings nun der mit Abstand  größte Mitgliedsstaat der EG. Statt wie vorher ungefähr auf derselben  Bevölkerungszahl wie Frankreich, Großbritannien und Italien zu stehen  (zwischen 60 und 70 Millionen Einwohner) besaß es nun ein gutes Fünftel  mehr – rund 82 Millionen.

Dies allerdings brachte die alte Machtfrage zwischen Frankreich und  Großbritannien einerseits und Deutschland andererseits wieder aufs  Tablett und weckte in den Siegerstaaten alte Ängste. Würde das  wiedervereinigte Deutschland danach streben, die Vision von Mitteleuropa  wieder zu beleben und sich als eigenständiger Machtfaktor zwischen Ost  und West zu etablieren, wie es das bereits in Weimar unternommen hatte?  Gleichzeitig war es offensichtlich nicht dauerhaft möglich, Deutschlands  gewachsenes Gewicht zu ignorieren.

Diese Befürchtungen führten dazu, dass Frankreich und Großbritannien  in den 2+4-Verhandlungen darauf beharrten, dass Deutschland seine  Integration in die EG ungebremst fortsetze, ja sogar beschleunige. Die  Wirtschafts- und Währungsunion und vor allem die schnelle Zustimmung  Deutschlands entsprangen maßgeblich diesen politischen Überlegungen. Die  deutsche Ökonomenzunft war, wenig überraschend, kein großer Freund der  WWU und schreib seinerzeit einen offenen Brief mit düsteren Warnungen.

Kohl war jedoch verständiger Politiker genug um zu erkennen, dass  wirtschaftliche Argumente gegenüber den politischen in dieser Situation  klar die zweite Geige spielten. Die Wiedervereinigung hatte nur ein  kurzes Zeitfenster, und dieses musste genutzt werden. Wenn der Preis  dafür der Souveränitätsverlust über die Währung war, so sei es. Man  sollte Kohls Verhandlungsgeschick hier ohnehin nicht kleinreden; die WWU  war eine sehr deutsche Struktur. Letztlich wurde der Aufbau der  Bundesbank den europäischen Partnern übergestülpt, für die er, wie sich  mittlerweile erschöpfend gezeigt hat, nur eingeschränkt geeignet war.  Aber die Zwänge des Augenblicks und die Notwendigkeit zum Kompromiss  ließen kaum eine andere Wahl.

Erweiterung oder Abschottung?

Die größte Herausforderung für die EU lag ohnehin in Osteuropa.  Polen, die neuerdings wieder unabhängigen Baltenstaaten, Tschechien und  die Slowakei, Ungarn, Slowenien, Rumänien und Bulgarien – sie alle waren  nun mehr oder weniger stabile Demokratien geworden, hatten eine  Wirtschaft, gegenüber der die der DDR geradezu paradiesisch wirkte und  blickten entschieden nach Westen. Weißrussland und die Ukraine standen  als künftige Aspiranten ebenso vor der Tür wie Georgien, und Russland  unter Jelzin orientierte sich ebenfalls deutlich in Richtung  Washingtoner Konsens. Gleichzeitig wurde Jugoslawien von einem stetig  eskalierenden Bürgerkrieg zerrissen und hunderttausende von Flüchtlingen  strömten in die EG-Länder, vor allem nach Deutschland. Die Lage war, um  es milde auszudrücken, volatil.

Die neuen Demokratien Osteuropas hatten eine klare Präferenz, wie sie  sich ihre künftige Rolle vorstellten: Sie wollten Mitglieder sowohl der  EU als auch der NATO werden. Gegen beide Bestrebungen gab es heftige  Widerstände. Schnell überwanden waren die gegen die NATO-Mitgliedschaft.  Bis 1997 war in einem Vertrag mit Russland die Grundlage dafür gelegt  worden, dass die osteuropäischen Staaten NATO-Mitglieder werden können  (ein Fakt, das Russland heute genauso gerne vergisst wie die deutsche  Linke). Derselbe Vertrag regelte zudem dauerhafte Rüstungskontrollen und  Konsultationen, deren Ende wir gerade unter den wechselseitigen  Attacken Trumps und Putins begutachten dürfen. Durch diese Entwicklungen  wurde die Westeuropäische Union endgültig zur Makulatur.

Die Mitgliedschaft in der EU dagegen war wesentlich umstrittener. Bis  Mitte der 1990er Jahre hatten die relevanten Nachbarstaaten  Assoziierungsabkommen mit der EU abgeschlossen. Viele  EU-Mitgliedsstaaten waren allerdings bestenfalls lauwarme Unterstützer  einer solchen Erweiterung. Der Grund dafür lag gerade in dem Erfolg der  vorherigen Reformbestrebungen. Die Vollendung des europäischen  Binnenmarkts erlaubte zwar eine freie Bewegung von Waren, was generell  der Exportwirtschaft der EU zugute kommen würde, die erwarten konnte,  eher wenig Waren aus osteuropäischer Fertigung zu importieren.

Die gleichzeitige Freizügigkeit von Arbeit und Kapital aber bedrohte  die Volkswirtschaften und politische Stabilität auch der alten EU. Es  stand schließlich zu erwarten, dass billige osteuropäische Konkurrenz in  diese Länder abwandern und dort vor allem das Handwerk und den  gerinqualifizierten Dienstleistungssektor unter starken Druck setzen  würde. Gleichzeitig war anzunehmen, dass viele Firmen Arbeitsplätze im  produzierenden Gewerbe in die Niedriglohnländer Osteuropas verlagern  würden, wenn durch die Integration dieser Länder in den gemeinsamen  Wirtschaftsraum alle Barrieren fielen.

Letztlich gaben aber auch hier politische und nicht wirtschaftliche  Überlegungen den Ausschlag. Nicht nur war in den 1990er Jahren die  neoliberale Ära in vollem Schwung und propagierte die völlige  Entfesslung des Konkurrenzdrucks der Märkte, so dass das politische  Klima sich ohnehin rapide freundlicher gegenüber diesen Problemen  entwickelte. Wesentlich schwerwiegender war das Argument der  Stabilisierung und Absicherung Osteuropas.

Ähnlich wie bei der Südeuropa-Erweiterung der 1980er Jahre bestand  die Befürchtung, dass die Demokratien Osteuropas sich alleine nicht als  stabil erweisen würden. Die Probleme der Wiedervereinigung alleine  hatten ausreichend gezeigt, in welchem Zustand 40 Jahre kommunistischer  Diktatur die Volkswirtschaften gelassen hatten, und die DDR war ja noch  das Aushängeschild des Ostblocks gewesen waren. Erneut galt es also,  eine größere Bewegung ökonomischer Migration zu verhindern.

Mindestens ebenso wichtig aber war, ein Zurückrutschen dieser Länder  in diktatorische Regierungen zu verhindern. Wie die weitere Entwicklung  der Ukraine und Weißrusslands ausreichend belegen sollte, waren Diktatur  und oligarchische Ausplünderung keineswegs wirre Fieberträume. Einen  ganzen Gürtel von failed states an Europas Ostflanke wollte  aber niemand. So wurde gegen Ende der 1990er Jahre mit Nachdruck auf die  Aufnahme Osteuropas in die EU hingearbeitet. Dabei wurden auch die  Konvergenzkriterien einer ersten Belastungsprobe unterzogen, unter  anderem, weil Deutschland sich in jenen Jahren zum ökonomischen  Problemkind der EU zu entwickeln begann.

Mit nunmehr 25 Mitgliedsstaaten war die Vorstellung, weiterhin nach  dem alten Konsensprinzip operieren zu können, völlig illusorisch  geworden. Auch die Regelung, dass jedes Land in der Kommission zwei  Kommissare stellte, war angesichts eines Exekutivorgans mit 50  Beauftragten wahnwitzig. Auch war dem gestiegenen Gewicht Deutschlands  seit der Wiedervereinigung nicht Rechnung getragen worden. Die  Politische Einheit blieb weiterhin frommer Wunsch, vor allem auf dem  Gebiet einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Entsprechend  fanden sich die EU-Staaten neben der parallelen Herausforderung der  Osterweiterung auch in einer weiteren Runde von Reformgesprächen.

Vive la France, zweiter Anlauf

Diese kulminierten im Jahr 2000 in dem Vertrag von Nizza. Praktisch  von seiner Unterzeichnung an galt das Vertragswerk als Fehlschluss, war  ungeliebtes Kind und machte eine sofortige weitere Verhandlungsrunde  erforderlich. Zwar schaffte Nizza es, das Einstimmigkeitsprinzip mit  wenigen Ausnahmen (vor allem Außenpolitik) zu beseitigen. Aber die  gewählten Gewichtungen waren willkürlich und stellten niemand zufrieden,  weswegen das Prinzip der doppelten Mehrheit ersonnen und in den  Verfassungsvertrag übernommen wurde.

Die Europäische Verfassung war der logische Endpunkt der Entwicklung.  Die Europäischen Gemeinschaften (Plural) und die anderen Säulen der EU  waren immer noch formal souverän gegenüber der „Dachgesellschaft“ der  Europäischen Union. Diese musste eine eigene juristische Person werden,  was dann auch gleichzeitig die zersplitterten Gemeinschaften darunter  ablösen würde. Da die Union eine Staatsbürgerschaft, einen Haushalt und  ein Parlament besaß und den Anspruch formuliert hatte, eine „immer  engere Union“ (ever closer union) zu werden, war ein Verfassungsvertrag nur logisch.

Dieser Vertrag wurde 2005 von den Mitgliedsstaaten ausgehandelt. In  vielen Staaten wurde er auch ratifiziert, doch für die betroffenen  Regierungen überraschend heizte sich in Frankreich und den Niederlanden,  wo zu seiner Annahme (anders als etwa in Deutschland) eine  Volksabstimmung notwendig war, eine stark polarisierte Grundstimmung an.  In einer Vorwegnahme zum Brexit-Votum von 2016 hatte der  überparteiliche Konsens zur Annahme des Vertrags eine bestenfalls  lauwarme Werbekampagne für die Verfassung gestartet, während eine  hochmotivierte Querfront aus Gegnern das Werk knapp zu Fall bringen  konnte.

Für das europäische Projekt war die Ablehnung des Verfassungsvertrags  ein schwerer Schlag. Die Hoffnung, die europäische Integration auf eine  neue Stufe heben zu können, hatte sich vorerst zerschlagen.  Gleichzeitig waren die institutionellen Reformen dringender denn je,  denn die strukturelle Unmöglichkeit der Entscheidungsfindung und das  weitere parallele Bestehen verschiedener Institutionen machten die  Reformen des Verfassungsvertrags unerlässlich. Wir werden die konkreten  Ergebnisse Lissabons später begutachten, wenn wir das politische System  der EU unter die Lupe nehmen, denn der Vertrag definiert das aktuelle  institutionelle Zwischenspiel.

Deswegen griffen die Regierungen zu dem Mittel, einen „normalen“  Vertrag abzuschließen, der die relevanten Punkte enthielt. Dieser wurde  in Lissabon geschlossen und 2009 von allen Mitgliedsstaaten ratifiziert –  ohne Volksabstimmungen. Dieser Weg war zwar formal korrekt und nicht zu  beanstanden, aber der Eindruck, dass das Votum der Wahlbevölkerung  keine Rolle spielte und gegebenenfalls einfach erneut abgestimmt wurde  (wie dies in Irland geschehen sollte) oder aber durch Manöver wie den  Lissaboner Vertrag die Zustimmung ganz umgangen wurde, trugen nicht eben  zur Vertrauensbildung in der EU bei. Zudem besitzt die EU damit bis  heute keine Verfassung.

Die Finanzkrise

Doch solche vergleichsweise luftigen Probleme traten zur Zeit der  Ratifizierung des Lissabonner Vertrags bereits in den Hintergrund. 2007  begann die Subprime-Krise in den USA, die mit der Pleite des  Branchenriesen Lehman Brothers, der sich die Bush-Regierung in einem  Versuch, sich der „too big to fail„-Logik zu entziehen, nicht  entgegenstellte, im Jahr 2008 ihre entscheidende Wegmarke erreichte.  Ohne die Möglichkeit, geldpolitisch auf die Krise zu reagieren, mussten  die Eurostaaten den Auswirkungen zwangsläufig fiskalpolitisch  entgegentreten – was nur durch eine steigende Staatsverschuldung und  damit eine de-facto Aussetzung der Maastricht-Regeln erreicht werden  konnte.

Die Finanzkrise traf die europäischen Staaten auf unterschiedliche  Art. Manche waren primär betroffen. Das waren etwa Spanien, Italien,  Irland und Griechenland, wo analog zur amerikanischen Krise die  Kreditvergabe die Leistungsfähigkeit der Realindustrie überschritten  hatte. Andere Staaten wie Deutschland waren sekundär betroffen, weil es  ihre Banken waren, die diese gewaltige Expansion ermöglicht hatten. Der  Zusammenbruch der bald pejorativ PIIGS-Staaten genannten Gruppe musste  daher zu einer Bankenkrise in Deutschland und anderen EU-Ländern führen.  Die anderen Staaten waren tertiär betroffen, weil der Zusammenbruch des  Interbankenmarkts und die scharf gestiegene Schwierigkeit, an  Refinanzierungskredite zu kommen, ihre Wirtschaft belasteten. In allen  Fällen war ohne massive und schnelle Staatshilfen nichts zu machen.

Von Beginn an war dabei unter den Staaten Konsens, dass man selbst  schuldlos sei und die Krise ein externales Ereignis aus den USA war, auf  das man einer Naturkatastrophe gleich reagieren müsse. Die Große  Koalition in Deutschland verfocht dieses Mantra besonders aggressiv und  zwang auch andere, eher skeptische EU-Staaten auf Linie. Das bedeutete,  dass die Staaten jeweils national auf die Problematik reagierten (in  Deutschland etwa durch ein gewaltiges Konjunkturprogramm und eine  Garantie aller privaten Einlagen) – und damit ihre Defizite in die Höhe  fuhren. Die EZB fuhr quasi ein „business as usual„.

Die dahinterliegende Theorie war, dass die Krise nicht an  strukturellen Problemen in den EU-Volkswirtschaften und vor allem der  Euro-Konstruktion hing, sondern an Ungleichgewichten innerhalb der  einzelnen Länder. Entsprechend müsste die Krise diese Ungleichgewichte  abbauen, da eine europäische Krisenpolitik diese stattdessen erhalten  würde. Die USA unter ihrem neu gewählten Präsidenten Obama verfochten  einen anderen Ansatz, indem sie mit Geldpolitik das System  stabilisierten (wenngleich der Stimulus 2009 wesentlich zu klein war).  Die befürchtete Inflation blieb aus, und die Wirtschaft wuchs seit 2010  mit beeindruckender Kohärenz jedes Jahr wieder und erreichte gegen Ende  von Obamas Regierungszeit das Vorkrisenniveau – ein Status, von dem ein  Großteil der Eurozone weit entfernt ist.

Doch diese Differenzen wären vielleicht philosophischer Natur  geblieben, wenn die Finanzkrise wie in den USA vor allem die  öffentlichen Haushalte aufgebläht, realwirtschaftliche Schäden  angerichtet und dann ein Problem der Vergangenheit geblieben wäre, so  dass man sich auf die Erholung hätte konzentrieren und die Schulden mit  dem folgenden Wirtschaftswachstum langsam wieder bezahlen können. Für  Deutschland funktionierte dieses Modell ausnehmend gut, was sicherlich  zu der langen Regierungszeit Angela Merkels beigetragen hat. In den  meisten anderen Euro-Ländern dagegen war die Politik ein Desaster. Denn  nicht nur hatten sie mit den Folgen der Finanzkrise zu kämpfen – sie  mussten sich einer ausgewachsenen Währungskrise stellen.

Die Eurokrise

An dieser Stelle kann, so viel sei gleich vorweg gesagt, keine  detaillierte Aufarbeitung der Eurokrise erfolgen. Wer sich für die  Geschichte der Finanz- und Eurokrise im Detail interessiert, sei mit  wärmster Empfehlung an Adam Tooze verwiesen, dessen Buch „Crashed“ (deutsch) die absolute Autorität auf diesem Gebiet darstellt. Daher hier in Kürze.

Die Eurokrise begann praktisch im Anschluss an das Erreichen Europas  der Schockwellen der Finanzkrise im Jahr 2009. Ihr Brennpunkt war  Griechenland, was auf den ersten Blick überraschen mag. Das Land macht  kaum 3% der Wirtschaftsleistung der gesamten EU aus; Deutschland alleine  hätte die griechischen Schulden übernehmen und dabei nicht die Kosten  seines eigenen Konjunkturpakets erreichen können. Von Anfang an war  daher die Eurokrise mindestens ebenso eine politische wie  wirtschaftliche Krise.

Die Überlegung der deutschen Politik war dabei insgesamt recht  simpel. Konsistent mit der Reaktion auf die Finanzkrise wollte man  vermeiden, die Schulden der Einzelstaaten in irgendeiner Form zu  vergemeinschaften. Obwohl man also eine Währung teilte, sollte die  fiskalpolitische Reaktion (nicht aber die geldpolitische!) in jedem  Mitgliedsstaat individuell sein. Nach Lage der Dinge bedeutete dies  Austerität, weil alle anderen Reaktionsmöglichkeiten durch diese  Prämissen verbaut waren. Staaten, die nicht willens oder in der Lage  waren, diesen Weg zu gehen, sollten aus dem Euro ausscheiden.

Im Prinzip war dies dieselbe Politik, die lange den Goldstandard unterfüttert hatte (worüber ich hier ausführlich geschrieben habe). Die dahinterstehende Sorge war nicht, dass die griechische Volkswirtschaft nicht gerettet werden könnte, sondern dass ein moral hazard entstehen würde: Athen spielte nicht trotz, sondern wegen seiner  geringen Größe keine Rolle in den Überlegungen der großen EU-Staaten.  Die Augen in Berlin waren auf Rom und Madrid, nicht auf die Akropolis,  gerichtet. Würde man nämlich einen Bailout für Griechenland beschließen,  so gäbe es keine Anreize für Italiens und Spaniens (und Irlands)  ungleich größer Volkswirtschaften, durch Austerität selbst aus der Krise  zu kommen. Das war die fundamentale politische Logik der Krise, die von  Deutschland und den mit ihm verbündeten Staaten der Eurozone  aufgezwungen wurde.

Es lohnt sich, kurz bei den Bündnissen zu verweilen, die hier zur  Anwendung kamen. Durch die gesamte Eurokrise bis heute hat die deutsche  Position ihre überzeugtesten Verteidiger in den Niederlanden und in  Finnland. Die schärfsten Kritiker sind, wenig überraschend, in  Griechenland, Italien, Spanien und Portugal zu finden. Länder wie  Frankreich nehmen eine Mittlerposition ein. Frankreich hat auch kein  großes Interesse daran, die italienischen Schulden zu garantieren, ist  aber gleichzeitig wenig begeistert von der deutsch-dominierten  geldpolitischen Haltung der EZB und der Position Berlins. Entsprechend  agiert es mal als unwilliger Verbündeter, mal als verhaltener Kritiker,  ohne sich je entschlossen auf eine der beiden Seiten zu stellen. Diese  Dynamik hat sich innerhalb der EU bis heute wenig geändert.

In den Jahren 2010, in dem die Eurokrise quasi offiziell begann (und  in der die Bedürfnisse der deutschen Innenpolitik, die die schwarz-gelbe  Haltung angesichts der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen und der  beginnenden Anti-Griechenland-Kampagne der BILD zu einer wesentlich  kompromissloseren Haltung zwangen als vielleicht sachlich geboten), bis  etwa 2012 setzte sich die deutsche Haltung überwiegend durch. Eine Art  großer Koalition folgte in Griechenland (mehr schlecht als recht) den  Bedürfnissen der Austeritätspolitik; ähnliche Kurse wurden in Spanien  und Portugal sowie Irland gefahren. In Italien führte die Krise zum  Sturz der dortigen Regierung und der von der EU äußerst positiv  begleiteten Einsetzung einer Technokratenregierung.

Letztere kann durchaus als Fanal betrachtet werden. EU-kritische  Kräfte betrachteten sie als eine Art Putsch, eine koloniale Übernahme  durch die EU. Die Monti-Regierung war schnell unbeliebt (wenig  verwunderlich, handelte es sich doch um politische Amateure mit einem  extrem unpopulären Programm) und erlaubte es den Italienern, sämtliche  schlechten Gefühle rund um die Eurokrise auf die EU abzuladen, die ihnen  scheinbar von außen die Austerität aufoktroyiert hatte. Dieses Gefühl  der Fremdbestimmung wurde in allen südeuropäischen Ländern beherrschend  und führte dort zum Aufschwung populistischer Bewegungen von rechts wie  links.

Diese Politik war allerdings ihrem Wesen nach tatsächlich  unnatürlich. Die PolitikerInnen der jeweiligen Länder wollten sie  eigentlich nicht implementieren und konnten sich nur mit der  Alternativlosigkeit (Merkels Worte) dieser Maßnahmen rechtfertigen, was  gegen die populistische Widerstandsbewegung ungefähr niemanden  überzeugte. Ohne jede Mehrheit in den Ländern, denen sie große Opfer  abverlangte, und ohne greifbare unmittelbare Erfolge entwickelte sie  eine ähnliche Dynamik wie die Agenda2010 in Deutschland: Möglicherweise  führte sie mittelfristig zu einer strukturellen Gesundung, aber  mittelfristig, um das Keynes-Wort etwas abzuändern, sind wir alle  arbeitslos und sozial abgestiegen. Die Hoffnung, in zehn oder fünfzehn  Jahren denselben Wohlstand wie vor der Krise wieder erreicht zu haben,  ist nichts, womit man irgendwen begeistert.

Dass die Eurokrise zudem nicht auch nur im Ansatz gelöst wurde,  sondern vielmehr schlimmer wurde und immer neue Runden von  Rettungspaketen nötig machte, die wegen der ohnehin knappen Kredite im  Fahrwasser der Finanzkrise ohne Garantien von außen kaum zu stemmen  waren, ließ diese Politik um 2012 vor einer unangenehmen Wahl stehen.  Entweder man ging sie bis zu ihrem logischen Ende, was den „Grexit“ aus  dem Euro bedeuten würde. Für diese Möglichkeit trat vor allem der  damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble mit Verve ein. Oder aber die  EU schuf eine Vergemeinschaftung, in welcher Form auch immer.

Wer jetzt denkt „da kann ja nur ein Kompromiss rauskommen, der keine  Seite befriedigt“ hat die Natur der EU verstanden. Der Mechanismus, auf  den man dabei verfiel, war der so genannte „Europäische  Stabilitätsmechanismus“ (ESM). Abgesichert durch die strenge Kontrolle  der „Troika“, einer aus Vertretern der Europäischen Kommission, EZB und  dem Internationalen Währungsfond (IWF) zusammengesetzten eigenen  Institution, wurde den betroffenen Staaten Zugang zu Krediten mit  vergleichsweise niedrigen Zinsen gewährt, gleichzeitig aber harsche  Auflagen gemacht. Diese Auflagen zwangen die Empfängerländer zu  tiefschneidenden Austeritätsmaßnahmen, was bezeichnenderweise  ausgerechnet der IWF, der in den Jahrzehnten des „Washington Consensus“  eigentlich immer die erste Quelle solcher Maßnahmen war, mit Verweis auf  die wirtschaftliche Untragbarkeit ablehnte. Hier setzten sich die  Deutschen aber durch, die schon die Kröte der Existenz des ESM schlucken  mussten.

Aufstieg der Ränder

Das Resultat war eine Stärkung der populistischen Ränder in allen  betroffenen Ländern. In Italien formierte sich das „5-Sterne“-Bündnis  unter dem ideologisch recht flexiblen, tendenziell aber rechts zu  verordnenden Comedian Beppo Grillo. In Spanien wurde Podemos groß, in  Portugal kam seither die Sozialistische Partei (PS) an die Macht, in  Griechenland begann der Aufstieg der Syriza. Aber gleichzeitig kam es zu  einer gegenläufigen Bewegung in den nördlicheren Ländern. In  Deutschland formierte sich aus Protest die AfD (damals noch als nationallliberale Anti-Euro-Bewegung),  in Frankreich erstarkte der Front National, in Großbritannien UKIP, in  Ungarn kam Fidesz an die Macht, in Finnland stiegen die Wahren Finnen  auf, in Polen die PiS-Partei, in den Niederlanden die „Partei der  Freiheit“, nur um einige zu nennen.

Das generelle Schema war, dass in den südeuropäischen Staaten eher  Linkspopulisten reüssierten (wenngleich in Griechenland und Italien auch  oder sogar vorwiegend Rechtsextremisten aufstiegen), während in den  Ländern nördlich der Alpen, manchmal zum ersten Mal, rechtspopulistische  Parteien in die Parlamente kamen (wobei Frankreich hier eine  Zwitterrolle spielt, die zu der beschriebenen Position zwischen den  Stühlen durchaus passt). Ich denke das liegt vor allem daran, dass die  spezifische jeweilige Unmut sich von diesen glaubhafter artikulieren  ließ.

Die südeuropäisch geprägten Länder waren weiterhin Pro-EU, sie  wollten Mitglied der Union bleiben (was ja auch maßgeblich zu  Griechenlands mehrfacher Entscheidung für den Euro und entschiedenem  Widerstand gegen Schäuble führte). Zugleich traten sie aber für eine  stärkere Umverteilung und Vergemeinschaftung, mithin eine Vertiefung der  Integration ein – sicherlich aus wohl verstandenem nationalen  Eigeninteresse, aber dabei handelte es sich nun einmal um Themen, die  eher von links als von rechts formuliert werden.

Umgekehrt fanden sich die Länder des nördlicheren Europas überwiegend  in einer Abwehrstellung. Sie wollten vor allem eine weiter gehende  Integration der Fiskal- und Wirtschaftspolitik verhindern und den  aktuellen Integrationsstand bewahren. Auch hier spielten wohl  verstandene Eigeninteressen eine Rolle, und die Form, die diese  Integration etwa im ESM dann nahm, spiegelte deutlich die Präferenzen  dieser Länder wieder.

Ein klarer Effekt dagegen ist, dass das Versagen der jeweiligen  Populisten einen klaren Wechseleffekt hat: Wenn die eine Seite es nicht  hinbekommt, wird die andere probiert. Das fällt vor allem in Italien und  Griechenland auf, wo alle Regierungen seit 2012 erfolglos gegen die  Beschränkungen der oben beschriebenen Dynamiken anrannten, scheiterten  und dann an Wählergunst verloren. Auffällig ist denke ich allerdings,  dass die linkspopulistischen Parteien (bislang) den Rechtsstaat und die  Demokratie nicht nur nicht gefährden, sondern sogar zu seinen Garanten  wurden – was man von den Rechtspopulisten, die die EU seither von einer  Krise in die nächste jagen, so nicht behaupten kann.

Parlamentarische Selbstbehauptung

Die Europawahlen 2014 stellten eine gewisse Trendwende dar, was das  viel beklagte Demokratiedefizit in der EU angeht. Seine verhältnismäßig  machtlose Position, die wir beim Blick auf das politische System der EU  genauer untersuchen werden, wurde langsam, aber kontinuierlich ausgebaut  und erhielt mit dem Vertrag von Lissabon einen neuerlichen Schub. Im  Jahr 2014 einigten sich die Führer der beiden größten europäischen  Parteien, der konservativen Parteienfamilie EVP und der  sozialdemokratischen Parteienfamilie S&D, Jean-Claude Juncker, in  einem aggressiven Normenbruch die Parlamentarisierung der EU  voranzutreiben.

Der letzte Kommissionspräsident Barroso war noch klassisch durch die  nationalstaatlichen Regierungen der EU in einem Konsensverfahren ernannt  worden und ein eher farbloser Kandidat. Der Vertrag von Lissabon hatte  dem Parlament das formale Recht eingeräumt, den Kommissionspräsidenten  zu wählen – ein wertloses demokratisches Feigenblatt, da das Parlament  nicht das Recht auf Ernennung der Kandidaten besaß.

Schulz und Juncker, deren beide Parteien eine solide Mehrheit im  Parlament besaßen, einigten sich darauf, dass das Parlament keineN  KandidatIn wählen würde, der nicht von derjenigen Parlamentsfraktion  nominiert wurde, die die meisten Stimmen in der Europawahl erreichte.  Anstatt also wie bisher die Vorschläge der Kommission abzunicken,  wollten die Parlamentarier umgekehrt die Kommission dazu zwingen, ihren  Wunschkandidaten zu nominieren – also entweder Juncker oder Schulz, je  nachdem, wie die Wahl ausgehen würde.

Der Plan funktionierte. Das Parlament zwang den Regierungen seinen  Willen auf, weil Juncker und Schulz beide gewiefte Politiker und  erfahrene Parlamentarier waren, mit großem Rückhalt im Parlament  (Fähigkeiten, die Schulz drei Jahre später herzlich wenig nutzen  würden). Die EVP gewann die Wahlen 2014, in denen zum ersten Mal ein  gesamteuropäischer Wahlkampf mit „Spitzenkandidaten“ betrieben wurde,  und Juncker wurde Kommissionspräsident.

Eine Wiederholung dieser Übung 2019 scheiterte jedoch an der  Unfähigkeit des Parlaments, dasselbe Bündnis hinter den Kandidaten zu  versammeln. Als die EVP 2019 gewann, nominierte sie Manfred Weber (CSU),  ohne sich zuvor des nötigen Rückhalts in den anderen Fraktionen zu  versichern, die daraufhin aus narzistischer Kränkung die Wahl  sabotierten und des den Regierungen erlaubten, einmal mehr eine  Kompromisskandidatin zu ernennen: Ursula von der Leyen wurde dadurch  neue Kommissionspräsidentin. Die Entscheidung darüber, welche Struktur  die Gewalten in der EU künftig haben würden, wurde dadurch auf 2024  verschoben.

Keine Verschnaufspause

Während die EU-StaatschefInnen und FinanzminsterInnen noch einen  erbitterten Kampf gegen die neue griechische Regierung unter Alexis  Tsipras und Yanis Varoufakis führten, die mit einem demokratischen  Mandat im Rücken die EU moralisch zu erpressen hofften (und ultimativ  scheiterten beziehungsweise ihren Bluff eingestehen mussten) und der die  Union bis zum Zerreißen spannte und alle Ressourcen beanspruchte, brach  an der Peripherie eine neue Krise los.

Die Flüchtlingskrise von 2015 war, anders als die Finanzkrise, eine  Krise mit Ansage. Bereits seit mehreren Jahren klagten die  südeuropäischen Staaten an der europäischen Peripherie – vor allem  Spanien, Italien und Griechenland – über die ständig steigende Belastung  durch die zunehmende Zahl Flüchtlinge aus Nordafrika und dem Nahen  Osten. Der Arabische Frühling ab 2011 und der syrische Bürgerkrieg ab  2012 erhöhten den Druck stetig weiter – zu einer Zeit, als die Finanz-  und Wirtschaftslage dieser Staaten wegen der Finanz- und Eurokrise  ohnehin angespannt war.

Die betroffenen Staaten baten permanent um Hilfe, aber anderen  EU-Staaten zogen sich auf eine bekannte Position zurück, indem sie auf  die rechtliche Lage verwiesen. Das Dublin-II-Abkommen hatte den  besonders für Deutschland sehr vorteilhaften Passus, dass Flüchtlinge  und Asylbewerber nur dort Aufnahme beantragen konnten, wo sie EU-Gebiet  zuerst betreten hatten – was außer über Nord- und Ostsee sowie die  Flughäfen für Deutschland unmöglich war, und da Flughäfen  extraterritorial sind, war auch dieser Zugang versperrt. Das war eine  extrem komfortable Situation, aus der sich hervorragend moralisierende  Vorträge über gutes Haushalten und die Gültigkeit von Verträgen halten  ließen.

Eine politische Lösung der Flüchtlingsfrage war aber auch völlig  unrealistisch. Deutschland wäre möglicherweise bereit gewesen, eine  europäische Verteilung der Flüchtlinge oder wenigstens eine gerechtere  Verteilung der Kosten ihrer Aufnahme mitzutragen, aber besonders die  neuen Mitgliedsstaaten Osteuropas und Großbritannien waren es sicher  nicht – sicher nicht zufällig gerade die Staaten, in denen  rechtspopulistische Bewegungen im Aufwind waren. Dazu nahmen die Finanz-  und Eurokrise alle Aufmerksamkeit und Ressourcen in Anspruch.

Dieses Verständnis ändert aber nichts daran, dass der Dammbruch 2015  nicht vorhersehbar gewesen wäre. Zwar war die Wanderung zu diesem  Zeitpunkt, mit dieser Demographie und unter diesen Bedingungen  (Stichwort Syrien, Stichwort Balkanroute) so nicht prognostizierbar  gewesen, aber dass das System irgendwo, irgendwann brechen musste – das  war praktisch garantiert.

Was folgte war zuvordererst eine Wertekrise. Die Flüchtlinge, die  sich 2015 langsam über die Balkanroute nach Norden wälzten, kamen aus  katastrophalen Zuständen in überfüllten und unterfinanzierten  griechischen Auffanglagern. Sie bewegten sich durch Länder, die nicht  eben oben auf der Spitze von Rankings zu wohl ausgebautem Sozial- und  Rechtsstaat stehen. Und sie erreichten schließlich Budapest, wo eine  rechtsextremistische Regierung in offener Verletzung aller möglichen  Abkommen und Konventionen die Grenze mit Stacheldraht abzuriegeln  begann.

Die Frage war daher nicht, ob Europa diese Flüchtlinge aufnehmen  konnte. Das konnte es, und wie sich zeigen sollte, konnte Deutschland  das auch alleine. Das Problem war vielmehr dreigleisig.

Problem Nummer eins war, wie in der Eurokrise auch, die Sogwirkung.  Deutschland hätte Griechenland aus der Portokasse retten können, aber  das war nie die Frage. Genauso wenig war die Frage, ob man diese  Flüchtlinge würde aufnehmen können, sondern was danach geschehen würde.  Würde das nicht ein Signal in die gesamte Zweite und Dritte Welt senden,  dass jedeR nach Deutschland kommen könne, wenn er oder sie es nur genug  wünschte?

Damit verbunden war Problem Nummer zwei. Hier handelte es sich um ein  Werteproblem. Denn die EU stand, wie wir mehrfach betont haben, auch  als Wertegemeinschaft zusammen, besaß einen eigenen Gerichtshof für  Menschenrechte und garantierte daher eine humane Behandlung von  Flüchtlingen und eine grundsätzliche Aufnahme. Allein, diese Regelungen  waren nie für eine solche Krise ausgelegt gewesen. Die EU stand daher  vor der Wahl, entweder gegen ihre Werte oder gegen ihre vertraglichen  Regelungen zu verstoßen. Ungarn wählte entschlossen den Werteverstoß;  einem Orban war ohnehin nie an Menschenrechten und Demokratie gelegen.  Merkel wählte, nach langem Zögern und Schwanken, den Verstoß gegen die  Verträge.

Und das führt zu Problem Nummer drei, denn die Flüchtlingskrise ist  auch ein politisches Problem. Deutschlands unilaterale Entscheidung, die  syrischen Flüchtlinge 2015 aufzunehmen, umging die Blockade der EU,  aber gerade dieses Umgehen war natürlich ein Verstoß gegen alles, wofür  die Gemeinschaft rechtlich und politisch stand. Damit zog sich Merkel  den Unmut vieler anderer RegierungschefInnen zu, was sicherlich zum  generellen Unwillen weiterer Integration beigetragen hat.

Die Summe dieser Probleme zeigt deutlich, dass es keine Lösung gibt,  die irgendwie als „gut“ gelten kann. Die Flüchtlingskrise ist ein wicked problem,  wie es in den Politikwissenschaften heißt, ein unlösbares Dilemma.  Wenig überraschend ist die Flüchtlingspolitik von einem Kompromiss  bestimmt, der keine Seite zufrieden stellt. Nach der Priorisierung der  Werteunion schwenkte Deutschland bereits im Frühjahr 2016 entschieden in  die andere Richtung zurück. Die EU schloss ein Abkommen mit dem  türkischen Autokraten Recip Erdogan, das das schmutzige Geschäft des  Landweg Blockierens für die Zahlung der metaphorischen 30 Silberstücke  auslagerte, mit dem Effekt, dass man durch Erdogan erpressbar wurde und  sich bei der Verteidigung der Werte völlig unglaubwürdig machte – was  sowohl Erdogan als auch seine Gesinnungsgenossen in Budapest und  Warschau seither weidlich ausnutzen.

Gleichzeitig wurden die Grenzen nach außen wesentlich vehementer als  bisher geschlossen. Die südeuropäischen Staaten wurden mit dem Problem  emphatisch und erneut allein gelassen, nicht einmal eine Lockerung der  durch die Eurokrise aufoktroyierten Austerität (die in Griechenland  mittlerweile wieder von einer Mitte-Rechts-Regierung vertreten wird,  nachdem Syriza abgewählt wurde) wurde zugestanden. Ihre Reaktion dürfte  nicht überraschen. Die Bilder aus Moria oder die Flüchtlingsboote  versenkende griechische Küstenwache mit auf Frauen und Kinder  schießenden Marinesoldaten sprechen eine eindeutige Sprache.

Brexit

Dieser faustische Pakt hat das politische Problem gelöst. Die  Flüchtlingskrise ist seit spätestens 2017 kein politisch relevantes  Thema mehr und wäre als solches ohne massive Schützenhilfe der  Leitmedien (Stichwort Bundestagswahl 2017) auch schon vorher von der  Agenda verdrängt worden. Doch in einem Anfall von spektakulär schlechten  Timing fiel sie genau in jene Zeit, in der der Hasardeur in der Downing  Street 10 sich seiner innenpolitische Probleme elegant durch ein  Referendum zu entledigen hoffte.

Es dürfte unstrittig sein, dass ein innenpolitisches Manöver selten  so gehörig nach hinten los gegangen ist wie Camerons Referendum über den  Brexit. Für die meisten Beobachter überraschend entschied sich im  Sommer 2016 eine hauchdünne Mehrheit der Briten für den Austritt aus der  Union. Die Flüchtlingskrise, die Konkurrenz durch osteuropäische  ArbeitsmigrantInnen und, absurderweise, die Debatte über einen  EU-Beitritt der Türkei bestimmten neben zahlreichen innenpolitischen  Themen die von PolitikerInnen und Medien völlig verhetzt und verzerrte  Debatte.

Es lohnt sich an dieser Stelle kurz bei der Frage des  Türkei-Beitritts zu verweilen. Dieser stand seit den 1980er Jahren auf  der europäischen Agenda, wurde jedoch wegen der offensichtlichen  Defizite der Türkei in Sachen Rechtsstaat, Freiheit und Menschenrechte  (die Kopenhager Kriterien, die jeder EU-Beitrittskandidat erfüllen muss)  immer wieder verschoben.

Die größten Chancen hatte die Mitgliedschaft der Türkei, als Anfang  der 2000er Jahre eine reformorientierte, pro-europäische Regierung unter  Recip Erdogan an die Macht kam (ja, der Mann hat sich ein klein wenig gewandelt!) und in Deutschland die rot-grüne Regierung in falsch  verstandenem Anti-Rassismus stark für den Beitritt trommelte. Letztlich  zerschlug sich jede Hoffnung auf einen solchen Erfolg aber an einer  Vielzahl von Faktoren und war angesichts der seitherigen Entwicklung der  Türkei und Osteuropas sicherlich auch zum Besten. Aber aus Gründen, die  nicht-konservative nicht-Briten vermutlich nie verstehen werden, wurde  das Thema in der Brexit-Debatte 2016 mit großem Effekt in der Yellow  Press und der reaktionären Wahlkampfmaschinerie hochgekocht.

Der Austritt Großbritanniens war ein nie dagewesenes Ereignis. Die EU  wie auch das UK selbst mussten jeden Schritt erst einmal finden. Dass  die britische Innenpolitik ein mehrjähriges, peinliches Schauspiel  politischen Dilettantismus‘ an den Tag legte und ausgerechnet in dieser  Zeit die Labour-Partei von einem verknöcherten Linkspopulisten  beherrscht wurde, machte die Lage keinen Deut besser.

Für die EU allerdings zeigte sich eine beeindruckende Stärke. Der  Austritt Großbritanniens zwang alle anderen kritischen Staaten zu einer  Neubewertung ihrer Mitgliedschaft. Offensichtlich war der Austritt  möglich und fortan auch denkbar. Gerade Polen und Ungarn mussten sich  entscheiden, wo sie hier standen. Britische Hoffnungen, die EU würde  hier nicht mit einer Stimme sprechen können, zerschlugen sich. Die EU27  bestimmten einen Vertreter für die Verhandlungen und ließen sich von May  und Johnson nicht spalten. Stattdessen vertraten sie die Interessen des  restlichen EU-Staaten entschlossen und einstimmig. Ungarn und Polen  wollten, bei allem Dissens, emphatisch NICHT aus der EU austreten,  sondern Mitglieder bleiben. Damit gaben sie Verhandlungsspielraum und  Hebelwirkung auf, die sich in den kommenden Jahren noch als segensreich  für die gesamte EU erweisen könnte.

Stagnation

2017 schien das Pendel dann in die andere Richtung zu schwingen. In  Frankreich setzte sich der bekennende Pro-Europäer und  Wirtschaftsliberale Emmanuel Macron bei der Präsidentschaftswahl und,  noch entscheidender, bei der folgenden Nationalversammlungswahl mit  seiner neuen Partei En Marche gegen die Rechts- wie Linkspopulisten  durch. Der Vormarsch der Populisten und die Desintegration der EU waren  damit gestoppt, das Gespenst eines Frexit gebannt. Seither hat sich die  EU deutlich stabilisiert.

Gleichzeitig aber ist sie auch stagniert. Obwohl Macron zahlreiche  Reformvorschläge aufs Tablett brachte, weitreichend wie sie noch nie  zuvor von einem französischen Präsidenten angeboten wurden, schlug die  Merkel-Regierung sie ihr ausgestreckt dargebotene Hand zur Seite. Die  vom Rechtspopulismus dominierte Bundestagswahl 2017 und das völlige  Verglühen des pro-europäischen Martin Schulz etablierte Merkel einmal  mehr als die Madame Non der EU. Seither werden vor allem die bekannten  Problemfelder beackert – von jedem Nationalstaat für sich.

Dies änderte sich auch nicht, als 2020 die Corona-Krise ausbrach. Wie  bereits bei der Finanz- und Eurokrise zuvor gab es keinerlei ernsthafte  Bestrebungen um europäische Lösungen oder auch nur eine Einbindung der  europäischen Institutionen. Stattdessen dominierte der flagrante  Vertragsbruch durch Grenzschließungen und andere Maßnahmen. Emphatisch  entschied sich ganz Europa, anders als noch in der Flüchtlingskrise,  gegen die europäischen Werte UND die europäischen Verträge. Ein  hoffnungsvolles Signal für die Zukunft kann das kaum sein. Allenfalls  der Entschluss, die Austeritätspolitik weiter dadurch aufzuweichen, dass  die EU Gelder für den Wiederaufbau zur Verfügung stellt, die de facto  einen Transfer von reichen an arme Staaten darstellen – zum ersten Mal  in der Geschichte der EU – einen Lichtblick für überzeugte Verfechter  einer weiteren Integration dar.

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