Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Nach hundert Tagen herrscht rasender Stillstand

Nach hundert Tagen im Amt ist die Regierung von Kanzler Friedrich Merz laut Analyse bereits im „Ampel-Niveau“ des Stillstands angekommen. Die SPD, trotz nur 13 Prozent Zustimmung, blockiere wesentliche Reformvorhaben und präsentiere sich als selbstherrlicher Machtfaktor, während die Union den Eindruck eines Juniorpartners erwecke. Die anfänglichen Hoffnungen auf einen klaren politischen Aufbruch seien enttäuscht worden. Statt mutiger Entscheidungen dominiere eine Politik der kleinen Schritte, die zentrale Probleme wie Wirtschaftsschwäche, Bürokratie oder Migrationsfragen nicht entschlossen angehe. Besonders kritisch sei, dass zentrale Vorhaben im Koalitionsvertrag von ideologischen Gegensätzen ausgebremst würden. Bürger hätten auf einen klaren Bruch mit der Lethargie der Vorgängerregierung gehofft, doch das bisherige Handeln erinnere stark an deren Kompromisspolitik. Der Text warnt, dass dieser „rasende Stillstand“ das Vertrauen der Wähler in die Handlungsfähigkeit der Regierung weiter untergraben könnte, wenn nicht bald sichtbare Erfolge erzielt werden (Fatina Keilani, WELT).

Ich finde es immer wieder auffällig, wie sehr die Idee von "demokratisches Handeln" vom jeweiligen politischen Gesichtspunkt abhängt. Keilani kritisiert die SPD hier mit denselben Argumenten, die Progressive während der Ampel-Zeit an die FDP warfen - und die nun seitens Keilani komplett vergessen sind, genauso wie ich wetten könnte, dass sich das SPD-Handeln problemlos mit denselben Argumenten verteidigen ließe, mit denen etwa Stefan Pietsch hier immer für die FDP in die Bresche gesprungen ist. Abstrakte Prinzipien sind eben in der Praxis praktisch nie abstrakte Prinzipien, sondern gehorchen den jeweiligen Wünschen

2) Willkommen im Solarzeitalter

Die Kolumne beschreibt den rasanten Aufstieg der Solarenergie, der sich am Beispiel der sogenannten Balkonkraftwerke eindrucksvoll zeigt. Während 2018 nur 58 solcher steckerfertigen Anlagen installiert wurden, waren es 2024 bereits über eine Million, ein Zuwachs um das 7445-Fache. Allein im Jahr 2025 wurden bis Mitte Juli mehr als 250.000 neue Anlagen gemeldet, womit der Rekord aus dem Vorjahr übertroffen werden dürfte. Diese Entwicklung verdeutlicht nach Ansicht des Autors den Beginn eines „solaren Zeitalters“, das weitreichende Folgen für Gesellschaft, Wirtschaft und Geopolitik haben werde. Er verweist auf den Umweltaktivisten Bill McKibben, der in seinem neuen Buch „Here comes the sun“ die These vertritt, dass Sonnenenergie nicht nur ein technologischer Fortschritt, sondern der Beginn einer neuen Epoche sei, vergleichbar mit dem Buchdruck oder der industriellen Revolution. Da Sonne und Wind unbegrenzt verfügbar seien, könnten fossile Rohstoffe und damit auch die bisherige Machtverteilung an Bedeutung verlieren. Energiekriege würden überflüssig, alle Länder erhielten denselben Zugang. Der Autor deutet dies als historischen Neustart, der bereits begonnen habe (Ullrich Fichtner, SPIEGEL).

Ich bin bei Verheißungen aller Art immer skeptisch, muss ich sagen. Mir fehlen tiefgehende Sachkenntnisse, aber was mir direkt ins Gesicht springt ist, dass Fichtner die zur Herstellung des solaren Durchbruchs nötigen Ressourcen ignoriert. Solange die Herstellung der Panele an verhältnismäßig seltenen Stoffen hängt, haben wir noch ein Limit, das zu durchbrechen nicht möglich ist. Ich halte seine optimistische Sicht deswegen eher für eine langfristige Zukunftsvision als eine kurzfristige. Das heißt aber nicht, dass deswegen nicht auf Solar gesetzt werden sollte; es ist die einzige langfristige Möglichkeit für uns Menschen, vernünftig den Energiebedarf zu decken, wenn man nicht Träume von Kernfusion hegt. Und Visionen sind etwas, von dem wir mehr brauchen.

3) Der heterosexuelle Mann, die willige Frau, das gehorsame Kind

Der Gastbeitrag zeichnet die Entwicklung von Familienbildern in Deutschland seit 1945 nach und zeigt, wie eng sie mit gesellschaftlichen Krisen und Stabilisierungsmustern verbunden sind. Nach dem Krieg waren Männer vielfach gebrochen und traumatisiert, während Frauen die Versorgung übernahmen und neue Rollen einnahmen. Kurzzeitig eröffnete sich die „Stunde der Frauen“, doch schon in den fünfziger Jahren setzte eine Rückkehr zu traditionellen Rollenbildern ein. Die heteronormative Kleinfamilie mit Hausfrau, ernährendem Vater und gehorsamen Kindern wurde zum Ideal, gestützt von Kirchen, Gewerkschaften und Institutionen. Dieses Modell diente der Pazifizierung des Mannes, der in der Familie Anerkennung fand, und stabilisierte zugleich die junge Demokratie. Rechtlich wurde die Vormachtstellung des Mannes gefestigt: Er entschied über Wohnort, Arbeit und Vermögen, während Frauen ökonomisch und rechtlich abhängig blieben. Häusliche Gewalt galt als alltäglich, Vergewaltigung in der Ehe existierte juristisch nicht. Auch Kinder litten unter der autoritären Ordnung. Erst die 68er brachten neue Impulse für Gleichheit, doch auch in späteren Jahrzehnten blieb Hausarbeit entwertet und ungleich verteilt. Selbst nach Aufkommen feministischer Bewegungen hielt sich das hierarchische Modell hartnäckig, wie Studien in Deutschland und Frankreich zeigen. In jüngster Zeit kehren patriarchale Muster in neuem Gewand zurück, sei es in Tradwife-Bewegungen, in konservativen Geschlechterbildern oder in der „Manosphere“. Damit stellt sich die Frage, ob sich erneut ein patriarchaler Rückzug vollzieht oder ob eine grundlegende Revolution der Geschlechterordnung möglich wird (Hedwig Richter, SPIEGEL).

Richter polemisiert in dem Artikel ein wenig stark, aber das weiß sie vermutlich selbst. Den Umschwung etwa allein auf 1968 zu schieben halte, ich gelinde gesagt, für gewagt und letztlich für ein Pflockeinrammen im ewigen Deutungskampf um dieses Ereignis, der mir persönlich ehrlich gesagt gar nichts bedeutet. Aber der Grundsatz der Diskussion hier ist spannend, vor allem die Idee, dass die patriarchalische Hausfrauenehe der Pazifizierung des Mannes diene. Eine ähnliche Dynamik war ja nach dem Ersten Weltkrieg auch zu beobachten, deswegen hat Richter auch völlig Recht damit, wenn sie darauf hinweist, dass auch die westlichen Demokratien und östlichen sozialistischen Diktaturen dieselbe Entwicklung durchmachten. Allein, die Polemik lässt noch die Frage offen, welche Dynamiken da denn nun tatsächlich wirkten; die Beantwortung darauf scheint mir noch auszustehen. Vielleicht kommt da ja bald ein Buch heraus. Was den Berufsoptimismus am Ende des Artikels angeht: ich sehe gerade vor allem einen Backlash. Und auf den wird wieder ein Backlash folgen. Wie das immer der Fall ist.

4) Brandmauer weg, Demokratie weg? Cool bleiben!

Der Beitrag von Josef Joffe analysiert die deutsche Debatte um die sogenannte „Brandmauer“ gegenüber der AfD und stellt die Frage, ob deren Ausgrenzung tatsächlich die Probleme des Landes löst. Zwar gebe es gute Gründe, die Partei zu ächten, da sie Demokratie, Rechtsstaat und die Westbindung ablehne, doch bleibe sie dennoch eine legale politische Kraft, die in Umfragen inzwischen zur stärksten Partei aufgestiegen sei. Joffe betont, dass die AfD wie Trump an den Grundfesten rüttele, allerdings ohne reale Machtoptionen, da sie im Bundestag isoliert bleibe. Das eigentliche Problem sieht er in der Merz-Regierung, die im Bündnis mit der SPD auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert sei und handlungsunfähig wirke. Dadurch wachse die AfD, während sie selbst keine Verantwortung übernehmen müsse. Historische Vergleiche mit Frankreich oder Italien zeigten, dass rechte Parteien dort auch ohne demokratischen Zusammenbruch beteiligt seien. Joffe plädiert dafür, „cool zu bleiben“, die Demokratie als stabil zu begreifen, aber strategisch intelligenter zu reagieren: Indem man die AfD durch Beteiligung entlarvt oder ihre Verantwortungslosigkeit sichtbar macht. Die Fixierung auf die Brandmauer reiche nicht aus, vielmehr müsse die Koalition selbst ihre Defizite beheben, um die Wähler zurückzugewinnen (Josef Joffe, WELT).

Joffes Beitrag ist typisch für den Umgang der bürgerlichen Rechten mit der radikalen Rechten und darin ein Spiegelbild der Wünsche der Linken in den 2000er Jahren für den Umgang mit der LINKEn. Was er sich wünscht ist eine Koalition mit der AfD, in der diese Mehrheitsbeschaffer für alle konservativen Träume spielt und dann verschwindet - weil die Wählenden zu den Konservativen zurückkehren. Nur verkennt er gleich mehrere Dinge. Erstens sind die Wählenden der AfD bestenfalls teilidentisch mit Leuten, die unter Umständen CDU wählen würden. Zweitens ist die Vorstellung einer "Entzauberung" an der Regierung schon in den besten Zeiten nur ein frommer Wunsch, aber in Joffes Szenario würde diese Koalition ja eine breite Mehrheitspolitik super erfolgreich umsetzen, also würde die AfD warum genau dadurch kleiner...? Drittens ignoriert er wie üblich, dass die AfD eben keine demokratische Partei ist. Aber viertens, und das ist das entscheidende, ignoriert er völlig die Handlungsfähigkeit der Rechtsextremisten. Warum genau sollten diese Mehrheitsbeschaffer für die CDU mit der expliziten Zielsetzung ihres eigenen Verschwindens spielen? Joffe ist ein Traumtänzer, wie so viele, der glaubt, die Radikalen und Extremisten für seine Zwecke einspannen und dann wegwerfen zu können.

5) Agents, some in unmarked cars and street clothes, are arresting L.A. immigrants. Who are they?

In Los Angeles häufen sich in den vergangenen Wochen Schlagzeilen über großangelegte Festnahmen von Migranten durch verschiedene Bundesbehörden, wobei für Außenstehende oft unklar bleibt, welche Einheiten überhaupt tätig sind. Mehrere Organisationen gehören zum Dach des Department of Homeland Security, das nach den Anschlägen von 9/11 gegründet wurde. Dazu zählen die Einwanderungs- und Zollbehörde ICE mit ihrer Unterabteilung Enforcement and Removal Operations, die vor allem Personen ohne Aufenthaltsstatus aufgreifen und abschieben, insbesondere mit Vorstrafen oder mutmaßlichen Bandenverbindungen. Homeland Security Investigations wiederum ist spezialisiert auf kriminelle Netzwerke, Menschenhandel, Schmuggel oder Finanzbetrug und führt teils internationale Ermittlungen. Die Zoll- und Grenzschutzbehörde CBP ist für Grenzübergänge, Küstenüberwachung und Checkpoints zuständig, hat aber auch in Los Angeles Operationen durchgeführt, bei denen Dutzende Menschen festgenommen wurden. Weil viele Beamte in Zivil, mit Masken oder in unmarkierten Autos auftreten, kommt es häufig zu Verwirrung über ihre Identität. Offizielle rechtfertigen dieses Vorgehen mit Sicherheitsbedrohungen durch kriminelle Banden. Neben diesen Behörden wurden auch Nationalgardisten und sogar Marines nach Los Angeles entsandt, offiziell zum Schutz föderaler Gebäude und ohne eigene Befugnis zur Festnahme. Während die Bundesregierung ihre Maßnahmen mit Verweis auf Sicherheit verteidigt, wächst in Kalifornien der Protest gegen eine Militarisierung der Migrationspolitik und die Undurchsichtigkeit der Einsätze (Karen Garcia, Los Angeles Times).

Ich habe den Artikel vor allem als Repräsentation des Themas genommen. Was in den USA mit ICE (der Einwanderungsbehörde) gerade abgeht, ist prototypisches Faschisten-Playbook. Und ich bin echt nicht besonders leichtfertig in dieser Kategorie Vergleiche. Im ganzen Land verschleppen gerade Leute ohne Ausweis, ohne Markierung, ohne auch nur den Schleier eines rechtsstaatlichen Vorgehens willkürlich Leute. Es ist unklar, wo die landen, ob sie ihre verfassungsmäßigen Rechte erhalten, was man ihnen vorwirft. Oft genug werden US-Staatsbürger*innen verhaftet, weil für die Rechtsextremen die Staatsbürgerschaft irrelevant ist, da sie in biologistisch-rassistischen Kriterien denken. Was in meinen Augen bezüglich dieser ganzen Chose noch viel erschreckender ist: aktuell ist das "nur" ICE, das heißt, das Problem ist von der Größe her eingrenzbar. Aber die stellen tausende neue Leute ein, explizit im Geiste eines Ignorierens rechtsstaatlicher Regeln und gegenüber MAGA, nicht dem amerikanischen Staat, loyal. Dieses Ding ist beliebig skalierbar, und das Verhaften von Regimegegner*innen ist nur eine einzige Anweisung entfernt. Was hier entsteht ist die Struktur einer Geheimpolizei und Lagern. Allein das Potenzial ist erschreckend.

Resterampe

a) Zur Abinotendiskussion. (Jan-Martin Wiarda)

b) Zeichen der Zeit. (Twitter)

c) Sol1 hat dieses Fundstück zum Kulturkampf geteilt (SZ). Danke!

d) Guter Punkt zur D.C.-Gewaltdiskussion. (Bluesky)

e) Der Putin von heute ist nicht der Hitler von 1938 (Welt). No shit, diese Vergleiche sind auch alle echt behämmert.

f) Wie Deutschland seine Bürger an der „Republikflucht“ hindert (Welt). Was bei Linken die Nazivergleiche sind, sind bei Springers die DDR-Vergleiche.

g) Backofen Klassenzimmer: Schulstart in der Hitzewelle (und die nächste kommt bestimmt) (News4Teachers). Der Zustand der Schulgebäude ist einfach echt krass.

h) Guter Gedanke zum Absterben der Humanities in den USA. (Bluesky) "Tokugawa USA", herrlich.

i) Ulf Poschardt, Alter... (Bluesky)

j) Wenn Hubert Aiwanger aggressiver für Windräder wirbt als die Grünen. (Bluesky)

k) Ausmaß des russischen Angriffskriegs auf die Rezession. (Bluesky)

l) Vattenfall widerspricht Reiche (NTV).

m) Die Ukraine fällt auf sowjetische Methoden zurück (WSJ). Ich denke, das ist auch eine Folge der Verluste.

n) Nette Kolumne zu Franz Josef Wagner. (FAZ)

o) Arbeitszeiterfassung für Lehrkräfte kommt: Warum das Ende des Deputatsmodells unausweichlich ist – und was das für Schulen bedeutet (News4Teachers). Zeitenwende.

p) Der Kulturbetrieb ist so dünnhäutig geworden (Welt). Das sagen ja grad die richtigen.

q) Der zweite Teil der Serie zu Swords&Sorcery-Filmen. (Dreams of Which House)


Fertiggestellt am 18.08.2025

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