Sterben gehört sicher zu einer der unerfreulichsten Erlebnisse, die man so in seinem Leben erfahren darf. Leider hat man dabei kein Mitspracherecht, selbst wenn man in einer Demokratie lebt, aus der man nun scheiden soll. Lautstarker Protest, Hungerstreik oder gar ein weltweiter Aufruf, eine Petition zu zeichnen, sind zum Scheitern Verurteilte Aktionen, die nichts daran ändern können, weil in unserer globalen Weltordnung es so bestimmt wurde. Zwar suchen und forschen einige Idealisten nach Mitteln gegen AIDS, Krebs, oder entwickeln Hühneraugenpflaster weiter, aber das ist reine Geldmacherei. Letztlich wirken alle diese Präparate nichts, wenn man von einem unachtsamen Autofahrer über den Haufen gefahren wird. Optisch ist das meist auch keine Verbesserung. In diesen Fällen wird auch meist von der Aufbahrung im offenen Sarg verzichtet. Schaulustige könnte sonst der Leichenschmaus, den es als Belohnung für die Teilnahme an Beisetzungen gibt, nicht mehr munden. Auch solch vermeintliche und tröstende Aussagen wie, der Tod gehört zum Leben, sind eher irreführend.
Denn der Tod gehört nicht zum Leben, er löst es ab. Parkplatzsuche gehört zum Autofahren, ein eingegipstes Bein zum Skifahren, Briefträger und Rechnungen sind untrennbar miteinander verbunden, aber Tod und Leben treffen nie aufeinander. Auch diese religiösen Minderheitsmeinungen, es gibt ein Leben nach dem Tod, werfen Fragen auf. Warum soll ich aus meinem schönen Leben gerissen werden und sterben, um dann wieder zu leben? Das macht doch irgendwie keinen Sinn. Wer hat sich sowas nur ausgedacht. Ich habe da die Bestatterindustrie schwer im Verdacht. Denn nur die haben doch was davon. Und natürlich der Leichenschmausschnittchencaterer. Ja gut, die geldgierigen Verwandte, die seit Jahren auf das Ableben der alten Erbtante hinfiebern, die sich jedoch zäh am Leben hält, nur um die gesamte Familie zu ärgern. Als einen weiteren Aspekt, was gegen einen Tod spricht, sind gehaltene Grabreden, die meist so verlogen sind, dass der Betroffene ungehalten ist, wäre er nicht tot und somit wehrlos sich den Sermon anhören muss in seiner engen Kiste. Mehr gelogen wird nirgends mehr als auf einem Friedhof. Man könnte den Eindruck gewinnen, es sterben nur Gutmenschen. Und was bitteschön ist mit den ganzen Arschlöchern? Haben die ein lebenslanges Bleiberecht? Niemals habe ich einen Trauerredner oder Pfarrer sagen hören: „Wir sind dankbar, das er von uns gegangen ist.“ Obwohl er sicherlich für einen solchen Satz viel Zustimmung bekommen würde. Ich wünsche mir mehr Wahrhaftigkeit und ehrliche Worte.
Ein Depp bleibt auch ein Depp im Tode. Trotzdem weint dann alles, weil es sonst einen schlechten Eindruck macht. Statt auf seinem Grab Freudentänze aufzuführen, was angebrachter wäre. Da würde dann auch mehr Stimmung aufkommen. Die ist ja für gewöhnlich eher getragen und wenig hoffnungsfroh. Der alte Griesgram ist tot und niemand zeigt seine Freude darüber. Stattdessen stehen alle um das Grab herum, mit vorgetäuschten Trauermienen und drücken sich ein Tränchen raus, nur weil das von ihnen gesellschaftlich erwartet wird.
All diese Überlegungen haben mich zu der Ansicht kommen lassen, ich entsage dem allgemeinen Trend zum Sterben oder aber, wenn es dennoch gegen meinen erklärten Willen eintrifft, untersage ich zu Lebzeiten noch, mir am Grab zu huldigen.
Nicht weil es nichts zu huldigen gäbe, sondern weil ich niemanden dazu nötigen möchte, eine Veranstaltung zu besuchen, die auf einer depressiven Grundstimmung aufgebaut ist.
Entschuldigung, ich muss kurz den Schreibfluss unterbrechen, mein Telefon klingelt. Bin gleich wieder da.
Jetzt haben wir den Salat! Als hätte ich es geahnt. Kaum schreibt man etwas unterhaltsames über den Tod, schon ereilt es mich. Eine mir völlig wildfremde Frau rief mich an, um mir unter Tränen mitzuteilen, ihr Mann Peter sei gestorben und mich als seinen Grabredner zu bestimmen, weil ich ja als Schriftsteller dafür prädestiniert sei. Am Mittwoch ist die Beisetzung und ich konnte der armen Frau es nicht abschlagen, weil mir so schnell keine Ausrede einfiel. Natürlich kann man so einen letzten Willen auch nicht einfach abschlagen. Wenn es der ausdrückliche Wunsch des Verblichenen war.
Man ist ja auch etwas geschmeichelt. Im Todeskampf galt sein letzter Gedanke mir. Er wusste meine kreative Schreibe zu schätzen. Wahrscheinlich war Peter überhaupt mein größter Fan. Natürlich kann er sich voll auf mich verlassen. Ich werde ihn würdigen, wie ihn noch niemals jemals gewürdigt hat. Die Menschen werden an meinen Lippen hängen und Rotz und Wasser heulen. Das bin ich meiner Fanbase schuldig. Gleich werde ich die Veranstaltung auf Facebook posten und mir vom Verlag Bücher schicken lassen, damit ich sie signieren kann und dann anschließend Verkaufen. Ich denke, es wird einen Run darauf geben. Jetzt brauche ich erst einmal einen neuen Anzug. Schwarz mit glutrotem Innenfutter. Stylisch und würdevoll. Damit sich alle Blicke auf mich richten. Dann beginne ich meine Hymne auf Peter zu schreiben. Bleibt nur noch eine Frage, wer ist dieser Peter. Ich kann mich nicht an ihn erinnern. Die heulende Witwe hat mir nicht mehr gesagt, als das er tot ist. Das macht mir meine Ode an Peter nicht leichter. Mir fehlen noch einige Hintergrundinformationen über ihn. Muss ich halt improvisieren.
Zunächst suchte ich einen Secondhandladen auf. Dort gab es, wie ich aus gut informierten Quellen wusste, erfahrene Traueranzüge. Bewusst entschied ich mich gegen einen traditionellen schwarzen Anzug, um zu zeigen, dass ich mich gegen jegliche Konventionen auflehne. Ich schlenderte so durch die Trauerbekleidung, die farblich sehr eindimensional daherkam. Kein Altrosa weit und fern. Die Verkäuferin, die mitten im dritten Frühling zu verordnen war, sah mich skeptisch an.
„Altrosa?“
„Altrosa!“, erklärte ich, um auch keinerlei Zweifel an meiner Wunschfarbe aufkommen zu lassen.
„Aber sagten Sie nicht, es solle für eine Trauerrede sein?“
„Ja für meine Erste und da möchte ich einen guten Eindruck machen.“, stellte ich stolz fest.
„Mit altrosa werden sie unvergessen sein.“, meinte die auf Erfolgsbasis hochmotivierte Verkäuferin.
„Outfit und Trauerrede sollen ja miteinander korrespondieren.“, offenbarte ich ihr meine Absicht.
„Na da wird der Verstorbene aber schauen!“, sagte sie kühl, trocken und humorlos.
„Ich denke, mit einer Reaktion seinerseits wird wahrscheinlich nicht zu rechnen sein. Auch wenn die Party für ihn geschmissen wird.“, konterte ich ihre unqualifizierte Äußerung.
Die Dame schwieg. Deutliches Zeichen, sie hatte sich meinem Humor unterworfen, wohlwissend, nicht die geringste Chance gegen mich zu haben. Zufrieden nahm ich ihr wohltuendes Schweigen dankbar an.
„Haben sie denn wenigstens etwas in Postzustellergelb? Oder was in Telekom-magenta?“
Sie zuckte nur mit den Schultern, Ausdruck ihrer verkäuferischen Unfähigkeit. Ein komplettes Dienstleistungsdesaster. Der Offenbarungseid einer unterqualifizierten Quereinsteigerin, ohne Schulabschluss und Lebensperspektive. Hier war nicht nur das Sortiment zweite Wahl. Und da ich kein Mann bin, der mit seiner Meinung hinterm Berg hält, sagte ich ihr meinen Eindruck, den ich von diesem desolaten Verkaufsgespräch und der Serviceleistung hielt. Sie ließ mich kurzerhand stehen, wohl um ihr tränenüberströmtes Gesicht wieder zu restaurieren. Ein Wiederherstellungsgesicht bekam ich nicht mehr zu sehen, denn sie kehrte nicht mehr zurück. Unterdessen schlenderte ich weiter durch den Laden. Doch weder in der Abteilung für Angler und Jäger, noch in dem abgetrennten Fetischbereich für Sadomaso fand ich, was ich suchte. Alles nur schwarz und düster. Lack und Leder. Kein wohliges Frottee für die empfindliche Haut war zu finden. Zwar gab es dort ein preisgünstiges Angebot, einen Nietentanga, plus einer kostenlosen neunschwänzigen Katze, doch wegen meiner Katzenallergie musste ich vom Kauf Abstand nehmen.
Tief gefrustet verließ ich diesen zweitklassigen Laden und gab ihm später im Internet eine verheerende Bewertung, die ihren Umsatz einbrechen ließ. Bereits eine Woche später stand das Ladengeschäft leer.
Den Erfolg schrieb ich mir selbst, da es sonst keiner tat, auf die Fahne.
Auf dem Nachhauseweg kam ich an einem Militärshop vorbei. Spontan wie ich Nuneinmal bin, trat ich mutig ein.
„Darf man auch als Pazifist reinkommen?“, rief ich vorsichtig an der Tür.
Der Mann mit dem Maschinengewehr im Anschlag, nickte knapp und grüßte dann militärisch zackig.
Eingeschüchtert, aber optimistisch, trat ich mutig ein.
„Na Kamerad! Willkommen in der Männerwelt. Rührt euch!“, befahl der wahrscheinlich ehemalige Fremdenlegionär oder verurteilter Mörder.
Langsam löste sich meine Anspannung.
„Ich suche einen Anzug, zwecks einer Grabrede.“,sagte ich vorsichtig, um ihn nicht unnötig zu provozieren.
Nur zu gut kenne ich die zuverlässige Funktionalität von Maschinengewehren aus diversen Rambo-Filmen und weiß um ihre überzeugende Durchschlagskraft.
Selbst ein Flanellhemd bietet da nur unzureichenden Schutz. Folglich war ich äußerst vorsichtig mit meinem delikaten Ansinnen, denn ich bin ja nicht von Sinnen.
„Herr Kamerad“, begann ich sachlich und die Form wahrend, um seine geneigte Gunst zu gewinnen.
Der Scharfschütze sah mir lange in die Augen. Sein Gesicht verfinstert, dem Feind in den Weg gestellt. Ich wagte, kaum zu atmen. Er hochgerüstet, ich erblickte ein Bowiemesser an seinem Gürtel, direkt neben einer Batterie von Handgranaten. Offenbar war der finster dreinschauende ehemalige Kriegsveteran gut gewappnet, falls renitente Kundschaft den Laden betreten sollte. Mit seinem gefleckten Tarnanzug in Camouflageoptik, sah er jedenfalls sehr schmuck aus, was mir sofort auffiel.
Mein „Herr Kamerad“ missfiel ihm, was er sofort in militärischer Manier feststellte und mich zu zehn Liegestützen verurteilte. Weisungsgemäß warf ich mich auf den Boden und zählte laut die Ausführung der Strafe vor. Bei „Drei“ kam ich bereits in einen atemnotähnlichen Zustand. Die „Vier“ geröchelt, bei der „Sechs“ wurde mir schwarz vor Augen und an die „Sieben kann ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Erst zwei kräftige Wangenschläge ließen mich wieder in die Welt zurückkehren.
„Noch drei!“, befahl er zur Aufmunterung.
Aus unbändiger Angst vor noch drakonischeren Strafen kam ich dem Befehl nach. Ansonsten wäre mir desertieren in den Sinn gekommen, doch die Angst, auf der Flucht erschossen zu werden war mir die Sache nicht wert. Also warf ich mich erneut zu Boden und tat, was zu tun meine Pflicht war. Dank der unfreiwilligen Pause, durch die vorherige Bewusstlosigkeit, hatte ich genug Kräfte entwickelt, um die restlichen qualvollen drei Liegestütze absolvieren zu können.
„Stillgestsanden!“, rief der Söldner, als ich mich erhoben hatte.
Seine klare Sprache imponierte mir und ich war froh, an so einen kompetenten Verkäufer geraten zu sein.
„Kamerad, du kannst jetzt deine Meldung machen!“
„Einen militärisch ausgerichteten Traueranzug bitte, der dem ihren gleicht.“, rief ich schneidig.
Im hinteren Teil des Ladens befand sich die Kleiderkammer und wortlos drückte er mir eine Uniform in die Hand.
„Im Hinterhof ist ein Schützengraben ausgehoben. Dort Anziehen. Ausführung jetzt!“, befahl das ehemalige Frontschwein.
Augenblicklich ging ich im Laufschritt dorthin und ging in dem Schützengraben in Deckung vor den Blicken der Nachbarschaft. Anschließend trat ich wieder, in reih und Glied vor ihm an, wo ich sorgfältig gemustert wurde. Ich legte Teile meines Solds hin und meldete mich bei ihm ab. Zufrieden mit der kompetenten und zuvorkommenden Bedienung ging ich nach Hause, wo noch der schwerste Teil auf mich wartete. Das Schreiben an der Grabrede. Sie muss aufwühlend, herzergreifend und vor allem wahrhaftig sein. Kein belangloses Geplänkel. Keine verlogenen Plattitüden. Keine Unwahrheiten. Sensibel und der Situation angemessen. Leidenschaftlich und dennoch zurückhaltend. Mich nicht in den Mittelpunkt stellen, selbst wenn es das Publikum lautstark fordert. Das fordert natürlich eine enorme Disziplin von mir. Die Angst dabei meine Zuschauer vor den Kopf zu stoßen, ist allgegenwärtig. Aber es soll einzig und alleine um die Erinnerung von Peter gehen. Bleibt nur noch die Frage aller Fragen, die mir nicht ganz unwichtig erscheint. Wer ist Peter? Oder besser gefragt, wer war Peter? Kannte ich ihn und wenn Ja, woher kannte ich ihn? Mein elektronisches Adressbuch gab darüber keine Auskunft. Doch diese Frage konnte ich auch noch später klären. Zunächst stand für mich die Ausarbeitung der Grabrede im Vordergrund.
Nun saß ich da, in meiner winzigen Kemenate und ließ mich inspirieren. Doch schien es, als sei die Inspiration in einen Bummelstreik getreten zu sein. Jedenfalls hatte sie dieses Zimmer nicht betreten, oder aber sie stand regungs- und lautlos unsichtbar, hier irgendwo herum und verweigerte sich mir. Das waren keine guten Voraussetzungen, denn bereits in drei Tagen sollte der große Tag sein. Notfalls musste ich wohl eine Verschiebung beantragen, wenn nicht bald die Muse mich küssen würde. Doch auch die Muse, die es scheue Reh, erschien nicht und verweigerte mir einen ihrer legendären heftigen Zungenküsse. Es schien, als hätte sich die Welt gegen mich verschworen. Das sorgte bei mir für Verstimmung. Auch das Regulativ meiner Verdauung kam aus dem Gleichgewicht. Das über Tage eingenommene Speisenangebot weigerte sich beharrlich, mich wieder zu verlassen. Krämpfe waren die Folge. Auch die Zufuhr eines Ganzen verdauungsförderndes Glas Pflaumenmus brachte keine Linderung. Ich wechselte Raum und Sitzmöbel. Mein Porzellanthron empfing mich mit kühler Zurückhaltung. Nachdem ich mich gemütlich eingerichtet hatte, mit Kaffee, Snacks, Zeitschriften und Zigaretten, wartete ich auf eine erleichternde Erlösung. Mehr konnte ich nicht machen. Ich wartete in voller Ungeduld. Doch der Trakt der Verdauung erwies sich als stur und unnachgiebig. Das Porzellan war bereit, ich war bereit. Wir hatten uns auf ein Geben und Nehmen verständigt. Doch der Lauf der Natur hatte sich gegen uns verschworen. Erst eine nächtliche Sitzung brachte die gewünschte Erleichterung. Mein Körper erholte sich rasch von der Erschütterung und noch in der Nacht begann ich mit dem Ausformulieren meiner Rede. Zwar standen mir nur wenige spärliche Informationen zur Verfügung, die ich gegen den Verblichenen vorbringen konnte. Immerhin war mir sein Name bekannt. Und somit auch sein Geschlecht. Sowie sein derzeitiger Bestimmungsort. Eine Polizeiakte hatte ich zwar nicht zur Einsicht, da musste ich eben improvisieren. Den ersten Satz, sozusagen die Eröffnung, hatte ich bereits nach geraumer Zeit ausformuliert. Er lautete: „Peter ist tot.“ Damit waren die Fakten erklärt. Aber dann begann der anstrengende Teil meiner Aufgabe, die ich leichtfertig angenommen hatte. Ich dachte nach, ich grübelte, ich sinnierte. Doch so leicht wie der erste Satz, wollte mir ein zweiter nicht gelingen. Mitten im Kreativprozess suchte mich eine Schreib- und Denkblockblockade heim. Ein unbeschreibliches entsetzliches Gefühl. Ich war leer. Geistiges Vakuum. Hilflos und verzweifelt stierte ich auf das leere Blatt, auf dem doch rührende Worte über Peter stehen sollten. Meine Erinnerungen an ihn. Meine gemeinsamen Erlebnisse. Episoden unserer Freundschaft. All dies gehörte dort auf das Blatt verewigt, um es später der Menschheit vorzutragen, zu deren Erbauung. Aber was soll man amüsantes über einen Menschen schreiben, von dem man nur den Namen kennt? Langsam stieg in mir der Gedanke auf, ich hätte vielleicht absagen sollen, wegen einer Sprechblockade vor Publikum oder einer Angststörung. Auch das Vorschieben eines chronischen Schnupfenleidens wäre denkbar gewesen. Doch ich tat es nicht und war nun verdammt mir etwas aus den Fingern zu saugen. Doch plötzlich, mitten hinein in meine tiefe Depression, ereilte mich ein Blitzgedanke, der mich aus meiner misslichen Lage befreien wollte. Ich folgte dem Geredanken auf dem Fuß und strebte auf den Friedhof, um mir dort Inspiration zu holen. Glücklicherweise fand dort gerade eine Beisetzung statt. Jedoch eine von der Sorte, wie ich sie nur allzu gut kannte. Traurig und deprimierend. Und eine Rede, die an Trostlosigkeit kaum zu überbieten war. Auch der anschließende Leichenschmaus bot wenig Unterhaltung. Ich ließ mir meine Ration von Schnittchen einpacken und verließ das Geschehen. Das viele Rumgeheule schlug mir aufs Gemüt. Ich nahm mir fest vor, dies bei meiner Veranstaltung nicht zuzulassen. Hochmotiviert setzte ich mich zuhause hin und begann intensiv mit nachdenken. Peter, so meine feste Überzeugung, verdient etwas Besseres. Den Gedanken, ihn mit Versen zu würdigen, ließ ich nach vier Strophen fallen, da meine Reinkünste meinem Anspruch nicht genügten. Ich schrieb die ganze Nacht hindurch, ohne Rücksicht auf mich zu nehmen und am morgen war das Werk vollbracht. Gerade noch rechtzeitig, denn nachmittags war die Beisetzung. Ich zog meine Traueruniform an, legte noch etwas Camouflage, in den Farben grün und schwarz, auf und machte mich auf den Weg. Es war ein schwerer Gang, denn eine gewisse Nervosität konnte ich nicht verhehlen. In der letzten Instanz, einer kleinen Pinte nahe dem Friedhof, nahm ich ein Beruhigungsbier und einen Aufmunterungskorn zu mir. Doch die Anspannung wich nicht. Entgegen meiner Gewohnheit, denn trinken widerspricht meiner Grundeinstellung, spendierte mir die Wirtin ein, wie sie es nannte, Leichengedeck. Dies begründete sie mit der Verfassung, die ich ausstrahlen würde.
„Sie sind ja leichenblass.“, stellte sie besorgt fest und stellte mir ein Dunkelbier, sowie einen selbstgebrannten Schnaps hin, der sehr modrig im Abgang war. Ich spürte, wie die Lebensgeister zurückkehrten. Meine Stimmung und mein selbstbewusst waren wieder da.
„Frau Wirtin, noch ein Gedeck auf die Schnelle. Denn mir steht noch ein schwerer Gang bevor.“, erklärte ich, mit Blick auf den Friedhof.
„Ja trinken sie. Trinken hilft beim Vergessen.“, gab sie mir noch eine Weisheit mit auf den Weg.
Schnell griff ich nach meinem Manuskript, um mir das Gesagte noch in die Rede einzubauen, denn es waren so wahre Worte, die die gastronomische Philosophin so leichtfertig dahingesagt hatte. Ein leichter Schrecken überkam mich, als ich mit meiner Hand aus der leeren Uniformtasche zurückkehrte. Mein Manuskript lag noch zuhause auf dem Tisch. Um mich von dem Schrecken zu erholen, ließ ich mir rasch noch eines der köstlichen Leichengedecke geben. Das tat gut, gegen die Wut, gegen mich selbst. Denn was nützen die schönsten Worte, die Peter ein würdiges Andenken bereiten und in ein strahlendes Licht setzen sollen, wenn sie zuhause liegen. In hemmungslosem Zorn über mein Versagen des eigenen Gedächtnisses, bestellte ich noch ein Frustrationsgedeck, zwecks Abhilfe des geistigen Ungleichgewichtes, was mich ereilt hatte. Am Fenster liefen bereits die ersten Zuschauer vorbei, die sicherlich in gespannter Vorfreude auf mein wortreiches Requiem waren. Diese meine Fans zu enttäuschen, ein schrecklicher Gedanke für mich. Doch längst hatte mich der Mut verlassen. Ohne Manuskript, an dem ich mich rhetorisch festhalten konnte, wie sollte ich so vor sie treten und Peter einige gute Ratschläge mit auf den Weg geben. Unter Tränen vertraute ich der Wirtin meine vertrackte Situation an. Sie zeigte sich, wofür ich ihr unendlich dankbar war, sehr verständnisvoll. Keine Vorwürfe, kein Wort über mein Versagen, kamen über ihre Lippen. Stattdessen gab sie mir noch ein Gedeck auf Kosten des Hauses. Dann setzte sie sich zu mir an den Tisch, nahm mein feuchtes Gesicht und drückte es gegen ihren, vom lieben Gott gut gemeinten Busen. Ich versank fast vollkommen zwischen den Erhebungen. Warm und wohlig war es dort und ich richtete mich häuslich darin ein. Vergessen waren Peter und die ganze ärgerliche Geschichte mit dem vergessenen Manuskript. Erst das Ertönen der Totenglocke, die unbarmherzig mich in die Realität zurückholte, erinnerte mich an das, was es noch zu tun galt. Rasch erhob ich mein Antlitz und mir wurde schwarz vor Augen. Ich hielt mich an ihrer Brust fest, um nicht umzukippen. Akutes Kreislaufversagen, attestierte ich mir, mittels einer Blitzdiagnose. Die Wirtin, die scheinbar Gefallen an meiner Hand fand, wusste sofort Rat.
„Da hilft nur ein Gläschen Sekt!“, meinte sie mitfühlend. Sorgsam legte sie meine Hand zur Seite, stand auf und kehrte mit einem Piccolo zurück. Vorsichtig nahm ich Schluck für Schluck von ihrer Medizin zu mir. Langsam kehrten meine Lebensgeister wieder.
„Sie müssen jetzt gehen. Die Totenglocke hat zum zweiten Mal gerufen.“, sagte die Wirtin sanft, aber bestimmt.
Ich erhob mich, richtete meine Uniform und setzte das Passende Barrett wieder auf, was mir herabgefallen war, als ich mich in ihr versenkte.
„Danke, Danke und nochmals Danke!“, bedankte ich mich bei ihr für all das, was sie für mich getan hatte.
Doch sie bekam meine Huldigung für sie nicht mit, denn just rechnete sie meinen Bierdeckel zusammen. Dann forderte sie eine Summe, die ich anstandslos beglich. Sie geleitete mich noch stützend zur Tür, an deren Rahmen ich zweimal Hängen blieb. Kaum auf der Straße schloss sie hinter mir die Tür und ich war wieder alleine. Alleine und auf mich selbst gestellt. Ohne Text, der mir zur Hilfe gedacht war. Schwarze Männer und schwarze Frauen liefen an mir vorbei und beäugten mich. Offensichtlich wussten sie alle, dass ich es sein musste, der hier und heute die letzten Worte für Peter zu sprechen hatte. Während ich mich, an den Hauswänden abstützend, langsam vorwärts bewegte, rief ich ihnen zu: „Ja ich bin es. Der Mann, der Peter einen würdigen Abschied bescheren wird.“
Als Letzter betrat ich den Friedhof. Ich orientierte mich, denn ich wusste ja nicht, wo Peter liegt. Zum Glück sah ich eine schwarze Menschentraube und vermutete stark, dort findet das Event statt. Ich schob mich durch die Menge durch, doch den Höhepunkt hatte ich schon verpasst. Der Sarg war bereits heruntergelassen.
„Wer ist denn hier der Veranstalter?“, fragte ich eine tränenüberströmte Frau.
Sie sah mich nur mit glasigen Augen an und war mir keine große Hilfe. Während die anderen ein Lied zum besten gaben, ging ich auf den Pfarrer zu, der eingerahmt von zwei Messdienern dastand.
„Herr Pfarrer, wann soll ich denn sprechen?“, erkundigte ich mich höflich und so diskret, wie es nur ging.
Eine gewisse Fassungslosigkeit konnte sein Gesicht nicht verhehlen.
„Mein Sohn, du bist zu etwas spät. Der Sarg wurde ja bereits hinabgelassen.“
„Dann muss er eben wieder hoch.“, forderte ich lautstark, mein Recht einfordernd.
„Leise mein Sohn, leise. Bedenke, wo du hier bist.“, ermahnte der Geistliche.
„Ich will jetzt Peter sagen, was ich ihm zu sagen habe!“, kämpfte ich um mein Rederecht.
Die Zuschauer verstummten und sahen uns an. Dem Pfarrer war das sichtlich unangenehm und wirkte zunehmend verunsichert. Ich nutzte diese Schwäche und forderte nun nachdrücklich, den Sarg wieder hervorzuholen, damit Peter anschließend an meine Worte, wieder herabgelassen werden kann, diesmal dann endgültig und für alle Zeit. Ein Gemurmel in der schwarzen Menschentraube hub an. Einige wollten bereits gehen, da es zu allem Übel auch noch zu regnen begann.
„Hiergeblieben!“, befahl ich, „hier verschwindet keiner, solange nicht der verblichene Peter seine ihm zustehenden Abschiedsworte erhalten hat.“
„In Gottesnamen, dann holt ihn halt wieder hoch!“, gab der Pfarrer schließlich nach.
Der Regen hatte ihm wohl zugesetzt. Zwei stattliche städtische Leichengräber, beendeten ihr zweites Frühstück und murrend gingen sie zur Arbeit. Der Sarg wurde hochgehievt und meine große Stunde war gekommen. Gezwungen, aus dem Gedächtnis zu rezitieren, was ich zuhause aufnotiert hatte, lief ich zu Hochform auf. Jedenfalls soweit ich mich im Nachhinein erinnern konnte. Denn nach dem Abfeuern der Schlusspointe kam es zu einem unbeabsichtigten Fehltritt meinerseits, infolge einer plötzlich eingetretenen Gleichgewichtsstörung. Dies führte zu einem unfreiwilligen Höhepunkt, der ansonsten höchst seriösen Veranstaltung. Doch der reihe nach. Zunächst, nach dem ich mir das Wort mühsam erstritten hatte, grüßte ich gendergerecht alle Anwesenden und im besonderen Peter. Entgegen meiner bisherigen Erfahrung öffentlicher Verlautbarungen wurde mir ein freundlicher Begrüßungsapplaus verweigert. Dies führte zwar bei mir zu einer kurzen Irritation, ließ mich jedoch nicht von meiner Pflicht abhalten. Da er jedoch eingeplant war, sah ich mich genötigt, aus rein dramaturgischen Gründen, ihn mir selbst zu spenden. Jedoch achtete ich akribischst darauf, den Applaus nicht zu euphorisch aufbrausen zu lassen, da man mir sonst übertriebenen Geltungsdrang vorwerfen konnte. Denn nicht ich stand im Mittelpunkt, sondern der vor mir in der Kiste befindliche Peter. So wie ich Peter kenne, hätte er miteingestimmt, wenn es ihm in seiner derzeitigen Situation möglich gewesen wäre.
Hier nun folgt, für die Nachwelt überliefert, der fragmentarische freigehaltene Redebeitrag, soweit ich ihn aus der Erinnerung wiederherstellen konnte.
„Hoch zu verehrendes anwesendes Publikum jeglichen Geschlechts. Lieber Peter. Schön das ihr alle da seid. Wind und Wetter konnte euch nicht dran hindern hier heute zu erscheinen. Wir sind heute gekommen, um mit Peter ein Letztes mal kräftig zu feiern, denn er hat sich in einer einsamen Entscheidung dazu entschlossen uns zukünftig alleine zu lassen und zu seinen Ahnen aufzubrechen. Die Motive dazu liegen meines Wissens im Dunkeln. Eine Rücksprache mit ihm war diesbezüglich nicht mehr möglich, weil er bereits ablebte, ehe ich ihn kontaktieren konnte. So sind mir seine letzten Worte auch nicht überliefert, jedoch dürften sie wohlwollend uns allen gegenüber gewesen sein. Wie dem auch sei, jedenfalls war es Peters letzter wusch auf Erden, von mir wortreich von dieser Welt verabschiedet zu werden und nur allzugern kam ich dieser großen Bürde nach. Doch was soll ich über Peter sagen, was sie ohnehin nicht bereits wüssten? Deshalb verliere ich darüber auch kein Wort. Peter war und das kann man ohne Übertreibung festhalten, ein Mensch. Ein Mensch, wie jeder von uns. In guten wie in schlechten Zeiten. Die Lücke, die er hinterlässt, ist nun von uns zu schließen. Wir, die ihn ja so gut kannten, werden ihn nie vergessen. Und die, die ihn nicht kannten, haben ihre Chance dazu vertan. Dort wo du jetzt bist, wirst du neue Freunde finden und man kann nur hoffen, dass es dort auch Kabelfernsehen gibt. So viele amüsante Erlebnisse verbanden uns, die hier zum Besten zu geben nicht meine Absicht sind, denn nicht alle sind von jugendfreier Natur. Und so rufe ich dir zum Abschied zu: Bleib, wie du bist. Und nun stimmt alle mit mir ein, in den Schlachtruf seines Lebens. Ein dreifach Donnerndes helau.“
Nach Aussagen anwesender sei ich beim Dritten helau in die ausgehobene und auf Peter wartende Grube gestürzt. Meine Erinnerung daran bestätigen dies auch. Noch auf dem Krankenbett erhielt ich zahlreiche Anfragen, auch auf ihrem Ableben zu sprechen, denn ich sei so erfrischend gewesen. Jedoch musste ich alle Angebote absagen, da man sich nicht auf eine einvernehmliche Gage einigen konnte.
Noch im Krankenhaus ereilte mich ein gewaltiger Blumenstrauß sowie eine aufmunternde Nussecke der Witwe Peters, mit einer zähneknirschenden Entschuldigung.
Sie hatte versehentlich, dank eines unbeabsichtigten Zahlendrehers ihrerseits, mich angerufen.
Dennoch war sie froh, dass ich die Aufgabe der Trauerrede übernommen hatte, nach siebzehn erfolgten Absagen. Ich hatte mir ohnehin schon so etwas gedacht, denn bis heute kenne ich keinen Peter. Dennoch wird er für mich unvergessen bleiben.

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