Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Probleme mit der Bezahlkarte für Asylbewerber
Die seit April 2024 in sächsischen Landkreisen eingeführte Bezahlkarte für Asylbewerber soll Behörden entlasten, verfehlt jedoch ihr Ziel, kritisiert der Sächsische Flüchtlingsrat. Laut Dave Schmidtke häufen sich Probleme, da jede Überweisung extra genehmigt werden muss und die Behörden überlastet sind. Dies führt zu Mahnungen und Schwierigkeiten, wie der Kündigung eines Deutschlandtickets, das ein junger Mann für seinen Sprachkurs benötigt. Ein 12-jähriger Junge konnte wegen der Karte fast nicht mehr am Fußballtraining teilnehmen, da sein Verein kein passendes Kartenlesegerät hat. Wochenmärkte und kleinere Läden akzeptieren die Karte oft nicht, und auch im Supermarkt kann sie abgelehnt werden, was zu peinlichen Situationen führt. In der Schule können Kinder kein Bargeld mehr für Materialien oder Ausflüge mitnehmen. Ein Pilotprojekt zur Einführung der Bezahlkarte soll bis Januar 2025 bundesweit umgesetzt werden, mit dem Ziel, Geldzahlungen an Schleuser zu verhindern und Kommunen zu entlasten. (T-Online)
Es war völlig unvorhersehbar, dass ein Bezahlkarte, die von Kommunen und Landkreisen jeweils unabhängig eingeführt wird, ein wahres Bürokratiemonster mit riesigen Flurschäden wird. Also, für alle außer denjenigen, die auch nur eine Sekunde nachdenken. Die Karte hatte von Anfang an nur den Sinn, den Geflüchteten zu schaden. Das zumindest hat sie geschafft. Dabei ist das Ziel an sich ja nicht illegitim: der Staat kann kein Interesse an Bargeldtransfers ins Ausland haben, die aus Sozialleistungen an Geflüchtete resultieren. Nur war die Herangehensweise ungefähr so sinnvoll wie die Corona-Test-Apps auf Landkreisebene. Solche Sachen machen nur Sinn, wenn sie skalieren, und das heißt in dem Fall: wenigstens Landesebene, aber eigentlich Bund. Und angesichts der Kompetenzen der staatlichen Behörden konnte die Lösung auch nur Outsourcing an den Privatsektor sein. Letztlich aber laufen die Karten in dasselbe Problem wie die Lebensmittelmarken in den USA: sie schaffen eine riesige Bürokratie, die den Betroffenen schadet und den Staat deutlich mehr kostet, als es nützt. Mit dieser Art der Ineffizienz aber haben Konservative wenig überraschend kein Problem. - Für eine weitere "Überraschung" dieser Art siehe Resterampe e).
2) 380 Milliarden Euro Schaden
Während die Ampel-Koalition über den Haushalt für das nächste Jahr streitet, bietet die Wiedererhebung der Vermögenssteuer eine Möglichkeit, Milliarden für notwendige Investitionen zu generieren. Seit der Aussetzung der Steuer im Jahr 1996 haben die öffentlichen Haushalte etwa 380 Milliarden Euro verloren. Laut einer Studie von Netzwerk Steuergerechtigkeit und Oxfam könnte die Besteuerung sehr hoher Vermögen demokratiegefährdende Vermögenskonzentration verringern und finanzielle Mittel für sozialen Zusammenhalt und Klimaschutz bereitstellen. Deutschland weist laut Global Wealth Report die höchste Vermögensungleichheit in der EU auf. Obwohl die Grünen und die SPD bei der Bundestagswahl 2021 für die Wiedererhebung der Vermögenssteuer eintraten, blockierte die FDP dies. Studien zeigen jedoch, dass Steuerflucht kein großes Problem darstellt. Durch die Vermögenssteuer hätte der Fiskus im vergangenen Jahr etwa 30 Milliarden Euro einnehmen können, was insbesondere den Kommunen zugutekommen würde, um den erheblichen Investitionsstau zu bewältigen. (Simon Poelchau, taz)
Genauso wie die Debatte um den Rechtsextremismus (siehe Fundstück 2) ist die Debatte um die Vermögenssteuer eine, die vor allem den jeweils eigenen politischen Prämissen einen Spiegel vorhält. Seit Jahren werden dieselben Argument ausgetauscht: Progressive und Linke sehen ein gewaltiges Reservoir illegitim ungenutzter Ressourcen, während Konservative und Liberale gebetsmühlenartig die technische Unmöglichkeit des Aufkommens beschwören oder das ganze Vorhaben gleich für sozialistische Enteignung halten. Ich habe nicht die geringste Ahnung, welche der beiden Seiten Recht hat. Es ist aber auch recht egal, weil die Argumente ohnehin nur die eigene Wertebasis im besten Licht präsentieren sollen.
In Frankreich wird nicht nur ein neues Parlament gewählt, sondern auch eine grundlegende Frage verhandelt: Wie kann die Demokratie vor dem Rechtsextremismus geschützt werden? Eine breite Koalition aller anderen politischen Kräfte oder eine klare Rückkehr zum Links-rechts-Gegensatz? Über 200 Kandidaten, vor allem linke und liberale, haben sich vor der zweiten Wahlrunde zurückgezogen, um eine Mehrheit des Rassemblement National (RN) zu verhindern. Der Ökonom Thomas Piketty unterstützt eine Rückkehr zum bipolaren Links-rechts-System, um das Vertrauen in die demokratischen Institutionen wiederherzustellen. Er argumentiert, dass der RN in ländlichen Regionen an Zustimmung gewinnt, weil diese Gegenden unter Deindustrialisierung und schlechter öffentlicher Versorgung leiden. Piketty kritisiert Macrons Machtstrategie, die vor allem wohlhabende Globalisierungsgewinner vereint und Rechtsextremen Auftrieb gibt. Die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe teilt diese Ansicht und betont die Notwendigkeit klarer politischer Gegensätze. Eine stärkere Polarisierung könnte dem Gefühl politischer Alternativlosigkeit entgegenwirken und die demokratische Selbstwirksamkeit stärken. Gleichzeitig wird vorgeschlagen, Bürgerräte zur Förderung der Partizipation und zur Entideologisierung auf kommunaler Ebene einzuführen. (Nils Markwardt, ZEIT)
Nils Markwardt ist in meinen Augen noch viel zu freundlich mit Pikettys Analyse. Mich ermüdet diese Debatte wirklich nur noch. Die Empirie gibt einfach schon auf den ersten Blick nicht her, was da immer behauptet wird; letztlich nutzen alle die Rechtsextremen immer nur als Projektionsfläche für ihre eigenen Wünsche und Ansichten. Der Staat soll mehr investieren und Reichere höher besteuern? Natürlich, der Rechtsextremismus ist stark, weil er das nicht tut. Der Staat soll konservativen Kulturkampf betreiben und Einwanderung bekämpfen? Natürlich, der Rechtsextremismus ist stark, weil er das nicht tut. Immerhin ist niemand so verblödet zu behaupten, dass zu wenig Klimaschutz und Gendern die Rechten stark machen würde, wenigstens habe ich das noch nirgends gelesen. Ein echter Lichtblick ist das aber auch nicht.
Solange die Debatte ständig nur als Spiegel der eigenen politischen Wunschvorstellungen geführt wird, wird sie nirgendwohin führen. Der Aufstieg der Rechtsextremen kann ohnehin zwangsläufig nur monokausal sein; ihre Wählenden sind kein monolithischer Block. Spielt ländliche Unterentwicklung eine Rolle? Zweifellos. Lehnen die Leute Zuwanderung ab? Ebenso zweifellos. Wollen sie Reiche höher besteuern? Jede Umfrage sagt ja. Wollen sie, dass der Staat weniger aktiv ist und die Steuern senkt? Auch das bestätigt jede Umfrage. Wenn man richtig fragt kann man sogar noch ein Bekenntnis zu mehr Klimaschutz in den Topf werfen. Lässt sich das alles in eine kohärente Politik gießen? Nicht in tausend kalten Wintern.
Auch Pikettys Theorie, dass es zwei Lager bräuchte, halte ich für eigensüchtige Verblendung. Wie Markwardt richtig schreibt hat im UK gerade der Kandidat gewonnen, der bewusst auf Lagerbildung verzichtet hat, während die massive Polarisierung zweier scharf getrennter Lager in den USA nicht eben zu beigetragen haben, das Vertrauen in Politik oder das Gefühl von Alternativen zu stärken. Dass Piketty gerne eine starke radikale Linke hätte, glaube ich sofort. Aber er will das, weil er deren politische Haltung unterstützt. Dass darin das Rezept gegen den Aufstieg des Rechtsextremismus liegt, halte ich für eine gewagte These. Milde ausgedrückt.
4) Some Material May Be Inappropriate: The PG-13 Rating at 40
Vor vierzig Jahren wurde das PG-13-Rating eingeführt, was die amerikanische Filmindustrie nachhaltig veränderte. Auslöser waren Steven Spielbergs Filme „Indiana Jones und der Tempel des Todes“ und „Gremlins“, die 1984 veröffentlicht wurden und für ihre gewalttätigen Inhalte kritisiert wurden. Vor der Einführung von PG-13 gab es nur die Ratings G, PG, R und X. Die neuen Filme führten zu einer Änderung, da sie die Grenzen des PG-Ratings überschritten, aber nicht extrem genug für ein R-Rating waren. Das PG-13-Rating sollte Inhalte kennzeichnen, die für Kinder unter 13 Jahren ungeeignet sind. Rückblickend hat die Einführung des PG-13-Ratings zu einer Verschiebung geführt, bei der Gewalt in Filmen normalisiert und andere problematische Inhalte wie Sex und Drogenkonsum zunehmend vermieden wurden. Dies führte zu einer unausgewogenen Darstellung in Filmen, bei der Gewalt akzeptiert, aber andere Inhalte zensiert wurden. Ironischerweise sollte PG-13 ursprünglich Kinder vor Gewalt schützen, hat jedoch letztlich dazu beigetragen, Gewalt als normalen Bestandteil von Unterhaltungsmedien zu etablieren. (Matt Stoller Seitz, Roger Ebert)
Diese faszinierende Übersicht über die Entwicklung der amerikanischen Jugendschutzeinstufungen erinnert mich an eine ähnliche Evolution in Deutschland. In meiner Kindheit und Jugend wurde alles, was auch nur im Entferntesten an Gewalt erinnerte, sofort mit dem FSK-16-Label bedacht. Wenn gar Blut zu sehen war, gab es schnell das FSK-18-Label. Das änderte sich in den 1990er Jahren; ich mache immer noch "Robin Hood - König der Diebe" als einen Wendepunkt aus; der war damals ab 12 und reichlich düster und blutig. Bei Videospielen war es noch schlimmer: die berüchtigten "deutschen Versionen" entschärften Spiele durch lächerliche Krücken wie "es sind alles Roboter" und erhielten dann die USK-16-Einstufung. Man denke nur etwa an "Command and Conquer", ohnehin nicht besonders brutal, das die lächerliche Idee von designierten Kampfzonen hatte, in denen Roboter benutzt wurden. Vor der USK-16-Einstufung schützte das nicht. Erst "Age of Empires", dem man wohl einen pädagogischen Wert zusprach, erhielt eine völlig alberne USK-6-Einstufung, trotz der blutigen Schlachten. Kohärent war das alles nicht, und das ist noch, bevor wir die völlig außer Rand und Band agierende BPjS (heute BPjM) in die Betrachtung einbeziehen. Heute spielt das alles kaum eine Rolle mehr; die Jugend darf auch Gewalt in Spielen und TV konsumieren und ist immer noch nicht untergegangen.
5) Grüne Wirtschaft ohne Grüne?
Die Grünen stehen vor der Herausforderung, ihren ökologischen Modernisierungskurs weiterzuführen und dabei gesellschaftliches Vertrauen zu gewinnen. Seit ihrer Gründung haben sie sich von ideologisch geprägten Utopien zu einer „staatstragenden Systempartei“ entwickelt, die konkrete Gestaltungsaufgaben in Regierungsverantwortung umsetzt. Trotz dieser Fortschritte sind sie wieder auf etwa 10 Prozent der Wählerstimmen gefallen. Historisch gesehen haben sich Industrien immer an die jeweils Mächtigen angepasst und dabei Fortschritt ermöglicht. Heute haben viele Wirtschaftszweige erkannt, dass ihre Zukunft jenseits fossiler Energien liegt und investieren bereits massiv in den ökologischen Umbau. Dennoch gelingt es den Grünen bisher nicht, einen Pakt mit dem modernen Kapital zu schließen und gemeinsam Rahmenbedingungen für den Umbau zu schaffen. Um ihre Ziele zu erreichen, sollten die Grünen auf Kooperation mit der Wirtschaft setzen, anstatt interne Machtkämpfe auszutragen. Wenn ihnen das nicht gelingt, könnte die CDU diese Rolle übernehmen und den ökologischen Umbau vorantreiben. Die Grünen müssen schnell handeln, um ihren Einfluss und ihre Chance auf das Kanzleramt zu sichern. (Udo Knapp, taz)
Ich bin völlig bei Knapps Analyse. Wie so häufig zeigt Baden-Württemberg hier, wie das funktioniert. Die Grünen sind im Ländle vor allem deswegen aus dem urbanen Milieu ausgebrochen, weil es ihnen gelungen ist, einerseits Verbindungen zur Autoindustrie aufzubauen (Autos!) und andererseits große Gewinne bei den Landwirt*innen zu machen und damit auf dem flachen Land (oder, da BaWü, dem hügeligen Land) akzeptabel zu werden, das einst eine uneinnehmbare Bastion der CDU war. Auch die Bundespartei muss es schaffen, Verbindungen zur Wirtschaft zu bekommen. Dasselbe war ja auch lang Gerhard Schröders Erfolgsrezept; die SPD konnte auch nicht gegen die gesammelte Wirtschaft bestehen. Das hat gleichzeitig den netten Nebeneffekt, dass abgesehen von Policy-Erfolgen auch die Politics leichter werden, weil man nicht so leicht als realitätsfern und wirtschaftsfeindlich gebrandet werden kann. Ich fürchte aber, diese Strategie ist viel zu vernünftig für die Grünen.
Resterampe
a) Trumps Programm ist offen für alle.
b) Guter Punkt zu linkem Antisemitismus.
c) Analyse der UK-Wahl aus der Welt. Und eine vom Spiegel.
d) Deutschlandticket: Wie Christian Lindner seinen Verkehrsminister Volker Wissing hängen ließ.
e) Steffi Lemke verkündet Stopp von Klimaprojekten in China: „Betrugsverdacht bei 40 von 69 Projekten“.
Fertiggestellt am 05.07.2024
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