Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal komplett zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) „Die Infrastruktur bröckelt“ (Interview mit Aladdin el-Mafaalani)
Im Interview mit Aladin El-Mafaalani wird die aktuelle Situation der Integration in Deutschland diskutiert. Obwohl die Langzeitperspektive positiv erscheint, warnt der Soziologe vor verschlechternden Rahmenbedingungen, insbesondere im Bildungs- und Gesundheitssektor. Die steigende Zahl an Zugewanderten könnte schwerer zu integrieren sein, wenn die Infrastruktur nicht verbessert wird. El-Mafaalani kritisiert Sparmaßnahmen und fordert Investitionen in Bildung und Integration. Die Hamas-Proteste und der Nahostkonflikt werden als Bildungsherausforderungen betrachtet, da der Geschichtsunterricht nicht ausreichend auf die Diversität der Schüler eingeht. El-Mafaalani betont die Bedeutung einer positiven Zukunftsperspektive, um der zunehmenden Rückwärtsgewandtheit entgegenzuwirken. In Bezug auf Rassismus plädiert er für einen offeneren Diskurs und erklärt, dass Menschen Fehler einsehen und ändern sollten, anstatt sich zu schämen. Die gesellschaftliche Einbindung könne durch mehr Platz für diverse Perspektiven am Diskussionstisch gefördert werden. (Sabine am Orde, taz)
Ich spreche das Thema ja auch in meiner Artikelserie zum Stand der Schule an (siehe bislang hier und hier), aber ich halte die Hinweise hier noch einmal für bedeutsam. Wir wissen um die Defizite des Bildungssektors, wir beklagen die Probleme mit Migrant*innen, und trotzdem wird praktisch nichts getan, um das Thema zukunftsfest zu machen. Sehenden Auges ein Problem schlimmer werden zu lassen ist wirklich eine Spezialität der Deutschen dieser Tage. - Was die Nahostthematik angeht, fehlen mir ehrlich gesagt die direkten Erfahrungen (siehe zum Thema auch dieses Interview. Bei uns an der Schule spielt das im Guten wie im Schlechten glücklicherweise keine Rolle, was wohl auch an der vernachlässigbaren Zahl an Schüler*innen mit arabischem Migrationshintergrund liegen dürfte. Aber auch hier besteht eine gewaltige Herausforderung, der kaum angemessene Maßnahmen entgegenstehen.
Der Artikel bespricht die geopolitischen Auswirkungen des Konflikts im Nahen Osten, insbesondere im Israel-Palästina-Konflikt. Dabei wird auf die Ereignisse von 1973, dem Ausbruch des Jom-Kippur-Kriegs, verwiesen, der zu einem Embargo arabischer Öl produzierender Staaten führte. Die Autoren argumentieren, dass die USA seitdem gelernt haben, ihre Macht durch "netzwerkimperiale" Strategien auszuüben. Hierbei wird die Bedeutung von Finanzsystemen wie dem Swift-Netzwerk und Exportkontrollen, wie der "Entity List", hervorgehoben. Es wird auch betont, dass die scheinbar offenen Strukturen des Internets in Wirklichkeit durch leicht identifizierbare Engpässe kontrolliert werden. Die Autoren werfen einen skeptischen Blick auf Bestrebungen zur Neuausrichtung und betonen die andauernde Dominanz der USA im globalen Machtgefüge. Der Artikel schließt mit der Feststellung, dass eine Befreiung aus dem "unterirdischen Imperium" schwierig ist, und hinterfragt die Möglichkeit einer echten Neuen Internationalen Wirtschaftsordnung. (Quinn Slobodian, New Statesman)
Die These vom "Underground Empire" empfinde ich als sehr überzeugend. Die USA haben ihren Einfluss mit Ausnahme der Kolonien in Puerto Rico, den Pazifikinseln und den Philippinen nie über die direkte Verwaltung ausgeübt, sondern sich stets auf die "Soft Power" ihrer wirtschaftlichen Verknüpfung verlassen (und seit dem Zweiten Weltkrieg auch über das zunehmend weitgespannte Netz von Militärbasen in befreundeten Nationen). Wie abhängig wir aber von amerikanischer Infrastruktur sind, wird gerne ignoriert. Ob beim Internet oder GPS, bei der Lieferung von Rohstoffen oder im Finanzsektor, die amerikanischen Standards gelten für letztlich für uns alle und ermöglichen dem Land eine Vorreiterrolle, die annähernd losgelöst von ihren militärischen Fähigkeiten ist (die ihrerseits eine ganz eigene Qualität und Quantität besitzen, die nicht auch nur annähernd von irgendjemandem auf diesem Level herausgefordert wird). Zur Analyse von Abhängigkeitsverhältnissen ist das sehr geeignet. Ob es helfen kann, einen Krieg zu vermeiden, sei dahingestellt; Verflechtungen und Abhängigkeiten haben solche Idiotien leider bislang eher selten aufgehalten.
3) Tuesday Was Great for Democrats. It Doesn’t Change the Outlook for 2024.
Bei den Wahlen am Dienstag verzeichneten die Demokraten erneut Erfolge, wobei Abtreibungsrechte und die Legalisierung von Marihuana in Ohio siegreich waren. Die Demokraten behielten das Gouverneursamt in Kentucky, übernahmen die volle Kontrolle über das Landesparlament in Virginia und gewannen eine Richterwahl am Obersten Gericht in Pennsylvania. Dieser Erfolg ist besonders ermutigend, da jüngste Umfragen, einschließlich der neuesten New York Times/Siena College-Umfrage, düstere Aussichten für die Demokraten zeichneten. Die Ergebnisse der Wahlen widersprechen scheinbar den Umfragen, aber die Diskrepanz lässt sich auflösen. Die Umfragen zeigen Millionen von Wählern, die Präsident Biden ablehnen, aber dennoch offen für andere Demokraten und liberale Anliegen sind. Die Demokraten haben besonders bei hochengagierten Wählern Vorteile, die bei Niedrig-Wahlbeteiligungen dominieren, während Trump bei weniger engagierten Wählern in Präsidentschaftswahlen punktet. Obwohl die Demokraten bei den Wahlen erfolgreich waren, ändert dies nichts am Bild für Präsident Biden im Hinblick auf 2024. Der Schlüssel zur Wiederwahl wird darin liegen, ob Biden die unzufriedenen, weniger ideologischen Wähler zurückgewinnen kann, die ihn derzeit ablehnen. (Nate Cohn, Washington Post)
Die Wahlen vergangene Woche waren tatsächlich eine ganze Reihe guter Nachrichten für die Democrats. An allen Fronten waren die Extremist*innen auf dem Rückzug, besonders auffällig in den massiven Verlusten der "Moms for Liberty" bei schoolboard elections. Es scheint als würde Greg Sargent mit seiner These, dass "the Right-wing culture war has fizzled out" richtig liegen. Auch Ronald Brownstein äußert in "Republicans Can’t Figure It Out" eine gewisse Verwunderung darüber, dass die Republicans ihre Fehler von 2020 und 2022 wiederholen. Das Schema eines overreach nach einem Sieg - in dem Fall die SCOTUS-Entscheidung zum Ende des Abtreibungsrechts, das die GOP dazu brachte, Extrempositionen einzunehmen - trifft die Partei gerade mit voller Breitseite.
Das Absurde ist, dass die Democrats auch keine mehrheitsfähige Position vertreten. Die Abtreibung immer und unter allen Umständen ist ja eine Position, die von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird. Verträten die Republicans eine mehrheitsfähige Position wie die in Europa verbreitete Erste-Trimester-Regel, sie hätten den Kampf locker gewonnen. Aber zwischen zwei Extrempositionen gefangen wählt die Bevölkerung gegebenenfalls die freiheitlichere, egal mit wie viel Bauchgrimmen. Dass der ganze Kulturkampf von Cancel Culture bis Anti-Trans-Gesetzgebung nicht verfängt, ist ebenfalls ein gutes Zeichen.
Was die Chancen für 2024 angeht, die im Ursprungsartikel diskutiert werden, denke ich, dass Cohn grundsätzlich Recht hat. Allerdings ist ein Rematch mit Trump auch eine bekannte Größe. Letztlich wird der Wahlausgang wohl hauptsächlich von der Wirtschaftsentwicklung der kommenden acht Monate abhängen - it remains the economy, stupid.
4) Tweet // Kubicki will Obergrenze für Migranten in Stadtteilen
Von Zuwanderern zu verlangen, unsere Werte und Kultur zu achten, in Kindergärten und Schulen zum Beispiel St. Martin, Weihnachten oder Ostern feiern zu wollen und sich über Muttertagsbasteleien zu freuen, oder zu erwarten, dass Frauen immer und von jedem mit Respekt behandelt…
— Katja Adler MdB🗽 (@katjadler) November 7, 2023
FDP-Vizechef Wolfgang Kubicki schlägt vor, den Anteil von Migranten pro Stadtteil zu begrenzen, um der Entstehung von Parallelgesellschaften entgegenzuwirken. Am Dienstag äußerte Kubicki im Sender Welt TV den Vorschlag einer Obergrenze für den Migrantenanteil von 25 Prozent der Einwohner pro Stadtviertel. Er schlägt vor, dies unter anderem durch die Residenzpflicht zu regeln, also durch die gezielte Zuweisung von Asylbewerbern und Geduldeten in bestimmte Wohngebiete. Kubicki argumentiert, dass das, was heute auf deutschen Straßen zu sehen ist, das Ergebnis von Parallelgesellschaften sei. Diese hätten sich gebildet, weil Menschen verständlicherweise in bestimmten Vierteln zusammenkommen. Daher sei es seiner Meinung nach notwendig, festzulegen, dass ein Stadtviertel nicht mehr als 25 Prozent Migrantenanteil haben darf. (T-Online)
Adlers Tweet hat viel Kritik geerntet, weil die antimigrantische Stoßrichtung unverkennbar ist. Gleichzeitig aber war die Schärfe der Ablehnung völlig unbegründet, denn im Kern hat sie ja Recht, wenn sie liberal damit argumentiert, dass andere unsere Freiheit, diese Feste zu feiern, akzeptieren müssten. Sie sagt ja nicht, dass Migrant*innen unsere Feste feiern müssen, sondern nur, dass sie akzeptieren müssen, wenn wir das tun. Das Problem ist für mich tatsächlich weniger der Inhalt als der Tonfall des Tweets, aber das mag auch an meiner Übersensibilisierung liegen.
Bei Kubicki haben wir mal wieder herausragende Beispiel für die Unseriosität und Beknacktheit der Debatte. Denn das absurde an Kubickis Vorstoß ist, dass er grundsätzlich ja Recht hat. Nur würde er die monumentalen Folgen seiner "Forderung" (die nichts als ressentimentgeladener Rassismus ist) niemals akzeptieren wollen. Nehmen wir seine Zahl einmal als rhetorisches Stilmittel und nehmen nicht an, dass er die Ausweisung von 3,7% der Bevölkerung fordert. Dann würde das realistisch bedeuten, dass in einem titanischen Umverteilungsmechanismus Menschen mit Migrationshintergrund umgesiedelt werden, und zwar in die Stadtviertel, in denen die Kubickis dieser Welt und ihre Wählenden leben, die normalerweise keine Nachbarn mit entsprechendem Hintergrund haben, aber sehr groß davon schwadronieren. Umgekehrt müssten wir natürlich genau diese Leute in die innenstädtischen Zonen umsiedeln, die bisher die hohen Migrant*innenanteile aufweisen. Das wäre natürlich rein theoretisch gesehen die wohl beste Integrationsmaßnahme aller Zeiten, da nichts die Integration besser fördert als Durchmischung; bravo für die Erkenntnis an dieser Stelle für Herrn Kubicki. Gleichzeitig ist es natürlich völliger Blödsinn als Maßnahme, weswegen alles, was der Mann hier fordert ein stumpfes "Ausländer raus!" ist. Nur verpackt er es schöner als Glatzen in Springerstiefeln.
Um aber für einen Moment kurz in einem Modus der Ernsthaftigkeit zu bleiben: eine deutlich niedrigschwelligere Praxis, die aber der entsprechenden Erkenntnis entsprang, war das in den 1960er Jahren betrieben "Bussing" in den USA. Um die Benachteiligung der afroamerikanischen Bevölkerung abzubauen, würden Schüler*innen mit Bussen (daher der Name) in weiter entfernte Schulen gebracht, um die soziale Verkrustung und Stigmatisierung der schlecht ausgestatteten Schulen in den schwarzen Stadtvierteln zu umgehen und die weiß dominierten Kommunalregierungen dazu zu bewegen, für mehr Gerechtigkeit bei den Schulen zu sorgen. Chancengerechtigkeit, ein liberales Herzensthema. Die Weißen sind natürlich in die Privatschulen ausgewichen und haben die Politik gehasst und torpediert. Nur zum Thema Umsetzbarkeit. Aber da Kubicki das eh nicht ernst meint sondern nur trollt, ist das eigentlich auch egal.
5) Der Unterschied zwischen richtig und falsch
Der Artikel thematisiert die Komplexität des Israel-Palästina-Konflikts und hinterfragt die Idee, dass man inmitten solcher Schwierigkeiten beide Seiten gleichermaßen betrachten sollte. Die Autorin kritisiert die Verwendung von "Es ist kompliziert" als Ausweg, um bestimmte Handlungen nicht klar zu verurteilen. Besonderes Augenmerk liegt auf der Frage, ob man sich in komplexen Situationen wirklich sicher sein kann. Die Autorin bezieht sich auf jüngste Ereignisse, insbesondere den Angriff der Hamas auf Israel, und argumentiert, dass die Betonung der Grautöne und Komplikationen zu einer Verschleierung von Fakten und Lösungen führen kann. Dabei betont sie, dass trotz der Komplexität die Unterscheidung zwischen richtig und falsch notwendig ist. Die Diskussion über die Hamas als Terrororganisation und die BDS-Bewegung als potenziell antisemitisch verdeutlicht die Autorin's Standpunkt. Sie unterstreicht die Wichtigkeit, klare Positionen einzunehmen, selbst wenn eine Situation als komplex betrachtet wird. Die Schlussfolgerung besteht in der Aufforderung, auch in anderen globalen Krisen eine klare Unterscheidung zwischen richtig und falsch zu treffen und nicht vor der Verantwortung zurückschrecken, klare Urteile zu fällen. (Susanne Beyer, Spiegel)
Bei dem Thema Nahostkonflikt finde ich es weiterhin ungeheuer schwierig, mich zu positionieren, weil das ein irrsinniges Minenfeld ist. Dieser Artikel zeigt wieder einmal schön die Komplexitäten der Debatte auf; dieser hier ebenso (nur als pars pro toto, da erscheint gerade gefühlt jeden Tag einer). Genau das ist auch der Grund, warum ich mich da normalerweise so zurückhalte und lieber nichts sage und auch keine große Lust verspüre, das im Unterricht zu thematisieren. Beides sind total schädliche Reflexe, aber ich weiß nicht, wie ich anders besser damit umgehen soll.
Resterampe
a) Economic gloom is all about Republicans; dazu passend: Right-wing catastrophism is now an intellectual movement too
b) Bekenntnisdruck. Ich finde diese Diskussion super unübersichtlich und versuche echt, mich weitgehend rauszuhalten. Ich lass das einfach mal als Gedankenfutter da.
c) The end of work is coming. Deal with it.
d) Defusing an Atomic Bomb. Noch als Nachtrag zum letzten Vermischten mit Polens Reparatur der Demokratie.
e) Reining in illegal immigration doesn’t have to be either punitive or difficult.
g) No, Democrats are not wiping out an entire Republican caucus. Echt albern.
h) Chartbook 251: Israel's national security neoliberalism put to the test.
i) Nach massiver Kritik werden die Mittel für politische Bildung nun doch nicht gekürzt. Wie Ariane und ich im Podcast sagten: Kürzungen allgemein sind immer total beliebt, sobald es konkret wird schreit immer jemand.
j) Wenn sich mal wieder fragt, warum Radikalismus belohnt wird...
k) Spannende Reportage über nicht-rechte Jugendliche in Ostdeutschland. Mal wieder auffällig: lokale Verankerung und Beziehungsarbeit.
l) Ich wage mal ne Prognose, was mit den Luftwerten passieren wird.
m) lol
n) Wichtiger Hintergrundartikel zur Umbenennung des Anne-Frank-Kindergartens.
o) Noch mehr zur Zukunft Polens.
p) Interessanter Artikel zur Schließung von Steuerschlupflöchern.
q) Das Arbeitszeiterfassungsgesetz ist für Lehrkräfte auch so eine Bombe...
r) Warum Intersektionalismus doch ziemlich brauchbar ist.
s) "Bier ist keine Droge", lol
t) Empfehlenswerte Ausgabe des Altpapiers.
u) Cancel Culture an amerikanischen Schulen.
v) Is it time to put “To Kill a Mockingbird” out to pasture? Exactly my argument.
w) Angesichts der Wahlergebnisse letzte Woche war dieser Artikel von 2021 höchst vorausschauend.
x) Die Verlogenheit der Asyldebatte.
y) Fleischhauer stabil, Respekt.
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