„Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“
Diese Worte, die von einem gewissen Lukas stammen sollen, sind so untrennbar mit Weihnachten verbunden, wie Rippchen mit Kraut. Dabei ist es vielerorts, gerade in dieser Zeit, alles andere als friedlich. Werfen wir einen diskreten Blick in die vorweihnachtliche Idylle einer deutschen Durchschnittsfamilie. Rasch geben wir ihr noch einen anderen Familiennamen, damit ihre Privatsphäre gewahrt bleibt und so keine Rückschlüsse auf ihre wahre Identität zulässt. Nennen wir sie Brocklust - Sindermann. Eigentlich heißen sie Müller, aber der ist viel zu sehr verbreitet und jeder Zweite könnte so meinen, es handelt sich dabei um ihn. Brocklust - Sindermann hingegen ist weitläufig eher selten, da er aus zwei Familiennamen besteht, die jede für sich schon eher selten ist und dank deren Zusammensetzung und nur durch einen lapidaren Bindestrich, zu einer Einheit wird. Natürlich gibt es auch bekannte Familiennamen, die zu Doppelnamen werden, wie Meier – Schulz oder Schmidt – Hoffmann. Aber dann würden noch viel mehr Familien denken, sie wären der Hauptbestandteil dieser Geschichte und werfe ein schlechtes Licht auf sie. Dem entgehen wir so geschickt, denn wer heißt schon Brocklust – Sindermann. Eine Google Abfrage ergab, unter der Suche nach Brocklust – Sindermann, keinen gültigen Treffer. Damit ist nun rechtlich sichergestellt, es wird keine Klage wegen einer Persönlichkeitsverletzung geben können. Was auch gut ist, denn so etwas kann einen Autoren teuer zu stehen können.
Und mir, als freier und armer Autor ermöglicht es nun, die Familie Brocklust – Sindermann literarisch angemessen in den Dreck zu ziehen. Schon die Vorfreude darauf ist enorm und motiviert mich sehr. So kann sich meine latent sadistische Ader einmal richtig ausleben, Beziehungswiese ausschreiben. Es kribbelt mir richtig in den Fingern, um endlich beginnen zu können und der Familie Brocklust - Sindermann, ungestraft so richtig eine mitzugeben. Wer, wenn nicht sie hat das mehr als verdient.
Natürlich habe ich eine bestimmte Familie, die sich hinter dem Pseudonym versteckt, vor meinem geistigen Auge. Ich habe ihn zwar für die Nachwelt aufgeschrieben und in einem eigens angemieteten Bankschließfach verwahrt, aber er darf erst neunundneunzig Jahre nach meinem Tode geöffnet und öffentlich verkündet werden. Wenn man dann verärgert zu meinem Grab pilgert und sämtliche Geranien rausreißt, lässt mich das kalt.
So weit nun zur Vorgeschichte und dem geschichtlichen Hintergrund der nun folgenden Geschichte. Und falls doch, trotz aller Vorkehrungen irgendwann eine Frau Brocklust auf die wahnwitzige Idee kommt und zufällig einen Herrn Sindermann, oder eine Frau Sindermann auf einen Herrn Brocklust trifft, oder aber eine genderfluide nichtbinäre Person auf einen trans femalen Menschen trifft, dann einigen, die sich bitte auf einen gemeinsamen Familiennamen, ohne einen Bindestrich zu benutzen. Damit würden sie mir eine große vorweihnachtliche Freude bereiten. Am besten jedoch wäre es jedoch, wenn sämtliche Geschlechter, die es neuerdings so gibt, die den Namen Brocklust und oder Sindermann ihr eigen nennen, von einer generellen Eheschließung Abstand nehmen würden. Eine wilde Ehe kann doch auch ganz nett sein. Sollte jedoch der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass sich zufällig Brocklust und Sindermann treffen und dazu sich noch verlieben und zwingend heiraten müssen, weil was unterwegs ist, dann bitte ich inständig, lassen sie sich einfach von einem windigen Adoptivprinzen adoptieren, in der Hoffnung, er möge Müller, Schmidt oder Meier heißen. Dieses nur zur Verdeutlichung, unter welchen schwierigen Voraussetzungen Autoren bereits im Vorfeld einer Geschichte zu bedenken haben, ehe die eigentliche Geschichte überhaupt ihren Anfang nimmt, was nun aber ein Ende haben soll. Denn es drängt mich, sie jetzt endlich loszuwerden. Und hier ist sie nun, die Sehnlichst von uns allen herbeigesehnte Weihnachtsgeschichte.
Möge sie Erbauung und Mahnung zugleich sein.
*
Es war wieder einer jener Tage, wo man, kaum ist man aufgestanden, zurück ins Bett möchte. Janine Brocklust – Sindermann, Ehefrau, Mutter und Haushaltsvorstand in Personalunion, saß am Küchentisch und studierte das Wichtigste der Tageszeitung, die Supermarktangebote. Nicht die Schlagzeilen wie: „Nahender Krieg in Nahost droht“ oder „warum sind unsere Politiker korrupt?“, ließ sie vom Glauben abfallen.
Es waren Fotos von Lebkuchen, Spritzgebäck und Zimtsternen, die als Wochensupersparpreis, ihr grell ins Auge fielen. Sie sah durch das Fenster, wo sich die Sonne gerade erfolgreich abmühte, die fünfundzwanzig Grad Marke zu überspringen.
„Das ist doch verrückt“, sagte sie, in Ermangelung eines Gesprächspartners, zu sich.
Empört, ja geradezu entsetzt darüber, dass jedes Jahr Weihnachten immer früher an die heimische Tür klopft, nahm sie das Telefon zur Hand und rief eine Vertraute an, um mit ihr diese Neuigkeit zu debattieren.
„Mama, Du glaubst ja nicht, was heute in der Zeitung steht.“
„Kind, ich habe es gelesen und bin in heller Aufregung.“
Natürlich war auch die Mutter längst über die Werbung gestolpert und konnte gerade noch verhindern, durch ein mutiges Weiterblättern, dass ihr Mann einen Blick darauf wirft.
„Hast Du schon gelesen?“
„Was denn Opa?“, fragte sie ganz scheinheilig.
Seitdem beide Großeltern waren, nannte sie ihn Opa. So ist die Namensentwicklung in Familien eben. Als sie frisch verliebt waren, nannte sie ihn Josef oder Liebling, dann Vater und nun eben Opa. Sie selbst verbat es sich als Oma bezeichnet, zu werden, da der Begriff Oma ihrem gefühlten Alter nicht entspreche. Ihre Selbstwahrnehmung war diesbezüglich pathologisch gestört und dringend zu therapieren. Doch Opa schwieg lieber, als es sich mit seiner Frau zu verscherzen. Opa war eben ein weiser Mann.
„In der Zeitung steht ein tragisches Schicksal.“, stellte Opa klar.
Die Mutter erschrak, denn für sie stand fest, mit dem tragischen Schicksal war unzweifelhaft sie gemeint.
„Ja ich weiß, es gibt schon Zimtsterne bei Aldi!“, schrie sie förmlich raus.
„Oh, das hatte ich noch gar nicht gesehen“, erwiderte der Opa und schnalzte, in froher Erwartung, mit der Zunge.
Die Tochter hatte aufmerksam zugehört und nickte verständnisvoll in den Hörer.
„Meiner hat es zum Glück noch nicht gesehen.“, gab sie erleichtert zu.
„Das wird nicht lange geheimzuhalten sein.“, nahm die Mutter ihr sämtliche Illusion.
„Ich habe die Werbung bereits ausgeschnitten und weggeworfen.“
Doch die Mutter zweifelte an dem Erfolg der Maßnahme.
„Wenn sich Opa und Dein Mann beim Fußball treffen und er seine Dose mit den Zimtsternen auspackt, dann ist es geschehen.“
„Das darf nicht geschehen. Es muss verhindert werden, dass sie sich vor Weihnachten treffen. Ich fange doch nicht im August an mit dem Backen. Bin ich denn des Wahnsinns.“, echauffierte sich die Tochter.
„Du wirst es müssen. Ich war schon Eier und Mehl einholen.“
„Mama, ich mache doch bei der Hitze nicht den Backofen an.“, beschwerte sich die Tochter, wohl wissend, dass ihr keine andere Wahl bleiben würde.
„Spekulatiusplätzchen muss ich auch machen und Makronen.“, seufzte die Mutter.
„Drei Sorten verlangt Opa?“
„Ja, er ist gegen einseitige Ernährung.“
„Mama, wir sind die ärmsten Schweine in der Stadt.“, resignierte die Tochter und schrieb bereits nebenbei den Einkaufszettel. Bereits am späten Nachmittag roch es in zwei Haushalten nach Plätzchen. Als Herr Bocklust – Sindermann am Abend nach Hause kam, da staunte er nicht schlecht.
„Du hast gebacken? Plätzchen? Im August?“
„Ja natürlich. Bei Aldi stehen sie ja auch schon im Regal.“
„Ach so? Ja dann. Läuten wir also die Vorweihnachtszeit an. Hast Du auch Glühwein, um die trockenen Dinger runterzukriegen?“
Das war doch entschieden zu viel für seine Frau und türenschlagend verließ sie heulend das Haus. Völlig aufgelöst machte sie sich auf den Weg zu der Frau, die ihr Verständnis entgegenbringen würde, ihre Mutter.
Unterwegs traf sie zufällig auf die Mutter, die gerade ein Blumengeschäft verließ, mit einem Adventskranz im Arm.
Die Frau, die nicht Oma genannt werden wollte, zuckte nur mit den Schultern.
„Ohne Deko schmeckt es ihm halt nicht“, erklärte eine sichtbar gebrochene Frau.
Schweigend gingen sie eine Weile ziellos durch die Stadt.
Vor einem zufällig vorbeikommenden Reisebüro blieben sie stehen und sahen sich die Plakate der Sommerreisen an.
„Wir sollten einfach abhauen, bis nach Weihnachten.“, meinte die Tochter.
„Das wäre schön“, seufzte die Mutter.
„Irgendwohin wo es Weihnachten nicht gibt.“
„Oh ja.“
Sehnsuchtsvoll blickten die zwei Frauen, mit den vom gemeinsamen Weinen getrübten Augen und studierten die Angebote.
„Da schau mal. Ein Schnäppchen.“, rief die Tochter ganz aufgeregt.
Die Mutter wischte sich die Augen trocken, um einen besseren Durchblick zu erlangen.
„Die Osterinseln? Wo sind die denn?“
„Ist doch egal“, antwortete die Tochter.
„Dann muss ich aber Opa was vorkochen und einfrieren. Sonst ist er verhungert, wenn wir wiederkommen.“
Langsam freundete sie sich mit dem Gedanken an die Osterinseln an.
„Bist Du Dir sicher, dass dort an Weihnachten nicht Weihnachten gefeiert wird?“
„Klar. Die konzentrieren sich doch eindeutig auf Ostern. Da liegt deren Schwerpunkt. Und wenn wir jetzt fahren, ist da ja noch Nebensaison.“
„Wir können da ja vielleicht einen Ostereiermalkurs machen. Hauptsache kein Plätzchenbacken.“
Die Tochter sah ihre Mutter erstaunt an.
„Ich fahre doch nicht weg und male im August Ostereier an. Das wäre ja genauso blöde wie Plätzchenbacken.“
„Auch wieder wahr. Dann lassen wir es eben. Ich muss jetzt eh nach Hause. So ein Christstollen backt sich ja nicht von alleine.“
Die beiden Frauen trennten sich und als sie nach Hause kamen, waren ihre Männer auf dem Dach und brachten ihre Lichterketten an. Beide hatten unisono, um sich vor der Nachmittagssonne zu schützen, ihre Nikolausmützen auf. Einziger Trost für die Frauen, die Weihnachtsbäume wurden erst Mitte September geliefert.

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