Ein literarisches Genre, das mindestens so alt ist wie die Erfindung der Schrift (wenn man Graeber und Woncroft folgen mag: genauso alt) ist die Klage über die Jugend von heute. Bereits von Sokrates ist überliefert, dass er sich über ihre Manieren und Musikgeschmack beklagt habe, wobei da natürlich das berühmte "citation needed" der Wikipedia angefügt werden sollte, wie bei allem, was Sokrates angeblich so gesagt hat. Aber schon Lincoln warnte davor, nicht alles zu glauben, was man im Netz so findet. Klagen über die Degredation der Jugend aber sind unzweifelhaft immer in Mode. Nicht ganz so alt und auch nur periodisch beliebt ist dagegen die Überhöhung der Jugend. Besonders die Nationalsozialisten, aber auch ihre Gegenstücke im Osten, praktizierten diese Art der Projektion. Ein neuer Menschentyp sollte entstehen, eine strahlende, bessere Jugend auferstehen und wahlweise Land, Rasse oder Welt retten. Ob übertriebener Pessimismus oder Optimismus, in all diesen Fällen wird die Jugend zur Projektionsfläche für die Älteren. Das ist sie aber nicht. Die Jugend von heute ist ihr eigenes Ding, nicht mit Heiligenschein, nicht mit Satanshörnern, und diese Vorstellungen verraten mehr über diejenigen, die diese Projektionen aufbauen, als die jeweilige Jugend selbst. Beliebt ist etwa die Idee, die Jugend von heute sei verweichlicht. Auch diese Idee lässt sich problemlos bis zu den Alten Griechen zurückverfolgen. Die Schuldigen für diese Verweichlichung ändern sich: bei den Nazis waren es die liberale Welt und der verderbliche jüdische Einfluss, die Realsozialisten sahen den Hunger nach westlichen Konsumgütern als Kern des Problems, mal sind die Pädagog*innen und Eltern schuld, mal sind es die Jugendlichen selbst, denen "der Biss fehlt", sich einen Platz in der Welt zu erkämpfen. Implizit steckt da natürlich immer die Idee drin, die eigene Generation sei härter. Es ist letztlich eine Verklärung und Überhöhung der eigenen Lebenserfahrung. Man selbst hat ja noch richtig kämpfen müssen, aber die Jugend von heute, die kriegt alles in den Schoß geworfen.

Übersehen wird dabei gerne, dass "verweichlicht" oder "fehlender Biss" oder was auch immer die aktuelle Formulierung ist eine starke Wertung enthält. Es handelt sich um keine objektive Kategorie. All das lässt sich, wie es etwa exemplarisch Christian Stöcker in seinem Artikel tut, genauso gut positiv wenden. Das ist, wie wir später sehen werden, genauso Quatsch, zeigt aber die Beliebigkeit dieser Wertungen. Es geht letztlich um das, was man selbst argumentieren will, eine Zurschaustellung der eigenen Wertmaßstäbe, ohne das offenkundig zu machen. Anstatt klar zu sagen, für welche Werte man eintritt und dass man diese für allgemeingültig erklären will, schiebt man die Jugend vor und nutzt sie als Projektionsfläche. Das ist ein feiges Ausweichmanöver.

Wir sehen das auf einer weniger grundsätzlichen Ebene auch mit dem ständigen Gemecker der angeblich so viel schlechter werdenden Schreib- und Lesefähigkeiten der Jugend. Ich habe dieses Thema bereits 2013 analysiert, bevor es dieses Blog hier überhaupt gab. Auch hier gilt, dass Kategorien wie "gut" oder "schlecht" Wertungen sind, die nicht so einfach objektivierbar sind, wie da gerne getan wird. Klar, anekdotische Evidenz irgendwelcher Leute, die sagen, dass sie früher bessere Arbeiten hatten, gibt es immer, und im oben verlinkten Artikel entblödet sich ein 26jähriger nicht, ohne irgendwelche Erfahrungswerte oder gar Verweis auf Empirie (wo kämen wir da hin...) diese Behauptung aufzumachen.

Auch dieses "die Jugend kann heute X nicht mehr" ist ein uraltes Genre. Im 19. Jahrhundert beklagten sich bestimmt alternde Cowboys darüber, dass die Jugendlichen nicht mehr so gut reiten können wie sie. Meine Großmutter empfand es vermutlich als Verlust, dass die ihr nachfolgende Generation nicht mehr so gut Vorräte einkochen konnte. Nur ist der Verlust vieler dieser Fertigkeiten eben auch ein Ausdruck ihres Bedeutungsverlusts. Wer sich mit diesen Fähigkeiten identifiziert oder einfach nur generell der Überzeugung ist, wertvolle Fähigkeiten zu haben, wird das ablehnen.

Ich kenne das von mir. Etwas die Jugend von heute zum Beispiel nicht kann, entgegen dem unsäglichen Mythos vom Digital Native, ist die Bedienung eines Betriebssystems. Einstellen von IP-Adressen und Ähnliches ist den meisten völlig unklar. Nur, sie brauchen es halt auch nicht mehr, weil anders als in Windows 98 das alles heutzutage zuverlässig automatisch passiert. Dazu kommt der andere Faktor: schon zu meiner Zeit war das keine Mehrheitsfähigkeit. Klar, in meiner Blase konnten das alle, weil wir LAN-Parties gemacht haben. Aber davon abgesehen konnte das schon zu meiner Zeit niemand.

Und das ist der größere Punkt. Nicht nur sind diese Rückprojektionen angeblich verlorener und früher weithin gekonnter Fähigkeiten eigentlich nur identitätspolitische Nebelkerzen, die ein "wir waren besser als ihr" in sozialverträglicher Form präsentieren, es stimmt meistens nicht einmal. Der oben verlinkte Artikel zur Rechtschreibung und den Lesefähigkeiten sei ein gutes Beispiel dafür. Der Autor bejammert, dass heutzutage kaum noch Bücher gelesen werden. Als ob das je anders war! Das massenhafte Lesen von Büchern war schon immer ein Minderheitenphänomen, und vielleicht lesen jetzt nur noch 20% statt 25% im Monat mindestens ein Buch. Okay. Aber es ist nicht so, als wäre eine entscheidende Kulturtechnik verlorengegangen, die früher weithin verbreitet gewesen wäre.

Wäre es gut, wenn alle monatlich ein oder mehr Bücher lesen würden? Klaro. Das würde die Lese- und Rechtschreibfähigkeiten, die Ausdrucksfähigkeit und alles was dazugehört massiv verbessern. Nur, man kann das bejammern wie man will, die Mehrheit will das offensichtlich nicht. Die Jugend von heute genauso wenig wie die Jugend von vor 30 Jahren. Die Leute, die das bejammern, sind diejenigen, die schon immer Bücher gelesen haben, genauso wie die Leute, die mangelnde IP-Setzungsfähigkeiten beklagen, diejenigen sind, die das können. Man geht von sich selbst aus, setzt die eigenen Fähigkeiten absolut und projiziert sie dann triumphierend auf eine nebulös definierte "Jugend von heute". Dermaßen selbst bestätigt, kann man mit stolzgeschwellter Brust den Stammtisch verlassen. Nur, analytischen Wert hat das nicht.

Das gilt übrigens auch für die Gegenseite. Zu allen Zeiten haben Leute auch gerne die Jugend von heute als Vorbilder dargestellt, nach denen man sich orientieren sollte. Auch das war eigentlich immer überzogen. Die Nazis sahen in der deutschen Jugend eine härtere, gemeinschaftlich organisierte heranwachsen, voller rassischen Bewusstseins und mit neuer Härte die rassische Mission voranbringen. Der Wunsch war Vater des Gedankens. Man projizierte die eigenen Wünsche - wie gerne wäre man doch jung, stark und heldisch-erfolgreich - auf eine Generation und ließ sie diese Wünsche in einem riesigen, tödlichen Reenactment ausspielen.

Etwas weniger tödlich, wenngleich genauso geisttötend, lief das im real existierenden Sozialismus, wo 40 Jahre lang die Jugend auf die Freundschaft mit der Sowjetunion eingeschworen wurde und den neuen sozialistischen Menschen bilden würde. Wie man angesichts von Jugendführern wie von Schirach oder Honecker so etwas je ernstnehmen konnte, ist wohl in den Traumvorstellungen der Betroffenen verborgen.

Deutlich weniger totalitär sind diese Fantasien dann besonders 2019 hervorgetreten, als die Begeisterung über eine Jugend, die irgendwie alle Greta war, sich in progressiven Kreisen kaum in Grenzen hielt. Hier schien endlich das kritische politische Bewusstsein manifestiert zu sein, dessen Fehlen man seit Jahrzehnten beklagte und unter dem man schon in der Asta gelitten hatte. Dass selbst zu besten Zeiten sich kaum mehr als 30% der Jugendlichen mit der Klimabewegung identifizierten und davon kaum mehr ein Zehntel übrig sein dürfte, ging in dieser Euphorie gerne unter.

Auch Christian Stöcker im oben verlinkten Artikel verliert sich in wishful thinking, wenn er die Kritik an der verweichlichten Jugend ins Gegenteil zu wenden versucht und ihr stattdessen besonderes soziales Bewusstsein und gesunde Work-Life-Balance attestieren will. Gleiches gilt für die Jubelperserartikel der Art, in denen die Jugend von heute angeblich kein Interesse mehr an Autos hat und nur noch mit dem Fahrrad durch die Großstädte strampelt, um das Klima zu retten.

Das alles sind Projektionen. Da wird das eigene umweltpolitische Gewissen triumphierend auf eine neue Generation projiziert, so dass man selbst als Vorkämpfer der gerechten Sache erscheint - unabhängig davon, ob es um neue Fahrradwege oder den Rassekrieg in Russland geht; der psychologische Mechanismus ist der gleiche.

Die Wahrheit ist schlicht die: die Jugend von heute ist ein bisschen anders als die von gestern, besser in manchem, schlechter als in anderem - abhängig vom Standpunkt der Betrachtenden - vor allem aber unglaublich divers und nicht mit einem Schlagwort wie "Jugend von heute" zu fassen. Jeder solche Versuch muss scheitern, und deswegen sind alle diese Artikel, ob sie die Jugend nun für irgendwelche moralischen Verfehlungen kritisieren, denen man selbst natürlich noch erfolgreich widerstanden hat, oder ob sie die Jugend als Vorkämpfer für die gerechte Sache imaginieren, für die man schon immer eintrat, gleich blödsinnig. Die Jugend ist nicht eure Projektionsfläche. Sie haben ihre eigenen (diffusen) Wünsche, ihre eigenen (unrealistischen) Pläne, ihre eigenen (halbgaren) Ansichten - wie jede Jugend vor ihnen. The kids are alright.

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