1957 „erfand“ der Psychoanalytiker Elliot Jaques den Begriff der „midlife crisis“, als ein im Alter zwischen 30 und 40 Jahren auftretendes Phänomen, bei dem erkannt wird, dass die Halbzeit des eigenen Lebens erreicht ist und damit der eigene Tod nicht mehr etwas Abstraktes in der Ferne ist, sondern immer realer wird. Die Jugend schwindet und man wird sich bewusst, dass das Leben endlich und damit die eigenen Möglichkeiten begrenzt sind. Die daraus resultierende depressive Phase kann sich über mehrere Jahre hinweg halten und verschiedene Ausprägungen annehmen, bis sich die Zufriedenheit über das eigene Leben wieder erhöht.
Seine Studien zeigten, dass dieses Phänomen nicht nur bei modernen klinischen Patienten auftrat, sondern auch im 14. Jahrhundert schon von Dante Alighieri in seiner Göttlichen Komödie beschrieben wurde [1]:
„Auf der Hälfte des Weges unseres Lebens fand ich mich in einem finsteren Wald wieder, denn der gerade Weg war verloren.“ [2]
1974 griff die Journalistin Gail Sheehy den Begriff wieder auf und machte ihn dadurch erst weltweit bekannt. In ihrem Buch „Passages: Predictable Crisis of Adult Life“ legte sie durch eine selbstangelegte Studie mit 115 Männern und Frauen dar, dass die Bewältigung der Midlife-Crisis von Frauen und Männern in den USA zu jener Zeit zu einer Veränderung der traditionellen Geschlechterrolle führt. Aus der Unzufriedenheit über die eigene Position im Alltag, im Beruf und in der Partnerschaft erwachte der Drang, das eigene Leben teils grundlegen zu ändern. Frauen, die zuvor größtenteils als Hausfrauen im familiären Alltag tätig waren, widmeten sich nun verstärkt ihrer beruflichen Karriere, Männer wandten sich teils von ihrer beruflichen Karriere ab und waren nun verstärkt im familiären Alltag tätig [3].
Danach, verstärkt ab 1977, etablierte sich aber ein anderes Verständnis der Midlife-Crisis, welches geprägt war von der Festigung traditioneller Geschlechterrollen und Antifeminismus. Die Midlife-Crisis wurde nun als Phänomen gesehen, welches vor allem Männer erlebten. Als eine „zweite Adoleszenz“, die Abtrennung von Ehefrau und Familie im Zuge der männlichen Selbstfindung. Zu „verdanken“ ist dies einigen Psychiatern und Psychologen, welche mithilfe wissenschaftlicher Terminologie versuchten, den Mann so als Maßstab und Norm in die Thematik um die Midlife-Crisis zu setzen. Mit Erfolg: Ihnen wurde zugeschrieben, den Begriff der Midlife-Crisis erfunden zu haben, Gail Sheehy wurde danach der Vorwurf gemacht, sie habe ihn lediglich popularisiert [s. o.].
Auch wenn die Midlife-Crisis heutzutage eher als eine Phase der allgemeinen Neuentdeckung und erneuten Selbstfindung im Leben verstanden wird, wird sie immer noch oft als Phase vor allem im Leben von Männern gesehen und beschrieben:
„Krisengefahr für die Psyche des Mannes? […] — die Mitte des Lebens ist eine Zeit des Wechsels, die Männer in psychische Krisen stürzen kann.“ — rbb, 2017 [4]
„Midlife-Crisis: Wenn Männer in die Jahre kommen […] Gibt es eine männliche Version der Wechseljahre?“ — BR24, 2020 [5]
„Midlife-Crisis — wenn Männer den Sinn des Lebens hinterfragen […] In der Regel sind Männer betroffen, weshalb der Beitrag sich auch auf ihre Rolle fokussiert.“ — IDEAL Magazin, 2021 [6]
„[…] für die meisten Menschen gehört neben der Pubertät die Phase in der Mitte ihres Lebens zu den schwersten. Bei Frauen sind’s die Wechseljahre, bei Männern ist es die Midlife-Crisis […].“ — Brigitte [7]
Entsprechend älterer und neuerer Studien ist diese Darstellung allerdings falsch. Frauen und Männer erleben gleichermaßen eine Midlife-Crisis. Allerdings ist der Umgang mit dieser bei Männern und Frauen teils unterschiedlich. So suchen Frauen beispielsweise öfters psychotherapeutische Hilfe auf und überwinden ihre Midlife-Crisis in ausgeglichenerer Weise. Männer dahingegen können zu radikaleren und impulsiveren Handlungen und Veränderungen neigen [8].
Dass die Midlife-Crisis nicht nur ein geschlechtsunabhängiges Phänomen ist, sondern ebenfalls unabhängig der kulturellen Zugehörigkeit und des Bildungsstandes auftritt, zeigen die Studien von David G. Blanchflower in seinem Diskussionspapier (Working Paper, Daten und Interpretation also mit Vorsicht zu genießen) aus 2020. Er untersuchte die Zufriedenheit der Menschen unter Berücksichtigung ihres Alters, ihres Familien- und Bildungsstandes in 132 Ländern (Industrie- sowie Entwicklungsländer) anhand diverser Datensätze, um so aufzuzeigen, dass die „U-Kurve“ (auch Glückskurve genannt), welche den Grad der Zufriedenheit in Abhängigkeit des Alters darstellt, tatsächlich existiert [9]. Zuvor hatten Blanchflower und Andrew Oswald (2017) in deutlich kleinerem Maßstab schon aufzeigen können, dass die U-Kurve durchaus nachweisbar ist. So beispielsweise in 36 europäischen Ländern (1) und in den USA (2) [10].
Blanchflower kommt zu dem Schluss, dass die Glückskurve überall ist [9].
Ob arm, reich, Frau, Mann, gebildet, ungebildet, verheiratet, nicht verheiratet, irgendwann in der mittleren Lebensphase scheint die Lebenszufriedenheit statistisch zu sinken, auch unabhängig anderer Faktoren. Zu beachten dabei ist, dass womöglich das reine (mittlere) Alter nicht nur alleiniger Faktor für das Sinken der Lebenszufriedenheit sein kann. Andere Faktoren, wie etwa allgemeiner Wohlstand einer Region, finanzielle Stabilität im Alter (Rentensystem) und Gesundheitsversorgung können die Lebenszufriedenheit bis ins hohe Alter hin noch weiter senken, ohne, dass sich die Lebenszufriedenheit, wie es bei der Midlife-Crisis eigentlich der Fall ist, wieder signifikant erhöht. Auch muss noch eindeutig nachgewiesen werden, dass die U-Kurve nicht nur ein momentanes Phänomen ist, ausgelöst von Ereignissen globaler Tragweiter, wie etwa Weltwirtschaftskrisen, sondern sich über die Generationen hinweg ergibt [11].
Ein Zusammenhang zwischen U-Kurve und der Midlife-Crisis erscheint nach bisheriger Datenlage dennoch nicht unwahrscheinlich.
Der Begriff der Krise muss hier allerdings genauer gefasst werden. Wie die U-Kurve vermuten lässt, ist eine Midlife-Crisis kein plötzlich auftretendes Phänomen, sondern baut sich statistisch gesehen über viele Jahre hinweg auf, bis die Lebenszufriedenheit einen kritischen, niedrigen Punkt erreicht, an dem sich Symptome wie bewusst wahrgenommene, massive Unzufriedenheit, Unsicherheit und depressive Verstimmungen bis hin zu klinischen Depressionen zeigen, welche auf eine ausgebrochene Midlife-Crisis deuten [12]. Aus den Statistiken und Erfahrungsberichten gelesen, wird diese Krise zum Ende der mittleren Lebensphase hin überwunden und die Lebenszufriedenheit nimmt (erstmal) wieder zu.
Die Versuche, die Midlife-Crisis als „Wechseljahre“ des Mannes zu sehen, zeigen schon den Ansatz, die Ursache für eine solche biologisch zu begründen. Aus dieser Sicht ergibt es jedoch wenig Sinn von „Wechseljahren“ zu sprechen. Denn anders als bei Frauen, wo zu Beginn der Wechseljahre (etwa ab 40) der Hormonspiegel an Östrogen stetig abnimmt, nimmt der Hormonspiegel an Testosteron bei Männern gar nicht bis sehr langsam ab, so dass, insofern eine geringe hormonelle Umstellung bei Männern vorliegt, sie in der Regel zu keinen messbaren Symptomen führt, anders als es bei den Wechseljahren der Frau der Fall ist [13].
Ein Zusammenhang zwischen Midlife-Crisis und hormonellen Veränderungen scheint auch insofern nicht schlüssig, als dass, wie die Statistiken zeigen, die Lebenszufriedenheit schon in jungen Jahren teils stetig abnimmt, bis sie einen kritischen Punkt erreicht und eine Midlife-Crisis ausbrechen kann. Die Abnahme des Östrogenspiegels beginnt jedoch erst in der Mitte bis zum Ende der mittleren Lebensphase hin; eine Abnahme des Testosteronspiegels wird meist noch viel später verzeichnet.
Biologische Faktoren können aber dennoch einen Einfluss auf das Fallen der Lebenszufriedenheit und das Ausbrechen einer Midlife-Crisis in der Weise haben, als dass der biologische Alterungsprozess und die damit einhergehenden körperlichen Veränderungen sich ebenfalls negativ auf die Psyche des Menschen auswirken.
Denn es ist schließlich nicht nur das Alter als wahrgenommene Zahl, sondern auch das Alter als Zustand des eigenen Körpers welches auf das Näherkommen des eigenen Todes hinweist und damit das Bewusst-Werden der eignen Sterblichkeit und die Begrenztheit der eigenen Möglichkeit im Leben fördert.
Der Umstand jedoch, dass sich bei Menschenaffen ebenfalls eine Abnahme der Zufriedenheit im Sinne einer Verschlechterung des allgemeinen Gemütszustandes in ihrer mittleren Lebensphase feststellen lässt, welche auch einer U-Kurve entspricht (3)[14], weist darauf hin, dass das Sich-Bewusst-Werden der eigenen Sterblichkeit und Endlichkeit eventuell keine Ursache für den Abfall der Lebenszufriedenheit und den Ausbruch einer Midlife-Crisis ist, sondern lediglich ein verstärkender Faktor, der dadurch besteht, dass der Mensch — sehr wahrscheinlich anders als Menschenaffen — sich selbst und sein Leben in einem solchen Maße reflektieren kann, dass es die Psyche zusätzlich belastet.
Inwieweit und ob überhaupt dieser Abnahme an Lebenszufriedenheit bei Menschen und Menschenaffen gleiche Funktionen und Faktoren zugrunde liegen, und ob es vielleicht sogar neurologische Veränderungen sind, muss noch weiter untersucht werden. Es deutet sich allerdings an, dass ihre Ursachen, ausgehend von der Ähnlichkeit von Menschen und Menschenaffen, im durch hohe Intelligenz geprägten und sozialbasierenden Wesen liegen könnten, und eine Veränderung unbekannten Maßes und Art in diesem Wesen (welches auch seine Neurologie umfasst), wiederum zu einer Steigerung der Lebenszufriedenheit führt, also zu einer Überwindung der Midlife-Crisis.
Quellen und Verweise:
[2] Dante Alighieri: Die göttliche Komödie, Inferno, erster Gesang. Neuübersetzung nach Hartmut Köhler (2010), Stuttgart
[8] Victoria Dunaeva (2020): Women and Men in Midlife Crisis. PEOPLE: International Journal of Social Sciences, Vol. 6 №2, p. 436–443
Zu finden ebenfalls hier:
https://grdspublishing.org/index.php/people/article/view/2431
[9] David G. Blanchflower (2020): Is Happiness U-Shaped Everywhere? Age and Subjective Well-Being in 132 Countries. National Bureau of Economic Research, Working Paper 26641
Zu finden hier:
[10] David Blanchflower, Andreas Oswald (2017): The midlife low in human beings, Figure 3 (1) and Figure 2 (2). VoxEU.org
Zu finden hier:
[14] Alexander Weiss, James E. King, Miho Inoue-Murayama, Tetsuro Matsuzawa, and Andrew J. Oswald et al. (2012): Evidence for a midlife crisis in great apes consistent with the U-shape in human well-being, Figure 1 (3). PNAS, Vol. 109 Nr. 49
Zu finden hier:
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