Warum führt Putin seit Jahren eine aggressive, expansionistische Außenpolitik gegen die westliche Welt? Für viele Putinverstehende ist die Antwort klar: wegen der NATO-Osterweiterung. Die beliebte Geschichte, die vom Kreml nach Kräften gefördert wird, geht in etwa so: 1990 versprachen die USA der sowjetischen Regierung, die NATO nicht nach Osten zu erweitern, wenn diese der Wiedervereinigung zustimmen würde. Dieses Versprechen wurde in den 1990er Jahren, als Russland im Griff einer Depression und Finanzkrise war, gebrochen. Die NATO rückte im Baltikum und Polen direkt an die russische Grenze vor, das Land ist eingekreist. Betrogen und gefährdet versucht Russland seither, legitime Sicherheitsinteressen durchzusetzen. Klingt gut, ist aber leider eine frei erfundene Legende.

Ihren Ursprung findet sie in den Verhandlungen zur Wiedervereinigung 1990. Die USA waren nicht bereit, ihr Plazet für eine Wiedervereinigung zu geben, das Deutschland aus den Strukturen der NATO löste, was natürlich (analog zu 1952) der Wunsch der Sowjetunion war. Gorbatschow und sein Außenminister Schewardnadse gaben diese Position aber schnell auf. Sie forderten stattdessen, dass das NATO-Bündnisgebiet nicht auf das Gebiet der ehemaligen DDR ausgeweitet werden sollte. Hier liegt die Grundlage des Mythos von "keine Erweiterung der NATO". Nur, das übersieht zwei wichtige Details.

Erstens schaffte es diese Bedingung nicht als dauerhaftes Element in den 2+4-Vertrag, sondern nur als temporäre Regelung bis zum Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen 1994. Bis dahin wurde auch die NVA aufgelöst und in die Strukturen der Bundeswehr überführt, die Vollmitglied des Bündnisses blieb. Allerdings sind weiterhin keine alliierten Truppen in Ostdeutschland stationiert, so dass zumindest ein Teil des Geists dieser ursprünglichen Idee sich gehalten hat (wer sich weiter dafür interessiert: ein Paper zu Gorbatschows Dilemmata).

Zum Zeitpunkt dieser Verhandlungen war es allerdings überhaupt keine Frage, ob die NATO nach Osten expandieren würde, weil die dortigen Länder noch im existierenden Warschauer Pakt waren. Als der 2+4-Vertrag abgeschlossen wurde, existierte die UdSSR noch, und viele osteuropäische Länder waren zumindest formal weiter Teil des Pakts. Erklärtes Ziel der sowjetischen Außenpolitik war damals die Schaffung einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur, die NATO und Warschauer Pakt ersetzen würde. Gorbatschows Erwartung war, dass etwas in diese Richtung passieren würde. Für Abkommen über eine Osterweiterung gab es also gar keinen Grund.

Das alles änderte sich aber rapide. Nicht nur zerfiel die Sowjetunion und wurde im Dezember 1991 offiziell aufgelöst. Auch die Reformkommunisten wurden in praktisch allen Ostblockstaaten aus dem Amt gespült und durch westlich orientierte Regierungen ersetzt. Diese demokratisch gewählten Regierungen verfolgten zwei Ziele: die schnelle Aufnahme in die EU und die Aufnahme in die NATO - in dieser Reihenfolge. Da aber die EU in der (korrekten) Erwartung, sich damit schwere wirtschaftliche Verwerfungen ins Haus zu holen (Stichwörter Lohngefälle, Strukturförderung) die EU-Beitritte verzögerte, wo sie nur konnte, ergriffen die Osteuropäer die Chance, der NATO beizutreten.

Für die osteuropäischen Staaten ging dieses Kalkül auf. Anstatt die gewünschte Absicherung direkt über die EU zu bekommen, erhielten sie militärische Garantien in Form der NATO. Die Mitgliedschaft im Bündnis ihrerseits erzeugte neuen Druck für die Aufnahme in die EU, wo der Beitritt 2004 dann auch mit fünf Jahren Verzug erfolgte.

Wer Quellen aus dieser Zeit sucht, in denen ein impotentes Russland zornerfüllte Beschwerden gegen den Westen richtet, wird vergeblich suchen. Auch wenn das von Putin heute geleugnet wird - eine Leugnung, die allzuviele seiner Verteidiger*innen nur zu bereitwillig aufnehmen - so erfolgte die NATO-Osterweiterung nicht gegen, sondern mit Russland. 1994 trat Russland dem "Partnership for Peace"-Programm der NATO bei. In jenen Jahren wurde sogar über eine (mittelfristige) Aufnahme Russlands in die NATO diskutiert.

Entscheidend aber, und von Putin und seinen Fans stets ignoriert, ist die NATO-Russland-Akte von 1997. In dieser einigen sich die Vertragspartner unter anderem auf "Achtung der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen, Unversehrtheit aller Staaten sowie ihres naturgegebenen Rechtes, die Mittel zur Gewährleistung ihrer eigenen Sicherheit sowie der Unverletzlichkeit von Grenzen und des Selbstbestimmungsrechts der Völker selbst zu wählen“. Das bedeutet explizit: Beitritt zu Bündnissen. Was die NATO-Russland-Akte nicht festlegt, sind Interessenssphären, innerhalb derer es den Staaten, deren Souveränität in diesem Vertrag ausdrücklich bekräftigt wird, verboten sein soll, genau diese hier explizit garantierten Freiheiten wahrzunehmen.

Russland befindet sich mit seiner Politik gegenüber der Ukraine (und Georgien und so weiter) in einem klaren Bruch mit völkerrechtlichen Verträgen. Das erstreckt sich übrigens auch auf die alt-ehrwürdige KSZE-Schlussakte von 1975, in der die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa ebenfalls festgeschrieben wird, eine Regelung, gegen die Russland auch verstößt. Wenn also irgendwer in Deutschland mit dem Völkerrecht argumentiert, um Putin zu verteidigen - keine Chance. Und nein, der Verstoß der NATO gegen selbiges Völkerrecht 1999 im Kosovo-Krieg rechtfertigt nicht einen eigenen Verstoß Russlands. So funktioniert Recht nicht.

Tatsächlich ist auch der "Russland wurde über den Tisch gezogen" oder "die Schwäche Russlands wurde erbarmungslos ausgenutzt" oder Ähnliches kein Argument. Denn Russland hat auch unter Putin immerhin sieben Jahre lang kein Problem mit der NATO-Osterweiterung gehabt. Sie war früher schlicht nie Thema. Das Gegenteil ist der Fall. Früher wollte Putin selbst engere Bindungen Russlands zur NATO! Russlands Außenpolitik hat sich 2007/2008 nur radikal gedreht. Bereits zuvor hat er sich, nachdem Russland noch nach 9/11 sicherheitspolitisch mit den USA zusammengearbeitet hatte (Putin versprach Bush seinerzeit vollständige Unterstützung im Kampf gegen den Terror!), ein Richtungswechsel angedeutet.

Wie bei so vielem sind die entscheidendenden Punkte in der verdrängten Dekade zu finden, etwa der Irakkrieg und die orangene Revolution in der Ukraine, aber genauso die sich verändernden russischen Sicherheitsinteressen. Ändernde Sicherheitsinteressen und Schwenks in der Außenpolitik sind sicherlich legitim. Aber es gibt keinen Grund, warum wir Putin dabei helfen sollten, diesen Schwenk nachzuvollziehen und andere Länder anzugreifen.

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