Der Holocaust-Gedenktag am 27. Januar ist der Tag des Gedenkens an die Millionen von Menschen, die im Dritten Reich ermordet wurden. Die Rolle, die die deutsche Ärzteschaft dabei spielte ist erschütternd. Erlauben Sie mir, an diesem Tag einen (leicht veränderten und gekürzten) Artikel[1] zu diesem Aspekt wiederzugeben, den ich bereits 1996 im ‚American Journal of Medicine' veröffentlicht habe:

Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager in Auschwitz von der Roten Armee befreit. Bis Mai desselben Jahres wurden etwa 20 weitere Lager entdeckt. Noch heute ist es schwer zu verstehen, wie so viele schreckliche Gräueltaten in einem kultivierten Land geschehen konnten, und zwar unter den Augen einer Ärzteschaft, die zu den besten der Welt gehörte. Hier werde ich versuchen zu erklären, wie viele der schlimmsten Schandtaten mit aktiver Hilfe der deutschen Ärzteschaft geschahen.

Die Pseudowissenschaft der "Rassenhygiene" hatte starke Wurzeln. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der "Sozialdarwinismus" in ganz Europa immer populärer geworden. Diese Theorie ging davon aus, dass ganze Nationen in ähnlicher Weise wie Tierarten um das Überleben des Stärkeren kämpfen. In diesem Prozess der natürlichen Auslese wäre diejenige Nation am fittesten, die genetisch reiner ist als ihre Nachbarn.

Der Sozialdarwinismus stammt aus Frankreich (Herzog Gobinau) und England (Francis Galton). Seine deutschen Befürworter haben ihn jedoch erheblich erweitert: Alfred Ploetz prägte den Begriff "Rassenhygiene", Ernst Haeckel dachte erstmals über die Selektion durch Tötung von "Schwächlingen" nach, und der Arzt Fritz Lenz formulierte schließlich seine Theorie der Rassenungleichheit. Die Werke von Lenz lass Hitler während seiner Haft in Landsberg (1924 bis 1925). Sie hatten einen großen Einfluss auf seine Rassenpolitik der kommenden Jahre. Dem "Sozialdarwinismus" wurde der Antisemitismus hinzugefügt, und das teuflische Ergebnis war die Rassenhygiene.

Wie das Wort schon sagt, handelte es sich dabei im Wesentlichen um eine medizinische Angelegenheit. In seinem Credo ‚Mein Kampf' bezeichnete Hitler die jüdische Rasse als Bazillus, Parasit, Krankheit. Die Propaganda des Dritten Reiches übernahm diese medizinischen Analogien. Der "biologische Körper des deutschen Volkes" (Volkskörper) war bedroht. Der Heiler war Hitler, der versprach, diesen Angriff auf die Gesundheit des Volkes ein für alle Mal auszumerzen. Die Judenfrage wurde zu einem medizinischen Problem gemacht, dessen Therapie an Orten wie Auschwitz und Dachau durchgeführt werden sollte.

Die Ärzteschaft vertrat die Ansicht, dass die Heilung von Individuen eine Sache, die Heilung der Nation aber unvergleichlich wichtiger sei. Aufgrund der Popularität des Sozialdarwinismus, einer langen Geschichte des Antisemitismus und einer starken nationalsozialistischen Propaganda übernahm die Mehrheit der Ärzteschaft die Ideen der Rassenhygiene.

Die Rassenhygiene wurde zunächst von der deutschen Ärzteschaft entwickelt und ihr später anvertraut. Der Widerstand der deutschen Medizin war beschämend gering, und viele haben sich gefragt, warum. Eine Antwort ist, dass kritische Kollegen, die eine Opposition innerhalb des Berufsstandes hätten bilden können, nach 1933 schnell eliminiert wurden. An der Medizinischen Fakultät in Wien beispielsweise wurden innerhalb weniger Wochen nach 1938 etwa 80 % des Lehrkörpers entlassen. Der häufigste Grund für die Entlassung von Ärzten auf allen Ebenen war ihre jüdische Herkunft. Freiwerdende Stellen wurden mit neuen Mitarbeitern besetzt, die nicht für ihre medizinische Kompetenz, sondern für ihre politische Verlässlichkeit bekannt waren. Der Widerstand der Kollegen gegen diese Maßnahmen war daher minimal.

Die Zwangssterilisation wurde eingeführt, um die Freiheit des deutschen Volkes vor der drohenden Verunreinigung durch minderwertiges (jüdisches) Blut zu schützen. Sie wurde durch das "Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses" bereits im Juli 1933, nur 5 Monate nach der Machtergreifung der Nazis, legalisiert. Möglich wurde dies durch die Vorarbeiten in der Weimarer Republik, an denen die Ärzteschaft einen erheblichen Anteil hatte. Das Gesetz sah vor, dass behinderte Menschen identifiziert, von einer Expertenjury untersucht und anschließend sterilisiert werden sollten. Zu diesem Zweck wurden etwa 200 Gerichte für genetische Gesundheit eingerichtet. Diese waren ermächtigt, unfreiwillige Sterilisationen anzuordnen. Schätzungsweise 400.000 Menschen wurden Opfer dieser Gerichte.

Zu diesem Zeitpunkt hatten die Ärzte als "delegierte Richter" und "Hüter des Gesetzes" eine exekutive Stellung innerhalb des NS-Staates eingenommen. Als die medizinischen Gutachten nach dem Krieg ausgewertet wurden, stellte sich heraus, dass die überwältigende Mehrheit von ihnen von inakzeptabler Qualität war, und fast alle hatten Sterilisationen empfohlen. Nach Ansicht der führenden Befürworter der Rassenhygiene ging das Gesetz jedoch nicht weit genug, sondern tolerierte menschlichen "Ballast" und eine wirtschaftliche Belastung, die auf andere Weise beseitigt werden musste. Daher wurde das Konzept der Euthanasie von der freiwilligen Sterbehilfe zur unfreiwilligen, medizinisch überwachten Tötung umgewandelt.

Das Euthanasieprogramm der Nazis begann 1939 in verschiedenen medizinischen Fachabteilungen. Selbst für den Standard der Nazis war dies eine heikle Angelegenheit. Daher wurde versucht, es geheim zu halten. Theoretisch zielte das Programm auf die Ausrottung von Kindern ab, die an "Idiotie, Down-Syndrom, Hydrocephalus und anderen Anomalien" litten. In der Praxis reichte es jedoch aus, wenn die Ärzte die Diagnose "Jude" eintrugen, um ein Todesurteil zu fällen.

Ende 1939 wurde das Programm auf "lebensunwürdige" Erwachsene ausgeweitet. Man schätzt, dass mehr als 70.000 vorwiegend psychiatrische Patienten dem Programm zum Opfer fielen. Psychiater machten sich damals sogar Sorgen, ob es noch genügend Patienten geben würde, um ihr Fachgebiet am Leben zu erhalten. Die "Aktion T4" war die Berliner Zentrale des Euthanasieprogramms. Sie wurde von etwa 50 freiwilligen Ärzten geleitet.

An psychiatrische und andere Krankenhäuser wurden Fragebögen verschickt, in denen die verantwortlichen Ärzte aufgefordert wurden, Kandidaten für die Euthanasie zu benennen. In einigen Fällen war der Anreiz eine finanzielle Belohnung. Die Opfer wurden dann in spezialisierte Zentren transportiert, wo sie vergast oder vergiftet wurden. Die Aktion T4 war also für den ärztlich überwachten Mord verantwortlich. Ihre wahre Bedeutung liegt jedoch noch jenseits dieses Grauens.

Hitler selbst stellte das Programm am 24. August 1941 offiziell ein, nachdem der Widerstand in der Bevölkerung und im Klerus immer größer wurde. Doch die Aktion T4 entpuppte sich als nichts weniger als ein "Pilotprojekt" für die Tötung von Millionen Menschen in den Konzentrationslagern. Die T4-Einheiten hatten also die Technik für das Töten im "industriellen Maßstab" entwickelt. Nur mit diesem technischen Know-how war die totale Auslöschung aller Juden im expandierenden Reich absehbar. Vor allem aber erforderte diese wahrhaft monströse Aufgabe medizinisches Know-how und Zuverlässigkeit. Fast ausnahmslos die Ärzte, die für T4 gearbeitet hatten, übernahmen später die Verantwortung für das, was die Nazis die ‚Endlösung' nannten.

Während die Aktion T4 Tausende von Menschen tötete, sollten ihre Nachkommen unter der geschulten Anleitung von Ärzten Millionen vernichten. Die Rolle, die die Ärzteschaft bei den Gräueltaten des Dritten Reiches spielte, war daher von entscheidender und wesentlicher Bedeutung. Die deutschen Ärzte waren auf allen Ebenen und in allen Phasen beteiligt. Sie hatten die Pseudowissenschaft der Rassenhygiene entwickelt und akzeptiert. Sie waren maßgeblich daran beteiligt, sie zum angewandten Rassismus weiterzuentwickeln. Sie hatten das Know-how der Massenvernichtung entwickelt. Und schließlich führten sie unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Forschung unsagbar grausame und kriminelle Experimente durch.

Das Ziel, reine Arier zu erzeugen, hatte Vorrang vor den grundlegendsten ethischen Fragen der Medizin. Die deutschen Ärzte verrieten alle Ideale, die sich die Medizin bis dahin auf die Fahnen geschrieben hatte, und verstrickten sich in kriminelle Machenschaften von einem Ausmaß, das in der gesamten Geschichte der Medizin beispiellos ist.

Die Erinnerung an das, was in dieser Zeit geschah, sollte uns gegen ähnliche, zukünftige Übergriffe wappnen. Zwangssterilisationen und sogar ethnische Säuberungen verschwanden nicht aus der Welt, als sieben der Angeklagten im Nürnberger Ärztegerichtshof zum Tode verurteilt wurden. Verstöße gegen die Menschlichkeit sind auch heute noch eine tragische Realität. Die Kenntnis des größten Schandfleck in der Geschichte der Medizin sollte eine Präventivmaßnahme sein. Noch wichtiger ist vielleicht, dass diese Geschichte erzählt und wiedererzählt werden muss, um diejenigen zu ehren, die ihre Opfer wurden.

(Quellenangaben sind im Originalbeitrag zu finden)


  1. Ernst E. (1996). Killing in the name of healing: the active role of the German medical profession during the Third Reich. The American journal of medicine, 100(5), 579–581. ↩︎

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