Es hilft nichts, aber es muss. ich tue jetzt etwas, was mir geradezu  körperliche Schmerzen bereitet. Ich verteidige Angela Merkel. Ist aber  nicht das erste Mal, ich bekomme wohl Übung darin. So habe ich sie immer  für ihre Entscheidung vom Sommer 2015 gegen Kritik in Schutz genommen und tue das immer noch. (Es ist mir übrigens völlig egal, ob Faschos und andere rassistische Arschgeigen Schaum vor dem Mund haben deswegen.) Gar nicht mal nur aus humanitären Gründen. Die Grenzen offen zu halten, war die richtige Entscheidung und hat damals vermutlich die EU gerettet. Weil Kurz und Orbán sich zuvor im Geheimen abgesprochen und sich in einem poltischen Alleingang quergestellt hatten.

Jetzt sehe ich mich gezwungen, Merkel, die ich ansonsten ablehne (was kein Problem sein dürfte für sie, sie war Politkerin, da gehört das zum Job), gegen die völlig unangemessene Kritik auch aus dem eigenen politischen Lager wegen ihres Kurses in Sachen Energieversorgung und Russland in Schutz zu nehmen.

"Die Weltwirtschaft stürzt in Rezession und Inflation. Die Gemengelage ist so kompliziert, daß gegenwärtig nicht einmal verhandelt wird -- niemand kann sich eine friedliche Lösung vorstellen. Der deutsche Michel erträgt aber keine komplexen Schwierigkeiten, bei denen er zugeben muss, intellektuell überfordert  sein. In dem Fall sucht er sich einen Sündenbock, wird anfällig für Hetzer aller Art. Die einen rennen Wagenknecht und der AfD nach, weil  sie glauben, man müsse nur Putin freundlich bitten, die verbliebene Nordstream2-Röhre wieder aufdrehen und schon lösten sich alle unsere Probleme in Nichts auf. Das ist natürlich Unsinn." (Tammox)

Die  von Angela Merkel verantwortete Energie- und Russlandpolitik hat sich spätestens mit dem 24. Februar als fatale Sackgasse erwiesen, das ist unstrittig. Sie aber jetzt ex post facto dafür anzugreifen, ist dümmlich und selbstvergessen. Erstens, weil sie bloß konsequent das fortgesetzt hat, was vier ihrer Amtsvorgänger begonnen und immer weiter vorangetrieben haben, und zweitens, weil die allermeisten Deutschen es genau so wollten. Oder zumindest nicht protestiert haben. Weil Putin ja unser Freund ist. Deutschland ja, tri tra trullala, überhaupt nur von Freunden umgeben  ist.

Allen Unkenrufen zum Trotze war Merkel eben keine Diktatorin, die einsame Entscheidungen gegen den Willen und das Interesse des Volkes getroffen hat. Im Gegenteil, keine Regierungschefin vor ihr war so besessen davon, möglichst wenige vor den Kopf zu stoßen und hat so penibel darauf geachtet, im Sinne des gesellschaftlichen  Mainstreams zu handeln wie sie. Und billiges russisches Gas war nun einmal Mainstream, erneuerbare Energien galten als Ökospinnerei und direkter Weg in die grüne Askese- und Verbotsdiktatur. Willkommen im Leben!

"Natürlich wird der deutsche Michel keine Revolution machen. Macht er nie. Er wird nur wütend werden. Er wird meckern und maulen, zetern und jammern. Er wird sich in Umfragen äußern, die nicht gut für die Regierung sein werden. Er wird Plakate malen und auf die Straße gehen. Zusammen mit Sahra Wagenknecht und Alice Weidel. Er wird seine schlechte Laune in Kurzinterviews zum Ausdruck bringen, die von allen Sendern aus den deutschen Fußgängerzonen übertragen werden. BILD-TV wird den Rücktritt des Kanzlers fordern." (Kiezschreiber)

Hätten dieselben Leute, die jetzt nach 'Verhandlungen' mit Putin rufen (wie immer die auch aussehen mögen, ich glaube, im Kanzleramt und im Auswärtigen Amt ist man für jeden wirklich konstruktiven Vorschlag dankbar), damit das Gas billig und ihr Ärschchen hübsch warm bleibt -- hätten diese Leute es vor, sagen wir, fünf, oder zehn Jahren goutiert, wenn Merkel gesagt hätte: "Sorry Leute, aber wir  müssen sehen, dass wir von dem billigen russischen Gas unabhängig werden und ernsthaft auf erneuerbare Energien umsteigen und das könnte jetzt  ein wenig teurer werden. Aber wir schaffen das!"?

Im Gegenteil: Wäre das geschehen, dann hätten Linke sie des Russenhasses, wenn nicht pathologischer Russophobie geziehen, Rechte und Liberale hätten plötzlich ihr Herz für die Nöte der sozial Schwachen entdeckt (sozial Schwache sind bekanntlich nicht aufgrund politischer Entscheidungen vornehmlich von Rechten und Liberalen sozial schwach, sondern wegen Naturgesetzen, übernatürlicher Faktoren oder gleich selbst schuld). Die armen Alleinerziehenden, die sich wegen Merkels teurem Luxusstrom noch weniger leisten werden können! Die Abermillionen Arbeitsplätze die wegen Merkels irrwitzigen grünen Spinnereien verloren göngen!

Merke: Auch berechtigte Kritik kann so kreuzdumm sein, dass sie vor allem auf die Kritiker zurückfällt. Das nennt man dann Bigotterie. Oder Scheinheiligkeit. Erinnert ein wenig an die schweren Jahre nach 89. Da tönten mir bekannte JU-ler und Konservative plötzlich herum, sie hätten ihr Leben lang für die Wiedervereinigung gekämpft. In Wahrheit galt auch in der CDU jeder, der vor dem Herbst 1989 überhaupt das Wort in den Mund nahm, als gestrige Lachnummer.





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