Gerade habe ich das Buch „The Underground Girls of Kabul“ (Afghanistans verborgene Töchter: Wenn Mädchen als Söhne aufwachsen) von der Schwedischen Journalistin Jenny Nordberg fertig gelesen und muss zugeben, dass ich es faszinierend fand.
Zehn Jahre lang hat sie über die Bacha posh (aus der Dari Sprache übersetzt: „ein Mädchen als Junge verkleidet“) recherchiert, sie interviewt und ein Buch darüber geschrieben.
Mädchen, die sich als Jungen verkleidet haben, scheint es schon immer in Afghanistan gegeben zu haben und zwar sogar noch als die Hauptreligion des Landes nicht der Islam, sondern der Zarathustrismus war. Außerdem gibt es dafür Beweise (Nanda, 2014, Rugh, 1987, Jung, 2003), dass dieser Brauch weltweit verbreitet war, wo Töchter nicht wilkommen waren. Erstaunlicherweise, wurden diese als Buben verkleideten Mädchen teilweise einfach kulturell akzeptiert und als Junge respektiert.
Zwar ist es ein reiner Zufall, dass ich gerade ein Buch über Afghanistan gelesen habe, allerdings kann ich nicht umhin an die vielen Familien, die in dieser Reportage vorkommen und überhaupt an alle Afghanen und Afghaninnen zu denken, deren Leben derzeit auf so tragische Weise auf dem Kopf gestellt wird.
Treffend schreibt nämlich die Journalistin Jenny Nordberg als Schlußfolgerung: „If Afghanistan again takes a more fundamentalist turn, all the Setarehs, all the Mehrans, all the Azitas, and all the refuser girls will go first. They will once again risk being locked behind doors, in darkness” (Nordberg, 2015).
(Wenn Afghanistan wieder fundamentalistisch werden sollte, all die Setarehs, die Mehrans, die Azitas1) sowie alle Verweigerinnen werden als erste geopfert werden. Sie werden dem Risiko ausgesetzt, wieder hinter verschlossene Türen, in der Dunkelheit eingesperrt zu werden.)
1) Protagonistinnen aus dem Buch: Afghanistans verborgene Töchter.
Bevor ich überhaupt mit diesem Artikel weitermache, möchte ich also an erster Stelle mein Mitgefühl für die Menschen in Afghanistan ausdrücken, die damit gemeint sind.
Was mich allerdings in dem o.g. Buch am meisten geprägt hat, abgesehen davon, dass es ausführlich recherchiert, gut dokumentiert und spannend ist, ist die Tatsache, dass es mich immer wieder zum nachdenken gebracht hat.
Vor allem musste ich feststellen, dass ich dem Thema gegenüber teilweise voreingenommen war. Wie immer muss ich zugeben, dass, wie jeder Mensch auf der Erde, ich doch Sklave meiner Erziehung, meines Geschlechtes, meiner Lebenserfahrungen und meiner Schulbildung bin und zwar, egal wie sehr ich versuche, meine Weltanschauung durch Gespräche und Lektüre zu erweitern.
Hier sind also einige Fragen, worauf ich fälschlicherweise dachte eine Antwort zu haben:
1. Aus welchem Grund verkleiden sich Mädchen als Jungen?
Wie ich es vermutet hatte, Mädchen die in Afghanistan als Junge verkleidet sind, geniessen einfach mehr Freiheit. Sie können problemlos mit den anderen Jungen Fußball spielen, rennen und auf der Straße spielen.
Allerdings, so erfuhr ich, sind es immer die Eltern die den Entschluß fassen ihre Töchter als Bacha posh groß zu ziehen. Die Töchter kommen in dieser Hinsicht selten zur Wort. Viele werden sowieso schon als Baby oder Kleinkind als Sohn statt Tochter der Außenwelt präsentiert.
Die Beweggründen aber sind vielfältiger als ich geahnt hatte.
In einem Land, in dem Väter als „mada posh“ (der, dessen Frauen nur Mädchen gebären können) verhöhnt werden, einem Land in dem Mütter eines neugeborenen Sohnes gefeiert werden, während diejenigen, die gerade eine Tochter entbunden haben, teilweise tagelang danach vernachlässigt werden und darben, ist es höchstwichtig, mindestens einen männlichen Erben zu bekommen.
In diesem Fall, ist ein bacha posh das kleinere Übel. Auch wenn manche Nachbarn und Familienmitglieder sich nicht täuschen lassen, kann trotzdem die soziale Stellung von den Eltern durch diese List verbessert werden.
Auch erwarten manche Eltern, dass ein Mädchen die Stelle vom großen Bruder übernimmt, um auf einen Einzelsohn aufzupassen und quasi als bodyguard zu dienen. Weil Mädchen nicht aus dem Haus und schon gar nicht arbeiten dürfen, brauchen außerdem einige Väter –die sonst zu arm wären, um eine hilfskraft einzustellen- diese „Ersatz-Söhne“, damit sie im Geschäft helfen. Bacha poshhaben auch den Ruf „Söhnemacher“ (Son makers) zu sein. Wer vergeblich auf die Geburt eines Sohnes gewartet, stattdessen aber nur Töchter bekommen hat, mag eine davon als Junge verkleiden, damit –so der Glaube- das nächste Kind endlich mal männlich wird.
2. Welche Spur hinterlässt wohl so eine Verwandlung bei den Betroffenen?
Angenommen, hatte ich, wer einmal bacha posh ist, bleibt für immer bacha posh. Aber diese Mädchen, die in ihren ersten Jahren die gleiche Freiheit wie ihre männlichen Spielkameraden genossen haben, werden meistens kurz vor der Pubertät brutal in Mädchen zurück verwandelt.
Was für ein Trauma! Erst mussten diese Töchter ihre weibliche Identität, dann ihre Freiheit aufgeben. Aber noch einmal musste ich feststellen, dass ich als Westländer die Situation beurteilt hatte. Obwohl natürlich jede Geschichte eines bacha poshes unterschiedlich ist, traff Jenny Nordberg mehrere Frauen, die früher als Junge aufgewachsen waren und die scheinbar problemlos in ihrer Rolle als Mädchen zurückfanden. Außerdem erwähnten etliche davon, dass ihre Erfahrung als Junge sie stärker und selbstbewusster gemacht hatte.
Natürlich gibt es genug Frauen, die es schwer fanden, auf ihre als Junge gestohlene Freiheit abrupt verzichten zu müssen, aber das ist nur ein Teil der Geschichte.
3. Wie wird das Konzept „Geschlecht“ in Afghanistan wahrgenommen?
Diese Frage mag im ersten Blick naiv erscheinen. Wenn man die Wörter weiblich und männlich rein biologisch interpretiert, dient das Geschlecht nur der Fortpflanzung. Aber wie würden sie eine Frau oder ein Mann vom sozialen Geschlecht her definieren? Was macht einen Mann ein Mann? Eine Frau eine Frau?
Alle Afghaninnen die Jenny Nordberg interviewt hat, waren sich eingig: der Unterschied zwischen Mann und Frau kann man mit einem Wort zusammenfassen: Freiheit. Das ist die klare Trennung zwischen den beiden Geschlechtern.
Was macht aber eine Frau in den Augen von einer Afghanin aus? Rein visuell, so hatte ich vermutet, reicht es aus, lange Röcke und einen Schleier zu tragen, um als Frau zu gelten. Jenny musste allerdings die Erfahrung machen, dass sie ohne zögern und trotz weiblicher Kleidung von den anderen Afghanischen Frauen als Mann bezeichnet wurde. Ihr Gang war zu brüsk, statt langsam und graziös zu sein. Ihre Gesprächspartner schaute sie direkt in die Augen, statt bescheiden den Blick zu senken und sie bewegte die Hände beim sprechen. Das alles machte sie definitiv zum Mann.
Dies waren nur ein paar von den Aussagen aus dem Buch, die mich geprägt haben. Es hat etliche von meinen Voreingenommenheiten in Frage gestellt und mich bereichert. Das Buch war in diesem Sinn ein wahrer Genuß.
Was die Protagonistinnen dieser Reportage betrifft, kann ich nur hoffen, dass sie, 10 Jahre nachdem das Buch geschrieben wurde, entweder friedlich zu einem Leben als Frau zurückgefunden haben oder immer noch als bacha posh leben und inzwischen zu alt sind, um Kinder zu gebären. Eine Großmutter erzählte nämlich Jenny Nordberg, dass sogar die Taliban, Frauen die als Mann verkleidet waren, zugelassen hatten, wenn diese das gebärende Alter überschritten hat, da sie nicht mehr als „Frau“ galten.
Nanda, S. (2014). Gender diversity (p. 40). Long Grove, Illinois: Waveland Press.
Rugh, A. (1987). Reveal and conceal. Cairo: The American University in Cairo.
Jung, A. (2003). Beyond the courtyard (p. 125). New Delhi: Viking.
Dir gefällt, was Benjiro Sadiq schreibt?
Dann unterstütze Benjiro Sadiq jetzt direkt: