Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 war die unabhängig gewordene Ukraine mit einem Schlag die drittstärkste Atommacht der Welt. 1994 übergab das Land die über 4000 Atombomben an Russland und erhielt dafür etwas Geld und die Selbstverpflichtung Russlands, der USA und Grossbritanniens, dessen Souveränität und territoriale Integrität zu respektieren. Nun zeigt sich: Das «Budapester Memorandum» scheiterte am atomaren Gleichgewicht des Schreckens.
Die Verteidigungsminister der Ukraine, Russlands und der USA säten am 4. Juni 1996 auf einem Feld bei Perwomajsk im Südwesten der Ukraine Sonnenblumen aus. «Unsere drei Länder haben dafür gesorgt, dass unsere Kinder und Grosskinder in Frieden leben werden», verkündete der US-amerikanische Verteidigungsminister William J. Perry. Tief im Boden unter ihren Füssen hatte im Silo 110 eine Langstreckenrakete direkt auf die Vereinigten Staaten gezielt. 80 dieser unterirdischen Abschussrampen mit 700 Nuklearsprengköpfen gab es in der Militärbasis Perwomajsk. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der Ukraine war das Land mit über 4'000 Atombomben auf einen Schlag die drittgrösste Atommacht der Welt geworden. Nach langen, komplizierten Verhandlungen einigten sich die Ukraine und Russland auf die Übergabe der Atombomben. Das nahezu bankrotte Land wäre noch nicht einmal in der Lage gewesen, diese zu verschrotten, geschweige denn, sie artgerecht zu lagern und sichern - und schon gar nicht zu starten. Russland hatte sowohl den Startknopf als auch sämtliche Kontrollsysteme in seiner Hand. Deshalb ging es der Ukraine primär darum, einen möglichst hohen Betrag herauszuhandeln. Es wurde schliesslich eine Milliarde Dollar, die Russland in Form von atomaren Brennstäben für die Atomkraftwerke der Ukraine lieferte. Ein halbes Jahr später versprachen Russland, die USA und Grossbritannien, unter anderem die Souveränität der Ukraine und Weissrusslands zu respektieren, als Gegenleistung für den Nuklearwaffenverzicht. Das «Budapester Memorandum»war ein komplizierter Rechtsakt. Bis heute streiten sich die Juristen darüber, ob dieses rechtsverbindlich war. Offen ist insbesondere die Frage, ob die Unterzeichnerstaaten gehalten sind, zu intervenieren, wenn es zu Verletzungen der Souveränität kommt. 2014 rechtfertigte der US-amerikanische Botschafter in Kiew nach der russischen Annexion der Krim das Nicht-Eingreifen seines Landes mit der Erklärung, das Budapester Memorandum sei «kein Abkommen über Sicherheitsgarantien» gewesen. Es habe sich nur um die Verpflichtung gehandelt, die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine zu respektieren. Diese habe Russland verletzt. Damit war das Memorandum faktisch tot, und sämtliche Bemühungen der Ukraine, darauf zurückzukommen und es um entsprechende Sicherheitsgarantien zu erweitern, scheiterten. Leonid Krawtschuk, der erste Präsident der unabhängigen Ukraine, hatte das Budapester Memorandum 1994 eingefädelt und unterzeichnet. Vor zwei Jahren versuchte der damals 86-jährige, im Konflikt um den Donbass im Auftrag von Präsident Volodimir Selenski zu vermitteln. Er plädierte für direkte Verhandlungen mit Russlands Präsident Wladimir Putin. Vergeblich. Die Sonnenblumen werden heute vor den russischen Botschaften in aller Welt niedergelegt. Es bleibt die bittere Erkenntnis, dass die Ukraine auf dem Altar des atomaren Gleichgewichts des Schreckens geopfert wird. Und es bleibt die nicht mindere bittere Erkenntnis, dass sich so manche diktatorisch agierende Mittelmacht, nicht der nur der Iran, nun ernsthaft überlegen wird, sich Atomwaffen zuzulegen. Es ist, wie der Blick ins stalinistische Nordkorea zeigt, realpolitisch die beste Versicherung gegen imperiale Eroberungsgelüste der Grossmächte.