Die Mittelklasse, auch Mittelschicht oder Mittelstand genannt, gilt als eine der höchsten gesellschaftlichen Errungenschaften des Industriezeitalters. Wo einstmals die Gesellschaft hauptsächlich in eine mehrheitliche Gruppierung von Bauern, Handwerkern und sonstigen Plebejern, und eine Minderheit an Adeligen und Klerikern, welche den Reichtum fast ausschliesslich für sich monopolisierten, eingeteilt war, entstand ab dem 19. Jh. eine immer grösser werdender Anteil einer kleinbürgerlichen Mittelklasse, welche keinen grossen Einfluss, Landbesitz, o.ä. besass, aber hingegen in angemessenem Komfort und Sicherheit lebte, im Vergleich zu den Oberschichten. Im Laufe des 20. Jh. entwickelte sich diese Mittelklasse zum vorherrschenden, prototypischen Lebensstil: Keinerlei Mangel an Grundversorgung, eine geräumige Wohnung oder gar Einfamilienhaus als Eigentum, mindestens ein Automobil, regelmässige Ferienreisen und sonstige Freizeitvergnügung, usw., wären die Ansprüche, die man mit der Mittelklasse der zweiten Hälfte des 20. Jh. assoziieren würde. Implizit war dieses Phänomen als Höhepunkt der westlichen Zivilisation verstanden, als ein Zustand, worin eine grosse Mehrheit der Leute einen vergleichbaren und komfortablen Wohlstand besassen, und die besonders Reichen wie auch die Armen als Ausnahme galten.
Jedoch bei einer achtsamen Analyse der aktuellen Situation der meisten westeuropäischen Staaten, bleibt im Grunde nur das Fazit übrig, dass die Mittelklasse, wie sie bisher bekannt war, als mehrheitliches Phänomen eines gesicherten und komfortablen Lebensstandards, nicht nur kaum noch als solche existiert, und immer weiter schwindet, sondern wahrlich gar nicht mehr als solche möglich ist. Die immer niedrigeren Löhne und höheren Anforderungen der Arbeitgeber, die steigenden Eigenheimpreise, die steigenden Energiepreise, die immer höheren Steuerabgaben um den unaufhaltsam wachsenden Staatsapparat und Sozialstaat zu unterhalten, und schliesslich auch noch die jüngst hinzugekommen Inflation bilden zusammen eine Situation, worin die Mittelklasse nicht nur schwindet, sondern wahrlich gar nicht mehr möglich ist: Ein Einkommen, das den einstigen Mittelklassenkomfort erhalten kann, ist weit über dem Median selbst! Man führe sich vor Augen: In Deutschland ist ein Mediangehalt bei ca. 21.000 Euro im Jahr, das sind unter 2.000 Euro im Monat. Es ist vollkommen undenkbar, hiervon einen Mittelklassenlebensstil für eine vierköpfige Familie zu unterhalten, was vor einem halben Jahrhundert aber noch völlig normal war. Man bedenke auch, dass das Median bedeutet, die Hälfte der Gehälter liegt unter diesem Wert.
Die Mittelklasse wie man sie vor allem von den 50er bis 80er Jahren kannte, ist heute eine residuale Erscheinung, die allenfalls noch durch mehrfaches Einkommen eine Zeit lang aufrechterhalten werden kann. Ansonsten lässt die Situation kaum noch Spielraum, zwischen einem unweigerlich privilegierten Kleinbürgertum, und einer verarmten Arbeiterklasse. Dieses Phänomen, das eigentlich das Ende einer der grössten gesellschaftlichen Errungenschaften aller Zeiten darstellt, wird nichtsdestotrotz kaum bewusst wahrgenommen. Die Metapher des Frosches im Topf besagt, dass dieser, wenn er in heisses Wasser geworfen wird, sofort herausspringt, jedoch aber nicht bemerkt, wenn er in lauwarmes Wasser kommt, und dieses nach und nach bis zum Siedepunkt erhitzt wird. In etwa so ist es über die letzten Jahrzehnte mit der Auflösung der Mittelklasse geschehen, welche schrittweise untergraben wurde. In Deutschland zum Beispiel ist das Mediangehalt von knapp über 19.000 Euro im Jahre 1991 nur auf 21.700 Euro im Jahre 2016 gestiegen; die Eigenheimpreise haben sich seit 2008 fast verdoppelt; der Strompreis hat sich seit dem Jahr 2000 (19.94 cts/kwh) bis 2020 mehr als verdoppelt (31.81 cts/kwh); die Kosten des Sozialstaates sind derweil von 24,9% des BIP im Jahre 1991 auf 33,6% im Jahre 2020 gestiegen. Hinzu kommt, wie zuvor erwähnt, dass die Anforderungen der Arbeitgeber gestiegen sind, und somit auch höhere Bildung mit den entsprechenden Kosten und dem späteren Einstieg ins Berufsleben voraussetzt. Es sind nur stichprobenartige Beispiele, für eine Entwicklung die fast im ganzen westlichen Kulturraum geläufig geworden ist. Kurz gesagt: Alles wird teurer, aber die Löhne steigen kaum.
Bedenklich ist, dass all dies der Wahrnehmung entgleitet. Dies hängt zumal damit zusammen, dass die Wahrnehmung solcher komplexer und massiver Phänomene nicht bloss inhärent ist (d.h. die Wahrnehmung über die eigenen Sinne), sondern dass diese zu einem grossen Teil über den öffentlichen Diskurs geschieht. Die Erfahrungen, die man selber kennt, oder von nahestehenden Personen, werden, eigentlich zu Recht, als anekdotisch abgetan. Was einem selbst, oder vielleicht einem Dutzend Leute oder Familien widerfährt, mit welchen man verkehrt, muss schliesslich nicht massgebend sein, für das, was der Mehrheit widerfährt. In diesem Fall ist die Situation aber selbst für einen Laien problemlos aufzuzeigen, und sollte, angesichts der Tatsache dass einer der höchsten gesellschaftlichen Erfolge der Neuzeit merkbar zu Grunde geht, eigentlich eine für diesen Diskurs erwähnenswerte Tatsache sein. In der Praxis findet sie aber nur marginal Erwähnung. Mit der Auflösung der Mittelklasse hat sich gleichwohl der öffentliche Diskurs auf das privilegierte Kleinbürgertum verschoben, zumal weil die, die diesen Diskurs dominieren zu diesem Kleinbürgertum gehören, oder zumindest in seinem Dienste stehen. Sicherlich hing der Aufschwung der Mittelklasse auch mit der Präsenz einer Interessenvertretung zusammen, und der Niedergang mit der Abwesenheit dieser. Medial wird eine Entwicklung, die an sich katastrophal ist und keinerlei Besserung aufzeigt, als temporäres, wenig bedeutendes und den Umständen bedingtes Phänomen relativiert. Schlussendlich ist die Bedeutung, die man dem Vorhandensein einer Mittelklasse erteilt subjektiv. Aber wenn man diese als höchsten Nachweis einer gerechten Reichtumsverteilung, als Wohlstandsgarant für die einfachen Leute und schlussendlich als Siegeszug der Demokratie, worin die Mehrheit für die Grundlagen einer mehrheitlichen Mittelklasse statt einer feudalen Ständeordnung stimmt, so bedeutet das Ende der Mittelklasse auch das Ende der modernen westlichen Wohlstandsgesellschaft.
Im spanischsprachigen Raum gibt es einen Witz, der besagt, es hätte einmal einen Menschen gegeben, der war so unglaublich dumm, dass er das Motorrad verkaufte, um sich den Helm zu kaufen. So wie es aussieht, passiert in unserer Gesellschaft etwas ähnliches, worin der ganze Wohlstand, die Zukunftsaussichten und die Egalität aufgegeben werden, um vermeintlich die Welt zu retten, vor dem Klimawandel, vor den Russen, vor dem Coronavirus, und vor den sonstigen allwöchentlichen Weltuntergangserscheinungen. Aber wenn wir all das, was uns vermeintlich zu einer besseren Gesellschaft macht dafür aufgeben, was verteidigen wir dann überhaupt?