Teil 0 mit einleitenden Bemerkungen und Teil 1 mit einer Betrachtung der außenpolitischen Rolle der USA gingen diesem Artikel voraus.

Hellsichtige Beobachtende hatten bereits 2006 vor der sich zusammenbrauenden Katastrophe im US-Immobilienmarkt gewarnt. Aber die Verlockungen dieser Blase waren zu groß. Invrestor*innen aus aller Welt steckten Billionen und Aberbillionen in den Markt. Wie die Akteure rund um den berühmten "Big Short" bald feststellen mussten genügte es auch nicht, diese Analyse zu treffen und gegen den blinden Markt zu wetten, denn die großen Player der Finanzindustrie waren mächtig genug, die Marktkräfte außer Kraft zu setzen und das Spiel teils durch Lobbying, teils durch illegale Geschäftspraktiken noch länger aufrechtzuerhalten. 2007 aber war das Spiel aus. Die lange Finanzkrise begann.

Ich sage lange Finanzkrise, weil, ähnlich wie bei der Weltwirtschaftskrise 1929 auch, die Jahre danach in der Betrachtung allzugerne vergessen werden. Verdrängt, gewissermaßen. Dabei ist sie das zentrale Ereignis des frühen 21. Jahrhunderts und hat ein Erdbeben ausgelöst, dessen Folgen wir heute noch spüren. Gleichzeitig gilt sie seit 2009 üblicherweise als überwunden - eine Perspektive, die ebenso falsch wie gefährlich ist.

Ich will im Folgenden nicht ausführlich auf die Mechanismen der Krise selbst eingehen. Es gibt hier Übersichten, die das besser vollbracht haben (deutsch) als ich es mit meinen begrenzten Fachkenntnissen könnte und auf die ich mich hier auch beziehe. Stattdessen soll es hier vor allem auf die Folgen der Krise und um die Krisenreaktionen gehen.

Wichtig für das Verständnis dessen, was in der Dekade nach 2006/2007 passiert ist, ist eine zentrale Erkenntnis: Die Bankensysteme praktisch aller Staaten weltweit sind miteinander zu einem Weltfinanzsystem verwoben und verknüpft. Eine Lokalisierung von Trends, Krisen und Transaktionen ist daher praktisch unmöglich. Wir nennen dieses Phänomen "Globalisierung". Ich betone es deswegen, weil die Globalisierung als Konzept einen merkwürdigen Abstieg durchgemacht hat. Um 2004 herum, als unsere Geschichte beginnt, war sie in aller Munde. Es gab eine kleine, aber entschlossene und lautstarke Minderheit, die gegen die Globalisierung antrat. Diese "Globalisierungsgegner*innen" oder "Globalisierungsgegner*innen" waren links und hatten ihre Machtbasis in einigen Gewerkschaften, in attac und in den linken Flügeln der sozialdemokratischen Parteien. Einen Einfluss auf die Politik hatten sie dagegen praktisch überhaupt nicht.

Die Politik dagegen wurde von dem dominiert, was seinerzeit unter dem Begriff "neoliberal" firmierte, ein Begriff, der mittlerweile als Kampfbegriff ungefähr jene Trennschärfe erreicht hat, die auch "Identitätspolitik" auszeichnet und der als Analyseinstrument beinahe unbrauchbar geworden ist. Als beschreibende Kategorie mag er dagegen noch soweit taugen, dass wir zumindest wissen, was gemeint ist: ein weltweiter Konsens zur Deregulierung und Transnationalisierung der Weltwirtschaft und einem Primat der Finanzmärkte. Die Idee dahinter ist in ihren Grundzügen vergleichsweise einfach zu verstehen. Da die Weltwirtschaft global ist, entzieht sie sich der Kontrolle nationalstaatlicher Strukturen. Da solche aber der Versuchung nicht widerstehen können, sich trotzdem an Eingriffen zu versuchen, muss die Wirtschaft durch ein weltweites Regelsystem so weit wie möglich der Kontrolle der flatterhaften und den Volkslaunen unterworfenen Regierungen entzogen und einem weltweiten Regelwerk unterstellt werden. Das Regelwerk selbst kam zum einen durch zahlreiche Vertragswerke und Kontrollinstrumente (für die Finanzwirtschaft etwa Basel I), andererseits durch die 1995 gegründete Welthandelsorganisation.

Die vorherrschende Idee war, dass die Finanzmärkte eine Art (wenngleich unvollständiger und unperfekter) Repräsentation der Weltwirtschaft darstellten und die Staaten "disziplinierten". Die praktisch unvorstellbaren Summen, die sie tagtäglich umsetzten, die fantastischen Gehälter und Boni, die sie auszahlten, und die globale Natur ihrer Elite und ihrer Tätigkeiten hatte sie zu einer Art abgekapselten Elite gemacht, die (wenngleich extrem unvollständig) die Rolle einer Weltregierung übernahm, wo finanzielle Fragen betroffen waren. Das alles ist nicht neu; dieselbe Idee hatte bereits im ersten liberalen Zeitalter geherrscht. Sie ist auch in sich durchaus schlüssig.

Ich verweile an dieser Idee einer liberalen Weltordnung deswegen etwas länger, weil diese Weltordnung um 2004 unangefochten zu regieren schien. Die wenigen Globalisierungskritiker*innen, die dagegen aufbegehrten, waren - wie erwähnt - ohne jeden Einfluss. Selbst ihre eigentlichen Mutterparteien, von SPD zu Democrats zu New Labour, hatten sich alle emphatisch zu dieser liberalen Weltordnung bekannt. Das soll hier nicht als Kritik verstanden werden. Es ist nur wichtig zu verstehen, dass diese Ansicht auf der Welt absolut dominant war.

Wir werden uns mit den außenpolitischen Implikationen dieses liberalen Konsens' noch im nächsten Teil beschäfigen. Hier sei nur der Verweis gestattet, dass zu Beginn der 2000er Jahre die allgemeine Annahme war, dass dieser Konsens auch die "emerging markets" erfassen würde, also etwa Brasilien und Indien, und dass Russland einerseits und China andererseits in dieses weltweite Regelsystem integriert würden und dadurch zuerst in der Wirtschaft, dann aber auch gesellschaftlich eine Liberalisierung und Angleichung an den Westen durchlaufen würden. Warum diese Prognosen nicht eintrafen, werden wir in Teil 3 genauer beleuchten.

Doch der Konsens ist heutzutage auch bei seinen einstigen Proponenten nicht mehr zu finden. Die Vorrangstellung es Freihandels und die Vorstellung, dass der Abbau von "Handelshemmnissen" in Form von Regulierungen der Weg vorwärts sei, ist heute, höflich gesagt, nicht mehr so en vogue. Der Grund dafür liegt an der Finanzkrise.

Ich habe bisher einen essenziellen Machtfaktor dieses internationalen liberalen Konsens' außenvorgelassen: die Zentralbanken. Ihnen kommt in diesem System eine entscheidende Rolle zu. Denn wenn die Finanzmärke ein weltweit geltendes Regelsystem durchsetzen sollten, dann brauchte es dafür eine entsprechende Institution. Die Zentralbanken verstanden in dieser Zeit ihre Rolle entsprechend. In Europa atmete die neu gegründete EZB den Geist der alten Bundesbank, sehr zum Leidwesen von Paris, und besaß ein ausschließlich der Geldwertstabilität verpflichtetes Mandat.

Die Idee dahinter ist im Endeffekt dieselbe wie früher beim Goldstandard: dadurch, dass den einzelnen Staaten de facto die geldpolitische Zuständigkeit entzogen war, waren die Parameter des Systems stabil. Die WTO-Regeln verhinderten Enteignungen und andere politische Einflüsse (man denke hier nur an die Schiedsgerichte, die im Zentrum linker Kritik stehen), während die Zentralbanken dafür sorgen, dass das Geld und die Wechselkurse in einem berechenbaren Rahmen bleiben. Die Sphäre der Wirtschaft ist damit den Staaten weitgehend entzogen, weil viele Regelungen global und damit aus den Händen der nationalen Parlamente sind und das System der Finanzierung dafür sorgt, dass die Staaten nur dann Kredite bekommen, wenn die zugrundeliegende Basis nach den Maßstäben des liberalen Konsens stabil ist.

Die direkte Folge sind enge Handlungsspielräume bei der Staatsfinanzierung. Eine unkontrollierte Schuldenaufnahme ist nicht möglich, ein Weginflationieren der Schulden genausowenig. Das System zwingt zu einer staatlichen Selbstbeschränkung, zum internationalen Standortwettbewerb und zum Rückbau des Interventions- und Wohlfahrtsstaats, der als marktstörender Faktor wahrgenommen wird.

Zumindest in der Theorie. In der Praxis waren die Finanzmärkte nur zu bereit, unsichere Kantonsiten wie Griechenland mit sehr günstigen Krediten zu versorgen. Auf dem Papier funktionierte das auch; der griechische Haushalt war in den 2000er Jahren dank eines Booms nachhaltig - gerade so und mit etwas Zahlenmassage. Spielräume aber besaß die griechische Regierung keine; der kleinste Einbruch der Konjunktur würde bereits die Katastrophe bringen. Und was über die Welt hereinbrach, war kein kleiner Einbruch der Konjunktur. Aber wir werden uns mit Griechenland noch im vierten Teil beschäftigen.

Als die Finanzkrise ausbrach, war die Annahme der meisten Wirtschaftswissenschaftler*innen, dass ein inflationärer Druck auf den Dollar entstehen würde, weil die (souveräne) US-Regierung, sich in ihrer eigenen Währung verschuldend, über die Fed zusätzliche Dollar ins System spülen würde (ein Weg, der der EZB in ihrem ordliberal inspirierten Aufbau explizit nicht offenstand). Das geschah aber nicht. Als die Krise begann, stieg der Wert des Dollars, anstatt zu fallen.

Die Verwirrung darüber hielt jedoch glücklicherweise nur kurz an. Was die Notenbanker*innen der Fed schnell erkannten war, dass die globale Natur der Finanzkrise für einen Nachfrage-, nicht Angebotsschub bei Dollar sorgte. Das Problem waren nicht zu viele Dollar im System. Das Problem waren zu wenige.

Das lag an der internationalen Struktur des Systems. Billionen über Billionen an Investments waren durch ausländische Banken im amerikanischen Finanzsektor getätigt worden. Die Banken, die darin verstrickt waren, brauchten für die kurzfristige Refinanzierung der langfristigen Investments, die sie getätigt hatten, Dollar, die sie nicht sebst emittieren konnten. Das war ein Problem, denn die Fed stellte zwar amerikanischen Banken Dollar zur Verfügung, aber nicht denen anderer Nationen. Dafür war der amerikanische Finanzmarkt zuständig. Der allerdings befand sich in einer Kernschmelze.

Diese Kernschmelze war zu einem guten Teil unausweichlich, wurde aber durch eine politische Fehlkalkulation der Bush-Regierung massiv befeuert: den Bankrott von Lehmann Brothers. Das Lehmann-Brothers-Managment hatte in völliger Verkennung der Situation versucht, von der US-Regierung einen mögloichst großzügigen Bailout zu erpressen. Stattdessen ließ die Regierung sie fallen. Dadurch injizierten sie das tödlichste Gift in das Finanzsystem, das dieses haben konnte: Unsicherheit.

Keine Bank vertraute mehr der anderen. Der interne Handel kam praktisch zum Erliegen, ein Bankrun und damit ein Totalzusammenbruch des Bankensystems wie 1931 schien nur noch eine Frage der Zeit, von Tagen, vielleicht gar Stunden. In dieser Situation intervenierte die Fed. Über das bereits im Vorjahr geschaffene System der so genannten "Swap Lines" erlaubte sie ausgewählten nationalen Zentralbanken, direkt Dollar zu beziehen und an ihre eigenen Banken auszugeben und hielt somit den Finanzfluss aufrecht. Diese Entscheidung der Fed kann in ihrer Dramatik nicht überschätzt werden. Ohne die Swap Lines wäre die Weltwirtschaft gecrasht. Der Dollar war die Leitwährung der Welt. Und die USA nahmen ihre Verantwortung für das Ganze wahr und blieben nicht in ihrer nationalen Blase.

Diese Entscheidungen traf die Fed dabei im Wesentlichen, ohne ein politisches Mandat zu besitzen oder auch nur groß Rücksprache mit dem Weißen Haus oder dem Kongress zu halten. Sie legte ihr Mandat damit vergleichsweise weit aus. Die Linie der Fed war effektiv: "Wenn das weltweite Finanzsystem kollabiert, ist der Dollar nicht mehr stabil; um den Dollar stabil zu halten, müssen wir also das Weltfinanzsystem stützen." Das war natürlich sinnvoll und die richtige Entscheidung. Wir werden in Teil 4 sehen, welche katastrophalen Folgen das Nicht-Anerkennen dieses Umstands durch die EZB in der Eurozone haben würde.

In den USA gab es allerdings, genauso wie in Deutschland, wütende Proteste gegen diese Politik der Fed. Die Koch Brothers machten zig Millionen Dollar locker und gründeten praktisch im Alleingang die "Tea Party", die in der republikanischen Welle des Jahres 2010 über 80 Abgeordnete in den Kongress spülte.

In der Post-Trump-Ära vergisst man leicht, dass der Extremismus der GOP und ihr offener Rassismus nicht am Beginn dieses Weges stand, sondern eine Evolution darstellt. Der Beginn war der Aufstand der republikanischen Basis gegen die Krisenpolitik der Regierung. Das bemerkenswerte ist, dass dieser Aufstand bereits begann, BEVOR Obama zum Präsidenten gewählt wurde. Die Tea Party begann als Rebellion gegen die GOP, als Kriegserklärung der Koch Brothers und ihrer Verbündeten gegen Bush und die das eigene Parteiestablishment.

Dieser Aufstand begann 2007 gegen das TARP-Projekt der Bush-Regierung, die Rettung des amerikanischen Bankensystems. Nur das erste der mit diesen Rettungen verbundenen Pakete konnte noch auf geeinte GOP-Unterstützung im Kongress bauen. Bereits bei den weiteren Paketen stimmten mehr Republicans als oppositionelle Democrats gegen die Rettung der Finanzwirtschaft und damit der US-Wirtschaft als Ganzem, ein düsterer Vorbote dessen, was bald kommen sollte. Als John McCain im Wahlkampf 2008 stand, war er gezwungen, gegen das Weiße Haus wahlzukämpfen - während Obama und die Democrats im Kongress mit Bush zusammenarbeiteten, als wären sie bereits die Regierungspartei! Seinen Höhepunkt fand dieser Irrsinn, als McCain dem Druck seiner rapide in den Populismus abgleitender Basis nachgab und sich gegen alle Rettungsprogramme aussprach, eine Konferenz in Washington mit dem Weißen Haus, Obama und der Fed verlangte, diese bekam und dann - nichts sagte. Das absurde Meeting wurde in vielen Quellen ausführlich besprochen, aber die völlige Konfusion der Anwesenden, als McCain, der das Treffen verlangt hatte, auf direkte Ansprache beharrlich schwieg, war mit Händen zu greifen. Spätestens hier war der Wallstreet klar, dass die Hoffnung auf ihr Überleben auf der politischen Linken lag, nicht der politischen Rechten. Dieser absurde Seitenwechsel wird uns in diesem Artikel noch öfter beschäftigen, aber er fußte auf dem tief eingegrabenen Gefühl staatspolitischer Verantwortung bei den sozialdemokratischen Parteien - und der praktisch völligen Abwesenheit desselben bei den Rechtspopulisten, die in den USA rapide die Republicans zu übernehmen begannen, ein Prozess, der sich in Großbritannien in den 2010er Jahren bei den Tories wiederholen sollte und der glücklicherweise in Deutschland bisher weitgehend vermieden werden konnte.

Das heißt nicht, dass es gegen die Bankenrettung und die folgende Krisenpolitik nicht auch linke Opposition gegeben hätte, far from it. Sie war nur unorganisiert und politisch heimatlos. Nirgendwo zeigte sich das so deutlich wie bei der Occupy-Wallstreet-Bewegung. Diese entstand fast zeitgleich mit der Tea Party und kanalisierte den linken Unmut gegen die Bankenrettung. Anders als die Tea Party war sie aber komplett von jeglichen größeren Finanzierungsströmungen oder der Unterstützung politischer Akteure abgeschnitten. Kein demokratischer Funktionär, der irgendeine Hoffnung auf eine Karriere hatte, kam auch nur in die Nähe der Gruppe. Die Ängste, dass hier ein Aufstand der Massen stattfinden würde, zerstoben schnell. Die Polizei knüppelte mit bewährter Routine die friedlichen Demonstrationen nieder, und die Bewegung selbst wandte sich mit ebenso bewährter Routine dem liebsten Pläsier aller Linken zu: dem Sektierertum und inneren Richtungskampf. Innerhalb weniger Monate war Occupy auf einen winzigen harten Kern zusammengeschmolzen, der im Endeffekt in einem einfachen, wenig beachteten Polizeieinsatz beseitigt werden konnte. Das war letztlich das Ende dieses Widerstands.

Den euroäischen Ablegern von Occupy erging es nicht anders. Der deutsche Versuch Occupy Frankfurt war so armselig, dass nicht einmal die Springer-Presse oder das Handelsblatt es schafften, sie ernsthaft als Bedrohung von irgendetwas darzustellen (wenngleich es im April 2009 eine kurze, intensive Gespensterdebatte über "soziale Unruhen" in Deutschland gab). Etwas größere Erfolge konnten in den südeuropäischen Hauptstädten verzeichnet werden, aber auch hier behielt das Establishment das Heft des Handelns in der Hand und die Proteste sich liefen schnell von sich aus tot. Eine bemerkenswerte Ausnahme, die aber gleichzeitig indikativ für das Geschehen steht, war die deutsche Debatte im Feuilleton der FAZ, wo Frank Schirrmacher, der Gottvater des Feuilletons der 2000er und frühen 2010er Jahre, eine grandiose Serie zum Kapitalismus hostete, in der unter anderem Sahra Wagenknecht (die damals mit demselben untrüglichen Sinn für Bestsellermaterial wie heute ihr Buch "Freiheit statt Kapitalismus" veröffentlichte und den Mantel Ludwig Erhardts (!) zu ergreifen suchte) eine intellektuell stimulierende Debatte in Gang setzte.

Allein, diese Debatte war zwar spannend, führte aber letztlich zu nichts. Nicht nur der Kapitalismus, auch die Linke stand in diesen Jahren auf mehr als tönernen Füßen. Wir haben uns heute daran gewöhnt, aber die natürliche Erwartungshaltung war, dass die Linke der große Gewinner einer weltweiten Finanzkrise sein musste. Hatte sie nicht jahrelang gegen die Globalisierung gewettert, Gipfel um Gipfel belagert, die geeinte Ablehnung der auf Linie gebürsteten Presselandschaft erfahren, war von der Macht praktisch komplett ausgeschlossen gewesen? Alles wahr, sicherlich. Aber die Realität beugt sich solchen Narrativen nicht. Es gibt keine Belohnung dafür, Recht gehabt zu haben. Und die Linke besaß keine Antwort auf die gewaltige Verunsicherung, die die Krise gerissen hatte.

Es ist dies die große Ironie der ganzen Finanzkrise und ihren Auswirkungen. Die Linke tat und tut sich schwer damit, sich vom liberalen Projekt zu distanzieren, weil, im Gegensatz zur Rechten, mittlerweile so viel Überlapp besteht. Es ist ein Erbe des sozialdemokratischen Zeitalters.Die sozialdemokratischen Parteien Europas und Nordamerikas hatten die liberale Botschaft aufgenommen und sich zu eigen gemacht. Sie hatten den liberalen Konsens maßgeblich mitgestaltet, waren ein elementarer Teil geworden. Ob Schröder, ob Blair, ob Clinton, diese Sozialdemokratie konnte kaum glaubhafte Alternativen anbieten, zumal sie selbst an der Regierung war! In Deutschland regierte die SPD in der Großen Koalition (wirklich noch groß in jenen Jahren) und stellte mit Peer Steinbrück den Finanzminister. In den USA waren sie mit Obama und seiner Supermehrheit an der Macht. In Großbritannien regierte Labour unter Gordon Brown. Alle drei dieser Parteien waren überzeugt, dass der liberale Konsens richtig war und dass er gerettet werden musste. In Großbritannien und den USA gab es keine, in Deutschland nur eine kleine linksradikalere Alternative.

Dazu kommt, dass Linksradikalismus für die breite Mehrheit der Bevölkerung unattraktiv ist. Deswegen gewinnen diese Parteien auch in der Krise nicht. Die Umfragewerte der LINKEn etwa bewegten sich durch die gesamte Krise hindurch kaum nennenswert. Stattdessen richteten sich die Hoffnungen auf den Erhalt des Status Quo.

Diese Hoffnungen erfüllten sich für die Reichen und Mächtigen. Die Banken wurden gerettet, das Weltfinanzsystem stabilisiert. Große Unternehmen erhielten Bailouts. In Deutschland war die Politik dank dem Einfluss der SPD insgesamt ausgeglichener; gerade das Kurzarbeitergeld, das 2009 breitflächig genutzt wurde, rettete viele Existenzen in der Mittelschicht und wirkte als zuverlässiger Dämpfer für jede mögliche Radikalisierung.

Anders war die Lage in den USA, wo die scharf ansteigende Arbeitslosigkeit und das Platzen der Immobilienkredite für unermessliches menschliches Leid sorgten. Nach der unbeliebten Rettung der Banken glaubte die Obama-Regierung nicht, die Stimmen für einen Bailout der in Not geratenen Heimbesitzenden zu haben. Stattdessen rollte eine Welle von hunderttausenden von Zwangsräumungen wertlos gewordener Immobilien durch das Land, das zahlreiche Menschen das Heim kostete. Für sie tat die Regierung nichts.

Doch auch diese himmelschreiende Ungerechtigkeit beförderte nicht eine Renaissance der Linken und sorgte auf der Linken für keine nachhaltige Radikalisierung. Der Fehler, den man daraus nicht machen sollte - und der allerdings in den letzten Jahren gemacht wurde - ist anzunehmen, dass das bedeutet, dass diese Phase der Rettungspolitik praktisch abgewickelt wurde. Doch der Unmut über die Situation im Allgemeinen, der Zorn über die Eliten, der Zweifel am liberalen Konsens - er fraß sich tief in das Bewusstsein der ganzen Welt. Der liberale Konsens hatte eine tödliche Verwundung erlitten, doch wie im Schock sollte er noch einige Jahre tapfer weitermarschieren. Seine Herausforderung kam dann nicht von links, sondern, gänzlich unerwartet, von rechts.

Bevor wir uns allerdings im fünften Teil damit beschäftigen, warum es die Rechtsradikalen waren, die von einer globalen Finanz- und Wirtschaftskrise profitierten, wo die Linken doch eigentlich die scheinbar natürlichen Erben eines solchen Zusammenbruchs gewesen wären, müssen wir den Blick auf diejenigen Länder werfen, die von der Finanzkrise mittelbar betroffen waren und die den liberalen Konsens bestenfalls halbherzig und opportunistisch unterstützt hatten - und die nun als dezidiert antiliberale Länder die Weltordnung herausforderten.

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