Im Jahr 2004 befand sich nicht nur das amerikanische Selbstbewusstsein und das der Finanzindustrie auf einem absoluten Höhepunkt. Auch im außenpolitischen Bereich schien es, als ob der Liberalismus unaufhaltsam auf dem Vormarsch wäre. Die herrschende Ansicht war, dass das System von Institutionen und Rechtsordnungen, das vor allem in der WTO, der GATT, TRIPS, der Weltbank und dem IWF etc. niedergelegt war, die ganze Welt zu einer Adoption dieses liberalen Konsens im wirtschaftlichen Bereich zwingen würde, und dass einer wirtschaftlichen Liberalisierung unweigerlich auch die gesellschaftliche Liberalisierung folgen würde.
Dabei handelte es sich allerdings von Beginn an um einen folgenschweren Irrtum. Wie Quinn Slobodian in seinem grandiosen Werk "Globalisten" (Englisch) hervorhebt, ging es dem Neoliberalismus selbst nie um eine gesellschaftlich-politische Liberalisierung, ja, sie sahen das teils gar als unvereinbar. Die wirtschaftliche Liberalisierung war ein Ziel an sich, sie sollte die Staaten weltweit unter dasselbe wirtschaftliche Korsett zwingen und den Nationalstaat so zugunsten internationaler Organisationen entmachten.
Diese Zielrichtung allerdings war in den 2000er Jahren bereits verwischt worden. Für die USA war die Hegemonialstellung, die sie genossen, direkt verbunden mit der Herrschaft der Finanzmärkte mit ihrer Basis an der Wallstreet (und, wie wir vor allem in Teil 4 sehen werden, der City of London) und mit der beherrschenden Stellung der amerikanischen Volkswirtschaft in der Weltwirtschaft. Um 2004 sah es zwar so aus, als ob China und Russland genauso wie die "emerging states", die Schwellenländer wie Brasilien, Indien und Südafrika, sich ebenfalls dem liberalen Konsens unterwerfen würden. Davon kann aber heute keine Rede mehr sein.
Um 2004 herum sah die Sache jedoch noch anders aus. Der exklusive Club der G7 hatte sich um Russland auf die G8 erweitert. Russlands Aufnahme in die Gruppe der höchstindustrialisierten Staaten konnte angesichts der russischen Wirtschaftsleistung kaum mehr als eine Höflichkeitsgeste sein, Ausdruck der Hoffnung, die einstige Supermacht in den liberalen Konsens integrieren zu können. Doch die Versuche einer Integration Russlands, die in solchen Maßnahmen (ebenso wie in den späten 1990ern gewährten Beobachterstatus in der NATO) zum Ausdruck kamen, wurden durch andere Maßnahmen mehr als konterkariert.
Unter George W. Bush breiteten die USA ihren Einfluss in Osteuropa ebenso massiv wie rücksichtslos aus. Die NATO-Osterweiterung, die 2004 zum Beitritt praktisch sämtlicher ehemaliger sowjetischer Satellitenstaaten führte, verschob die Grenze des westlichen Bündnisses um hunderte Kilometer näher an Russland heran. Im gleichen Jahr unterlag der von Russland unterstützte Kandidat Janukowytsch bei Präsidentschaftswahlen gegen den eher westlich orientierten Juschtschenko. Wahlfälschungen, Attentatsversuche und ähnliche Verwerfungen im Umfeld der Wahl fürten zur "orangene Revolution" und Aufbruchstimmung in der Ukraine, die aus dem russischen Einflussbereich zu brechen drohte.
Der Tropfen, der für Russland das Fass zum Überlaufen brachte, war der plumpe Versuch der USA, Georgien für einen NATO-Beitritt zu gewinnen. Putin reagierte hart. Die inkompetente Außenpolitik von Georgiens in den USA studierten Präsidenten Saakaschwili, der der Überzeugung war, vom Westen Rückendeckung zu besitzen, tat ihr Übriges. Unter dem Vorwand, russische Staatsbürger*innen in der Region Südossetien schützen zu müssen, marschierten russische Truppen ein, besiegten spielend das georgische Militär und besetzten die georgische Hauptstadt. Putin rechtfertigte das Eingreifen kalt mit dem Verweis auf das Kosovo, das (ausschließlich von westlichen Staaten) im selben Jahr gegen den Protest Russlands diplomatisch als souverän anerkannt worden war. Die lahme Antwort des Westens, dass das Kosovo ein Einzelfall ohne Präzedenzcharakter gewesen sei, blieb in Moskau unbeantwortet.
Die Bush-Regierung hatte unbeabsichtigt einen Stellvertreterkrieg ausgelöst, der die Grenzen der liberalen Weltordnung deutlich aufzeigte. Russland war sicherlich gerne bereit, wirtschaftliche Vorteile für sich in Anspruch zu nehmen. Aber es war nicht bereit dazu, eine Rolle innerhalb des westlichen Systems zu spielen oder gar eine innere Liberalisierung durchzumachen. Während vor allem die europäischen Staaten weiterhin in rapider Geschwindigkeit ihre Armeen abrüstete, begann Russland mit einer neuerlichen Aufrüstung. Gleichzeitig schuf es eine eigene, vom liberalen System unabhängige Wirtschaftssphäre, die "Eurasische Wirtschaftsunion", der sich Georgien nach dem verlorenen Krieg 2008 ohne viel weiteres Federlesens anschloss. Wir werden auf diese Union noch zurückkommen.
Ähnlich sah die Lage in China aus. Das Land befand sich in den frühen 2000er Jahren erkennbar im Aufschwung, aber die großen Wachstumsraten betonten damals noch seine Stellung als "Werkbank der Welt" und bedrohten vor allem Arbeitsplätze in der Produktion in den westlichen Staaten. Die Einrichtung der so genannten "Sonderwirtschaftszonen", in denen die ostentativ kommunistische Regierung praktisch Investitionsparadiese schuf, schien ein erster Schritt auf dem Weg zur Liberalisierung Chinas zu sein. Wenn diese Sonderwirtschaftszonen mit ihren Investitionsschutzbestimmungen, dem liberalen Unternehmensrecht und dem Schutz des Kapitals eine Erfolg wären - und das waren sie - würden sie eine Sogwirkung auf den Rest Chinas ausüben, der dann nachfolgen müsste. Auf diese Art würde das bevölkerungsreichste Land der Welt ein Stützpfeiler der liberalen Weltordnung.
Ein Teil dieser Vorhersagen traf ein. Die Sonderwirtschaftszonen waren erfolgreich, und auch der Rest Chinas folgte während der verdrängten Dekade schnell ihrem Vorbild. Eine chinesische Riesenstadt nach der anderen verwandelte sich in eine boomende Wachstumsmetropole, der ohnehin seit Maos Zeiten große Spalt zwischen Stadt und Land wuchs bald in einem gigantischen Ausmaß (eine Entwicklung, die Chinas Regierung in den 2010er Jahren zu einem entschlossenen Gegensteuern bewegte; seither ist diese Dynamik rückläufig, wenngleich die massive Spaltung weiterhin besteht).
Aber von einer gesellschaftlichen oder politischen Liberalisierung war wenig zu spüren. Vielmehr vereinte das chinesische politische System drückende politische Kontrolle mit einer boomenden, aber staatskontrollierten Wirtschaft. Bis heute verweigert sich China jedem Versuch, deine notorisch unterbewertete Währung dem freien Kapitalmarkt unterzuordnen, missachtet wo es ihm passt jegliche Schutzrechte von geistigem Eigentum oder Kapital und fördert ohne schlechtes Gewissen die eigene Industrie, während es die Unternehmen anderer Länder draußen hält oder ihnen zur Technologiegewinnung strategisch Zugang zur Produktion, nicht aber zum Markt gewährt.
Diese Entwicklungen wurden durch die Finanzkrise deutlich prononcierter. Aus den schrecklichen Erfahrungen der Asienkrise 1997 klug geworden, hatten die Staaten Südostasiens, Russland und China gewaltige Reserven gegen eine erneute Liquiditätsknappheit angelegt. Während die europäischen Staaten und andere enge Handelspartner der USA auf die Swap Lines angewiesen waren, um sich mit Dollar zu versorgen - die nur einer handvoll ausgewählter Zentralbanken gewährt wurden - griffen Russland und China auf ihre eigenen Reserven zurück und koppelten ihre Bankensysteme weitgehend von den Verwerfungen des amerikanischen Immobilienmarktes ab, wobei ihnen die autokratische Gestaltungsmacht, die sie über ihre Volkswirtschaften anders als die liberalen Demokratien des Westens besaßen, sehr zupass kam.
Dadurch erhielt besonders Russland einen außerordentlichen Handlungsspielraum, der seine Position relativ zur EU - die vom Regen der Finanzkrise direkt in die Traufe der Eurokrise rutschte - und vor allem seinen anderen östlichen Nachbarn deutlich verbesserte. In der Ukraine gewann der 2004 noch in der orangenen Revolution geschasste Janukowitsch 2010 die Präsidentschaftswahlen, während die EU und die USA mit Verweis auf die Sicherheitslage (!) ihre Unterstützung für Georgien weitgehend einstellten. Russland war auf die Weltbühne zurückgekehrt.
Auch China besaß durch die Finanzkrise plötzlich gewachsenen Handlungsspielraum, nutzte diesen aber subtiler als es Russland tat. Im Gegensatz zu der ehemaligen Supermacht war Chinas Wirtschaft eng mit der amerikanischen verbandelt; der Historiker Niall Ferguson hat dafür den Begriff "Chimerica" geprägt. China hielt - und hält - gewaltige Dollarreserven, die, auf den Markt geworfen, das Potenzial zur schwerwiegenden Gefährung des Dollars und der US-Wirtschaft besaßen. Allein, dies würde auch die chinesische Wirtschaft, deren starke Exportausrichtung sie abhängig von der amerikanischen Konjunktur gemacht hatte, schwer in Mitleidenschaft ziehen.
Ferguson ging, wie so viele Beobachtende jener Zeit, davon aus, dass diese Dynamik "Chimericas" zu einer weitergehenden Integration der Volkswirtschaften und einer immer weiter voranschreitenden Liberalisierung Chinas führen müsse. Das Gegenteil war der Fall. China änderte mit der Finanzkrise radikal seine wirtschaftliche Strategie. Von der "Werkbank der Welt" und einer exportorientierten Wirtschaft wandte es seinen Blick nach innen, der Entwicklung des eigenen Binnenmarktes und dem Aufbau einer eigenen Hochtechnologie zu. Verkörpert wird dieser Wandel durch den Aufstieg Xi Jinpings zum chinesischen Staatschef 2013, als er Hu Jintao ablöste. Wo Jintao durchaus noch wenigstens teilweise dem Liberalismus zugeneigt schien, errichtete Xi Jinping eine autokratische Regierung. Seither werden die Freiheiten in China, ohnehin nie sonderlich ausgeprägt, sukzessive wieder eingeschränkt, was in den Protesten Hongkongs 2020 einen vorläufigen Kulminationspunkt fand.
Es ist an dieser Stelle wichtig festzustellen, dass die Herausforderung der liberalen Weltordnung durch China und Russland keinen Systemkonflikt wie seinerzeit im Kalten Krieg darstellt. Weder Putin noch Xi Jinping haben ein ideologisches Paket im Angebot, mit dem sie irgendjemanden zu bekehren suchen. Stattdessen haben wir es mit einer Rückkehr der Realpolitik zu tun.
Weder Putin noch Xi Jinping hatten und haben irgendeine Ideologie im Angebot. Anders als während des Kalten Krieges gibt es keine rote Fahne, unter der man sich versammeln kann. Während der Westen sich unter Banner des Liberalismus als "Wertegemeinschaft" versteht und wenigstens rhetorisch diese Werte verteidigt (und, oft genug, auch in der Realität), argumentieren Russland und China ausschließlich mit ihren Interessen.
Besonders im Falle Chinas ist dies offenkundig, wo wesentlich mehr Wirtschaftskraft hinter diesen Interessen steht als in Russland, und wo die Wirtschaftskraft expansiv nach außen drängt. Anstatt sich in ein liberales weltweites Handelsregime zu integrieren, baut China sein eigenes, paralleles System auf, wo auch immer sich Raum dafür bietet. Und Raum bietet sich genug, denn besonders die EU zeigt sich weiterhin als völlig unfähig, außenpolitisch als Einheit aufzutreten.
Nirgendwo zeigte sich dies deutlicher als 2011 in Libyen. Das Land unter seinem ebenso albernen wir brutal-tödlichen Diktator Gaddhafi war lange ein Klientelstaat des Westens gewesen. Solange der Diktator Flüchtlinge für Europa internierte (und folterte, als Zwangsarbeiter missbrauchte und ermodete) und Öl lieferte, war man gerne bereit, bei den Menschenrechtsverbrechen nicht so genau hinzusehen. Doch mit dem beginnenden Arabischen Frühling und der Rebellion, die sich um Benghazi zusammenbraute, entschloss sich vor allem der stets für ein außenpolitisches Hasadeursspiel zu habende Sarkozy, für ein UN-Mandat gegen Gaddhafi zu werben. Normalerweise würde ein solches zuverlässig von China und Russland blockiert.
Diese Entwicklung wurde allerdings durch einen Faktor der russischen Innenpolitik verkompliziert. Da die russische Verfassung wie die amerikanische eine Amtszeitbegrenzung von zwei vierjährigen Präsidentschaften vorsah, konnte Putin 2008 nicht noch einmal antreten. Er fühlte sich auch noch nicht stark genug, den liberalen Konsens offen herauszufordern und eine direkte autokratische Regierung zu etablieren (nicht, dass Russland demokratisch wäre; die Wahlen 2000 und 2004 waren bereits starker Wahlfälschung und -manipulation unterlegen). Deswegen ließ er sich für vier Jahre zum Staatspräsidenten ernennen (einem eher zeremoniellen Amt, ähnlich dem Bundespräsidenten) und ernannte seinen Vertrauten Medjedew zum Ministerpräsidenten.
Es ist unklar, inwieweit Medjedew echte Handlungsspielräume besaß und inwieweit seine von Putin abweichende Außenpolitik Versuchsballons der grauen Eminenz im Hintergrund darstellten. So oder so allerdings sind zwei Dinge eindeutig. Medjedew war wesentlich mehr an einer Integration in den liberalen Konsens des Westens und einer größeren Zusammenarbeit interessiert als Putin, und Putin war willens, Medjedew wenigstens einen gewissen Spielraum dafür zu geben. Die Obama-Regierung ergriff die sich bietende Gelegenheit mit beiden Händen; Außenministerin Hillary Clinton präsentierte Medjedew einen großen, zeremoniellen Knopf zum "Neustart" der Beziehungen.
Libyen zeigte jedoch schnell, wo die Grenzen des Tauwetters zwischen den Großmächten lagen. Die Hoffnungen Russlands, (wieder) als gleichberechtigte Großmacht anerkannt zu werden, erfüllten sich nicht. Niemand war bereit, die Fiktion aus dem Kalten Krieg aufrechtzuerhalten, das Land sei mehr als "Obervolta mit Atomraketen", wie Helmut Schmidt so treffend und schneidend wie stets feststellte. Die Enthaltung im Sicherheitsrat durch Russland und China ermöglichte es der NATO, das Mandat für die Einrichtung einer Flugverbotszone zu bekommen.
Konkreter muss man sagen: das Mandat ging an Großbritannien und Frankreich, die vorrangigen Treiber der Intervention. Obama selbst war - anders als Außenministerin Clinton - nicht sonderlich begeistert und hielt sich (unter dem Trommelfeuer der Kritik der Republicans, die ihm Feigheit und ungenügende Kriegstreiberei vorwarfen) unter dem Motto "leading from behind" zurück.
Zwei Entwicklungen wurden schnell offenkundig. Erstens waren die Europäer nicht in der Lage, einen so begrenzten Einsatz wie die Flugverbotszone um Benghasi ohne amerikanische Hilfe zu bewerkstelligen. Und zweitens waren sie nicht in der Lage, ihre Geopolitik in den proklamierten Grenzen zu halten. Innerhalb kürzester Zeit weitete sich die Flugverbotszone über Benghazi zum Schutz der Zivilisten vor einem Massaker durch Ghaddfis Armee zu einer effektiven Allianz zur Beseitigung des Diktators aus. Getrieben von der Begeisterung über den sich ausbreitenden Arabischen Frühling und die scheinbare Durchsetzung des liberalen Konsens' ausgerechnet im Nahen Osten sorgten die Westmächte für den Sturz Ghaddafis, der von den Rebellen gejagt und ermodet wurde.
Libyen selbst hatte davon herzlich wenig, bis heute ist das Land im Griff eines Bürgerkriegs, in dem zahlreiche Mächte von Italien zu Russland über die Türkei jeweils ihre Lieblingsfraktion stützen und dafür sorgen, dass niemand das Übergewicht bekommen kann.
Noch verheerender aber war das Signal an das Ausland.
Russland und China sahen, dass das Versprechen der NATO, einen Einsatz zu begrenzen, ungefähr so viel wert war wie ihre eigenen Absichtserklärungen, nämlich nichts. Dass das im Falle der NATO-Mächte aus hehren Motiven geschehen war machte es nicht besser, eher im Gegenteil. Für Russland und China bestätigte Libyen die Überlegenheit des eigenen, unideologischen Ansatzes, der sich um "westliche Erfindungen" wie die Menschenrechte nicht scherte und gar nicht erst versuchte, irgendeine Rechtfertigung für die eigene Position zu finden.
Es war aber auch ein verheerendes Signal für die Westentaschendiktatoren der anderen Staaten. Dem Westen zu vertrauen war töricht. Es dürfte eine solide Annahme sein, dass Assads beharrliche und tödliche Weigerung, der syrischen Oppositionsbewegung zu weichen, auch mit den Ereignissen aus Libyen und Ägypten zusammenhängen dürfte. In letzterem Fall hatten die USA einen jahrzehntelangen Verbündeten ohne Wimpernzucken dem Mob preisgegeben. Für andere Diktatoren war die Lektion ziemlich klar: Tiananmen statt Glasnost. Die Resultate beschäftigen uns bis heute.
Doch zurück zu den durch Europa und die USA geöffneten Handlungsspielräumen für China. Das Land hatte unter seinem neuen Präsidenten Xi Jinping 2013 die so genannte "Neue Seidenstraße" ("One Belt, One Road Initiative") verkündet, eine Art industriepolitisches Projekt, das Handelswege sowohl nach Europa als auch Südostasien und Afrika öffnen sollte.
In Südostasien stieß China auf den entschlossensten Widerstand. Die dortigen Länder hatten keinerlei Interesse, in eine chinesische Interessenssphäre absorbiert zu werden und taten sich zusammen. Wir haben bereits im ersten Teil darüber gesprochen, wie sehr die Obama-Regierung versucht hatte, durch ein pazifisches Handelsabkommen diese Interessenlage mit der der USA zu verbinden. Obwohl Trump aus destruktiver Gehässigkeit das TPP-Abkommen verließ, wurde es von den anderen beteiligten Ländern weitergeführt.
Gleichwohl wird der Einfluss Chinas hier immer drückender und tritt auch am aggressivsten auf, was man etwa im Aufschütten künstlicher Inseln im Südchinesischen Meer, um so durch die im internationalen Seerecht anerkannten 12-Meilen-Zonen quasi ein chinesisches "Mare Nostrum" zu schaffen, gut beobachten kann, eine Strategie im Übrigen, die durch massive militärische Aufrüstung und Stationierungen begleitet wird und die Region deutlich destabilisiert. In den letzten Jahren haben vor allem Frankreich und Großbritannien ihr Gewicht ebenfalls in die Waagschale geworfen und treten den chinesischen Ansprüchen entschlossener gegenüber.
Mit offenen Armen empfangen wurde China dagegen in Afrika, wo das Versagen der Westmächte und ihres liberalen Konsens am offenkundigsten ist. Die seit der Dekolonialisierung der 1960er betriebene Entwicklungspolitik geht von einem mittlerweile ebenso grotesk veralteten wie rassistischen Weltbild aus, nach dem in Afrika hungernde Kinder vor Lehmhütten sitzen und auf die Lieferung von Getreide durch westliche Entwicklungshelfende warten. Dieses Bild ist gerade in den Bevölkerungen der westlichen Länder noch weit verbreitet.
Dass die Entwicklungshilfe in der Realität nur allzu oft örtliche Diktatoren stützte, die heimische Wirtschaft zerstörte und in Kombination mit der verheerenden Wirtschaftspolitik von IWF und Weltbank Armut und Verzweiflung wenn nicht schuf, so doch zumindest reproduzierte, ist mittlerweile hinreichend bekannt. Der liberale Konsens schlug hier gleich doppelt zu: einmal in Form einer missionarischen Überlegenheit, in der die westlichen Werte zu einem ignoranten Kontinent gebracht werden sollten, und einmal in Form der wirtschaftlichen Ideologie, die "Strukturreformen" nach neoliberalem Vorbild erzwang.
In diese vor allem durch Desinteresse geprägte Lücke stießen die chinesischen Unterhändler*innen der "Neuen Seidenstraße". Sie boten direkte Investitionskredite, die an keinerlei Bedingungen geknüpft waren und brachten Geld für die örtlichen Regierungen, ohne den Umweg über "Strukturreformen" oder sonstige Lektionen von Experten zu bedürfen. Wesentlich hilfreicher war das oftmals nicht. Die chinesischen Projekte wurden von chinesischen Fachkräften aufgebaut und betrieben, und die Kredite haben hohe Zinszahlungen und machen die Empfängerländer wirtschaftlich von China abhängig. Alles, was China tut, ist darauf zu verzichten, seine Interessenpolitik in ein Klimborium von herablassenden Lektionen zu kleiden - und seine Interessen durchzusetzen.
Denn auch Europa und die USA hätten durchaus Interesse an den (überwiegend) rapide wachsenden Volkswirtschaften Afrikas. Es sind alte koloniale Instinkte und Bindungen (vor allem im Fall Italiens, Großbritanniens, Belgiens und Frankreichs) sowie eine generelle ignorante Herablassung, die solche Chancen bisher verhinderten. Mittel- und langfristig dürfte dieses Verschlafen des Aufstiegs Afrikas und ein Investment in die aufstrebenden Volkswirtschaften des Kontinents sowohl die EU als auch die USA noch teuer zu stehen kommen.
Der letzte Bereich, in dem Chinas "Neue Seidenstraße" ihre Wurzeln schlägt, ist Europa selbst. Auch hier haben die Europäer in geradezu haarsträubender Blindheit und Ignoranz selbst einem Einfluss Tür und Tor geöffnet, der sich für sie noch als verhängnisvoll herausstellen dürfte.
Es waren Staaten wie Ungarn, Polen, Griechenland und Italien, in denen chinesische Investoren offene Türen vorfanden. Mit den Gründen für diese Entwicklung, die ein selbstgemachtes europäisches Problem ist, werden wir uns im nächsten Teil ausführlich beschäftigen. Es sei an dieser Stelle nur betont, dass es für die EU nicht als positiv betrachtet werden kann, dass der dem Suezkanal am nächsten liegende große europäische Hafen, das athenische Piräus, mittlerweile de facto eine chinesische Dependance ist.
Der letzte Schlag für die Fiktion, dass Russland und China irgendwie in das westlich-liberale Staatensystem integriert werden könnten, kam mit der Ukraine-Krise 2014. Wir wollen uns an dieser Stelle vor allem damit beschäftigen, was diese Krise auslöste und welche Rückschlüsse sie uns auf Russland erlaubt; der europäische Teil dieser Tragödie wird im nächsten Teil verhandelt.
Die Ukraine war 2010 unter die Herrschaft Janukowitschs geraten, einem Russland-nahen Autokraten. Die Ukraine war und ist ein armes, unterentwickeltes Land im Griff plutokratischer Familienclans, die sich gegenseitig erbittert bekämpfen, aber weitgehend Einigkeit in der Ausplünderung des ukrainischen Staates finden. In der westlichen Lesart war Janukowitsch dabei der "Böse", während seine nicht minder kleptokratische Gegnerin Timoschenko, die er unter zwar sicherlich zutreffenden, aber zutiefst heuchlerischem Doppelstandard unterliegenden Vorwürfen von Wirtschaftskriminalität verfolgte, absurderweise als Heldin liberaler Werte gefeiert wurde. Diese Episode ist weniger in sich bedeutsam als für die verschobenen Perspektiven des Westens, der immer noch in den Systemkonflikt-Kategorien des Kalten Krieges dachte; eine Sichtweise, von der Russland und China sich bereits seit Langem emanzipiert hatten und die den Westen eins ums andere Mal für die Realitäten vor Ort blendete.
Janukowitsch selbst hatte eine Art Schaukelpolitik zwischen der EU und Russland betrieben. Beide boten die Assoziierung mit ihrem eigenen Wirtschaftsbündnis; die Ukraine konnte kein Interesse daran haben, zum Ausschluss des einen Mitglied des anderen zu werden. Während Russland mit der vergleichsweise lockeren "Eurasischen Wirtschaftsunion" warb, die keinerlei Aufnahmebedingungen auch nur annähernd vergleichbar mit dem acquis communitaire der EU kannten, führte die EU Verhandlungen für ein "Asoziierungsabkommen", eine Art Vorstufe zur EU-Mitgliedschaft, die allerdings durchaus langfristig angelegt war. Niemand gab sich der Illusion hin, die Ukraine könnte absehbar zu einem Mitglied der EU werden.
2013 beging die EU in den seit Jahren andauernden Verhandlungen jedoch eine strategische Neuausrichtung, die die komplette Situation umwarf und Janukowitsch zum Offenbarungseid zwang: sie erklärte ein Asoziierungsabkommen für unvereinbar mit einer Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion. Janukowitsch war nicht bereit, unter diesen Umständen ein solches Abkommen zu unterzeichnen. Damit trat er eine wütende Protestbewegung los, die als "Euromaidan" bekanntwerden sollte (nach dem Maidan-Platz in Kiew). Obwohl die Bewegung ihre Anhänger*innen vornehmlich in den Städten der Westukraine fand, übte sie genügend Druck aus, um das Regime Janukowitschs zum Einsturz zu bringen. Die EU bot sich als Vermittlerin bis zum Abschluss von Neuwahlen an, aber unter Eindruck des Schicksals von Ghaddafi in Libyen gab Janukowitsch wenig auf westliche Garantien und floh nach Moskau. Die Ukraine hatte von einem Tag auf den anderen keine Regierung mehr.
Die neugebildete, aber demokratisch (noch) nicht legitimierte Regierung wandte sich denn auch praktisch als erstem Amtsakt der Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommen zu. Putin reagierte entschlossen und schnell. Unwillig, erneut den Verlust einer strategischen Position zur Beschwichtigung des Westens hinzunehmen und voll seiner neuen relativen Stärke gegenüber den anderweitig gebundenen USA und der durch die Eurokrise ohnehin abgelenkten und nie sonderlich einheitlich agierenden EU, brach er flagrant das Völkerrecht und besetzte die Krim. Das dort abgehaltene "Referendum" war mehr als ein ausgestreckter Mittelfinger in Richtung Westen, als ein bewusstes Spiegeln seiner Werte und seines eigenen Vorgehens etwa im Kovoso so werten denn als ernstgemeinte Maßnahme.
Kurz darauf begann der von Russland zwar unterstützte, aber nicht durch formalen Einmarsch sanktionierte Bürgerkrieg, der sich bis heute in wechselnder Intensität fortzieht, als Seperatistengruppen in der Ostukraine sich von der Zentralregierung lossagten. Russland hatte damit, welche Politik Kiew auch weiter verfolgen mochte, seine strategische Pufferzone beibehalten und mit der Krim sogar einen Gewinn verzeichnet. Die EU dagegen stand vor dem Scherbenhaufen ihrer tapsigen Geopolitik. Das Opfer war die Ukraine, die zudem von der EU schmählich im Stich und ihrem Schicksal als zerrissener Pufferstaat zwischen Ost und West gelassen wurde, wie wir im folgenden Teil näher beleuchten werden.
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