„Alles, nur nicht gleich zusammen ins Bett.“, rief sich Hergen noch einmal seinen Vorsatz ins Gedächtnis.
Er stand, wie Gott oder wer auch immer, ihn geschaffen hatte und betrachtete sich im Spiegel. Vor ihm das Waschbecken, angefüllt mit lauwarmen Wasser und in der Hand der Pinsel, mit dem er sorgfältig begann sein Gesicht mit Rasierschaum zu bedecken. Er zitterte etwas, als er den Nassrasierer zur Hand nahm, um die paar schäbigen Bartstoppeln wegzuschaben, denen es in all den Jahren nicht gelungen war, einen Bart zu produzieren, der wirklich den Namen verdient. Partiell hier ein Härchen und dann und wann dort. Mehr stand ihm nicht zur Verfügung. Jedenfalls im Gesicht. Ansonsten verfügte Hergen über Haare ohne Ende. Nur eben an den falschen Stellen. Wenn er gewollt hätte, könnte er aus den Ohren Zöpfe wachsen lassen. Aber er traute sich nicht, weil es modisch derzeit nicht angesagt war, wie einschlägige Fachmagazine suggerierten. Überhaupt war eher Kahlschlag angesagt. Und diesem neuen modischen Schnickschnack wollte er sich nun anpassen und dazu musste die Wolle weg. Er machte sich keine Illusionen, dass eine Menge Arbeit ihm nun bevorstand. Das Zittrige, was seine Hand gerade zeigte, war nicht unbedingt eine beruhigende Aussicht. Doch war es nicht die Angst vor der scharfen Klinge, die die Hand zum Erbeben brachte. Sie war, wie der Rest des Körpers aufs höchste gespannt, weil Hergen, in einer leichtfertigen konzertierten Aktion, einem Blind Date blind zugestimmt hatte. Jedoch war es nur die Hand, der die Nervosität anzumerken war. Sie war immer schon etwas rebellischer als ihre linke Schwester. Da Hergen ein geborener Rechtshänder war, fand sich die Rechte als etwas Besonderes. Hergen, der schon zeitlebens mit dieser etwas eigensinnigen Hand zusammenlebte, wusste um ihre Eigensinnigkeit und dem leichten Anflug von Überheblichkeit. Deshalb hatte er vorgebaut. Neben Seifenschale und Zahnputzbecher lag eine jungfräuliche Packung frischen Heftpflasters, die stumm auf ihren Auftritt wartete. Und sie war sich sicher, heute wäre der Tag, wo sie sich zu bewähren hatte, denn auch ihr war das Zittern Hand nicht entgangen. Endlich konnte sie ihre Kleb- und Schutzfunktionen präsentieren. Sie hatte sich, den Marktgesetzen angepasst und sich ein neues Outfit verpasst. Statt wie früher in einem  unattraktiven Hellbraun, glänzte sie nun in einem positiv Gestimmten Tollkirschrot.
Die Frau, deren wegen Hergen überhaupt sich dieser Prozedur unterzog, fand er zufällig im Internet. Dort hatte er, in einem teuren Datingportal, sie entdeckt. Vielmehr ihre Augen, denn mehr hatte sie nicht von sich gezeigt. Das aber genügte Hergen bereits und er war schockverliebt. Er selbst hatte sich in voller Gänze gezeigt, wenn auch etwas undeutlich. Von einem vor Jahren gemachten Urlaub, entstand ein Strandbild voller Dünen, wo er im Meer schwimmend zu sehen war, wenn man eine Lupe zur Hilfe nahm. Aber beiden genügte das, was zu sehen, beziehungsweise eben nicht zusehen war, um einem Date zuzustimmen. Telix7, so ihr Chatname, schrieb so erfrischend und wärmend. Und sie war intelligent, denn sie benutzte zärtliche Worte, die Hergen sogar googeln musste. Hergen hatte natürlich sich auch ein Pseudonym gegeben, jedoch weitaus weniger kreativ. Hergen1, so sein Name dort. Eigentlich wollte er sich nur Hergen nennen, doch der wurde abgelehnt mit der Begründung, dies sei kein gültiger Name. Das kränkte ihn etwas, denn schon früher in der Schule wurde er damit gehänselt. Auch konnte er nicht auf eine berühmte Persönlichkeit hinweisen, der unter dem gleichen Namen litt. Auch Google konnte da nicht fündig werden und erkundigte sich, ob eventuell ein Eingabefehler vorliegt. Stattdessen boten sie Hagen in Westfalen, eine Firmenadresse von Gartenzwergen oder auch Bergen in Norwegen als Ausflugsziel an.
Und so machte er aus seiner Einmaligkeit, plus den Zusatz „1“, die neue Kreation „Hergen1“.
Und der Erfolg gab ihm recht, denn sonst hätte Telix7 sich ihm nicht virtuell an den Hals geworfen. Nach zwei Stunden intensiven Kennenlernens und ausloten des jeweils anderen, folgte für sie der einzig richtige Schritt. Sie wollten sich nun auch real treffen, um zu sehen, ob auch da die Chemie stimmt. In einem Nebensatz hatte Telix7 leichtfertig verraten, dass sie auf Nacktschnecken steht. Dies bejahte Hergen1 auch sofort, wider besseren Wissen, was ihn nun dazu zwang, seinen Falschen Versprechen, eine gründliche Körperrasur durchzuführen. Er sah zu sich herab und er fragte sich, ob das da unten auch mit gemeint war. Und wenn ja, war er schon dazu bereit? Noch zögerte er und beschäftigte sich zunächst mit den Haaren im Gesicht, eine weitaus überschaubare Veränderung. Er wusch es zunächst und rubbelte sich mit dem Handtuch trocken. Alleine mit dieser Aktion war ein Großteil seiner Haare verschwunden. Jetzt musste er die Entfernten nur noch mit einer Pinzette aus dem Handtuch zupfen und im Biomüll entsorgen. Und schon ähnelte sein Gesicht dem eines Kinderpopos. Glatt und rot. Zwei von den tollkirschfarbenen Pflastern wurden aufgeklebt, denn das Handtuch war zuvor nicht mit Weichspüler des Marktführers behandelt. Laienhafte Ausführung einer professionellen Dienstleistung, nur aus Kostenersparnis, kann eben zu irreparablen Hautschäden führen. Das war der Preis, den er zu zahlen nicht bereit war.
Sein Brusthaar, welches locker frech gewöhnlich aus dem Hemd neugierig hervor linste, sollte als Nächstes dran glauben müssen. Die Entscheidung darüber war ihm schwergefallen, doch fand er keine Ausrede, die ihm das Weitertragen ermöglichte. Brustbehaarte Nacktschnecken, dafür fand er keine Belege in der einschlägigen Weltliteratur. Die Hauptschuld für seine brust sah er hauptverantwortlich bei seinen Eltern, die leider keine Japaner waren.
Denn gebürtige Japaner sind haarlos auf der Brust. Er erinnerte sich an ein Filmzitat seines großen Vorbilds James Bond, der in „Man lebt nur zweimal“, sich dieser großen Frage, Brusthaare oder keine Brusthaare, wie folgt dazu äußerte. Als er mit Tanaka, dem Chef der japanischen Geheimpolizei im Spabereich sich von einigen attraktiven Japanerinnen verwöhnen ließ, kam es zu folgendem Dialog, der in die Filmgeschichte einging.
Tanaka: „Die Frauen bewundern die vielen Haare auf ihrer Brust. Wir Japaner haben ja eine wunderbar glatte Haut.“ James Bond: „Ein altes, japanisches Sprichwort sagt, kein Vogel baut sein Nest in einem kahlen Baum.“
Doch was, wenn Telix7 keine Bond-Filme mag und ihm seine behaarte Brust übel nahm? Es war nur so ein Gedanke, der jedoch schwerwiegende Folgen hatte. In einem Anflug des unkontrollierten Handelns zog er einfach den Trimmer, in blindem Aktionismus, quer über seine, noch nicht abgemähte Brust. Der Trimmer hinterließ eine Schneise der Verwüstung. Er hinterließ die Brust nun in zwei behaarte Teile. Dazwischen ein kahler Streifen, der sich langsam blutrot füllte. Mit dem Ergebnis seiner Ausführung war er völlig zurecht unzufrieden. Und er gab sich, so viel Selbsterkenntnis war ihm gegeben, sich selbst die Hauptschuld für das angerichtete Desaster. Langsam kamen Zweifel bei ihm auf, ob es das alles Wert sei, nur um einer Frau ihren sehnlichsten Wunsch zu erfüllen. Einer Frau, von der er bislang nur die Augen gesehen hatte. Und was, wenn es beim ersten Treffen nicht zum Äußersten kommen sollte und er seine Brust nicht entblößen müsste? Dann wäre die ganze Mühe, die höllischen Schmerzen, dann wäre alles umsonst gewesen.
„Warum müssen Frauen ihre Männer immer ändern wollen?“, rief er sich in den Spiegel zu.
Er lauschte gespannt, doch keine Antwort schallte ihm entgegen. Dann entschied er sich, es bei dem Streifen zu belassen und eine vollkommene Haarentfernung ihr in Aussicht zu stellen, wenn sie ihn nur so nehmen würde. Denn es gab noch ein weiteres, viel gravierenderes Problem. Wie sollte er selbst sich den eigenen Rücken rasieren. Zwar war er nicht unsportlich, doch bei weitem kein Kontorsionist, kein Schlangenmensch, der sich um sich selbst schlängeln kann und für den eine Rückenrasur nur eine Fingerübung ist. Auch unterhalb der Gürtellinie, die dem Dschungel von Birma ähnelte, ließ er den Bestand stehen. Sollte es von ihrerseits an einer Hosenöffnung Interesse bestehen, so würde er einfach dies nur unter der Bedingung zuzulassen, es in einer Dunkelkammer stattfinden zu lassen.
„Weißt Du Schatz, nur in der Dunkelheit werde ich so richtig ekstatisch.“, sprach er zu sich, um zu überprüfen, wie die Worte wirken und er war sichtlich damit zufrieden. Nebenbei füllte er seine Handfläche mit einem animalisch duftenden Rasierwasser, verrieb es in seinen Handflächen und warf dann selbstsicher beide Hände ins Gesicht.
Der Schrei, der darauf folgte, alarmierte die ganze Nachbarschaft, die vermutete, im Haus wird gerade jemand abgeschlachtet.
*
Nach einer Stunde, allmählich hatte sich der Schmerz gelegt und die herbeigerufene Polizei davon überzeugt, er hätte nur sein Rasierwasser nicht ganz vertragen, machte er sich auf den Weg, hin zu ihr, wo sie an einem neutralen Ort des ersten Kennenlernens, auf ihn treffen sollte.
Die Männer, die dort in dem gastronomischen Betrieb an der Theke standen, waren ganz in Leder gehüllt. Wenige bis gar keine Frauen waren anwesend, als er seinen Fuß in den schummrig dunklen Raum setzte, dem dann der ganze Restkörper folgte.
„Na Süßer, was darf Mutti dir bringen?“, flötete ein Bergmassiv, bestehend aus reiner Muskelmasse und einer Ganzkörperbehaarung, wie sein freigelegter Oberkörper offen zur Schau stellte. Hergen1, der seinen besten Sonntagsanzug, inklusive Krawatte, trug, kam sich etwas unwohl vor, da hier eher lockere, bis gar keine Kleidung angesagt war. Langsam kamen ihm doch leichte Bedenken, ob er den Treffpunkt richtig verstanden hatte. Die Frauenlosigkeit die hier vorherrschte, nährten seine Zweifel zusätzlich.
„Hergen1?“, fragte plötzlich eine Bassistenstimme hinter ihm und eine schwere behaarte Pranke legte sich auf seine Schulter.
„Vielleicht.“, stotterte der Angesprochene und blieb vage in seiner Antwort.
„Ich bin Telix7, wenn du Hergen1 bist.“
Langsam ging Hergen ein Licht auf, welches ihn zu der Erkenntnis brachte, hier läuft gerade etwas gehörig schief.
„Ich ... Du ... wir sind beide Männer.“, stellte er fest.
„Worauf du einen lassen kannst.“, grinste der Grizzly und nahm unaufgefordert Platz.
„Das ist ja lustig.“, meinte Hergen und wünschte sich auf einen andren Planeten.
„Dann lach doch.“, gab Telix7 zurück und es klang fast wie eine Drohung.
„Ha ... Ha ... Ha.“, zwang sich Hergen verlegen zu einem aufgesetzten Lachen, was jegliche Glaubwürdigkeit vermissen ließ.
„Mutti, zwei große Bier!“, rief Telix7 in Richtung Tresen, öffnete seine Lederjacke, um seine behaarte Brust besser zur Geltung zu bringen.
Hergen fielen sofort die beiden Stahlkugeln auf, die er an seinen Brustwarzen befestigt hatte.
„Damit Du gleich siehst, was du kriegst.“, grinste Telix7.
„Ah ... oh ... ja schön.“, log Hergen, der nicht unhöflich erscheinen wollte.
„Huhu ihr Süßen. Zwei Bier für meine Mädels.“, sagte Mutti und grinste breit, zwinkerte ihnen zu und schnalzte zusätzlich noch mit der Zunge, die nicht nur gespalten, sondern die auch noch eine Hundertschaft von Piercings zierte.
„Hey Bonzo, wo haste denn den Schlipsträger her?“, rief ihnen eine Person in einem Ganzkörpergummioverall zu, der auch seinen Kopf in Gummi eingehüllt hatte.
Hergen vermutete, es muss sich bei ihm um eine hochgestellte Persönlichkeit handeln, die inkognito unterwegs ist und unerkannt bleiben möchte.
Bonzo reagierte, so wie wohl jeder Bonzo weltweit der diesen Namen trägt, er ignorierte das Gummibärchen.
„Du heißt Bonzo? Ich dachte Telix7?“, fragte Hergen1, in der Hoffnung, alles sei nur eine Verwechslung und irgendwo würde nun eine Göttin, ein Schneewittchen oder wenigstens jemand auf ihn warten, die auch nur einen Hauch Weiblichkeit auf sich verteilt hat.
„Bonzo hier, Telix7 im Netz und sonst Benjamin, den ich aber verachte.“, knurrte Bonzo, Telix7 oder Benjamin. Genau konnte man das nicht sagen.
Für Hergen war das ohnehin schon genug Verwirrung. Er wusste ja Nichteinmal wann und wo und ob er gerade Hergen oder Hergen1 war. Einen dritten Namen, da war er sicher, würde ihn gänzlich überfordern.
„Schizophrenie ist wenn einer zwei Personen ist. Aber wie nennt man jemanden der zwei Persönlichkeiten, plus sich selbst, in sich trägt? Trischizophrenie?“, dachte Hergen oder Hergen1 oder beide, wenn sie denselben Gedanken zeitgleich hatten. Und noch ein weiterer Gedanke beunruhigte ihn. Wenn er nun einer ernsthaften Beziehung mit seinem Gegenüber bereit wäre und er Abstriche beim Geschlecht machen würde, denn eigentlich hatte er ja auf eine Frau gehofft, dann wären sie zuhause bald zu fünft oder zu sechst, wenn er sich auch noch einen externen Kneipennamen geben würde. Auf so viele Leute war seine kleine Wohnung gar nicht ausgelegt. Auch morgens im Bad, da würde es zu einem Rückstau kommen, der zu chaotischen Verhältnissen führen würde. In einer einsam gefällten Entscheidung sah er nur einen Ausweg. Er musste weg hier, einen neuen Namen annehmen und im Ausland, irgendwo sich ein neues Leben aufbauen. Und am besten ein Land, die kein Auslieferungsabkommen haben. Die Lofoten oder Tonga. Auch Kiribati zog er in Betracht, wenngleich er nicht wusste, wo es liegt. Das Land war also fast schon ausgewählt, blieb nur noch eine kleine unbedeutende Frage. Wie hier rauskommen. Bonzo sah nicht gerade so aus, als würde er seine neuerstandene Trophäe so einfach freigeben.
„Du siehst geil aus!“, sagte Bonzo tumb und recht emotionslos.
Hergen seufzte. Ausgerechnet jetzt begann Bonzo mit einer Charmeoffensive, wo er auf dem Absprung war und die Trennung einleiten wollte.
„Dankeschön. Das freut mich sehr. Du siehst auch ... auch ... auch aus.“, erwiderte Hergen, in vornehmer Zurückhaltung.
„Mein Mädchen!“, seufzte Bonzo zufrieden und rückte mit seinem Stuhl und seinem vollbärtigen Gesicht näher. Seine eingeölte Haut glänzte im flackernden Lichtschein der Kerze, die als Tischdekoration für romantische Stunden diente.
„Mädchen?“, erkundigte sich Hergen vorsichtig, ob er sich eventuell vielleicht und hoffentlich verhört hatte.
„Ich bin für eine klare traditionelle Rollenverteilung. Und du bist jetzt mein Mädchen.“
Noch bevor Hergen intervenieren konnte, hatte er den kompletten Vollbart im Gesicht und eine, vermutlich auch behaarte, Zunge forderte Einlass.
„Lappland wäre auch noch eine Alternative.“, schoss es ihm in den Kopf, ehe sein Kiefergelenk geschlagen geben musste, denn die Übermacht war zu stark. Und so machte Bonzo Geländegewinne.
Nach einer fünfminütigen Tortur, ähnlich einer Darmspiegelung, rang Hergen nach Luft.
„Du hattest heute Mittag Frikadelle mit Spinat und Kartoffeln.“, sagte er, schwer atmend, um weiteren Übergriffen vorzubeugen, indem er das Gespräch suchte.
„Ja war bei meiner Mutti zum Essen.“, brummte Bonzo und freute sich über das Interesse an ihm.
„Familie ist doch schon etwas sehr Schönes.“, gab Hergen zurück.
„Ich esse da nur. Wir reden nicht miteinander.“, knurrte Bonzo und näherte sich schon wieder.
Hergen wich zurück und suchte rasch nach einem neuen Thema, doch die Zunge war schneller und streichelte seine Mandeln.
Wäre Bonzo eine attraktive Frau und er kein Mädchen, hätte sich Hergen ja die Behandlung anstandslos gefallen lassen. Aber hier nun einen auf empörte Diva zu machen, empfand er als unhöflich. Schließlich war es ihr erstes Date und das wollte er nicht versauen.
Zu sehr war er auf seinen guten Ruf bedacht. Außerdem war er auch ein großer Freund von Frikadellen. Und die von Bonzos Mutter waren ausgezeichnet gewürzt. Lediglich dem Spinat fehlte es etwas an Muskat.
Doch trotz des kulinarischen Genusses stand sein Entschluss fest, hier und heute noch Schluss mit Bonzo zu machen. Die Frage war nur wie? Keinesfalls wollte er die Gefühle von Bonzo verletzen. Behutsam und mit Fingerspitzengefühl wollte er es ihm schonend beibringen oder aber, einfach durch das Klofenster verschwinden.
„Ich bin mal für kleine Mädchen.“, entschuldigte er sich formvollendet, nachdem er seine Zunge entknotet hatte.
„Dann aber Huschhusch mein Erdbeermund, damit nichts ins Höschen geht.“, flötete Bonzo plötzlich überraschend.
Das Fenster auf der Toilette war eine einzige Enttäuschung, denn es war keins vorhanden. Damit war der Fluchtplan auf ganzer Linie gescheitert. Mit entsprechend schlechter Stimmung kehrte Hergen zurück an den Tisch und ließ die standesgemäße Begrüßung über sich ergehen, die Bonzo für ihn vorgesehen hatte.
Und dann begann Hergen einen fatalen Fehler, den er noch jahrelang bereuen sollte. Es war zwar nur eine kleine unschuldig daherkommende Frage, deren Ausmaß jedoch sein ganzes Leben verändern sollte.
„Magst Du mir nicht dein Leben erzählen?“
Es war eine Frage, deren Antwort ihn fassungslos machte, denn sie wurde mit einem plötzlichen Gefühlsausbruch der unangenehmsten Art beantwortet.
Bonzo, ein Mann, ein ganzer Kerl, ein Bär wie man ihn nur in den Rocky Mountains sonst vorfindet, heulte plötzlich hemmungslos los. Es war erschütternd. Die ganze Kneipe starrte zu ihnen und war peinlich berührt. Hergen wusste mit der Situation nicht umzugehen und nahm ihn kurzerhand in den Arm, zum Zwecke des Trostes.
„Erzähl es deinem Mädchen.“, flüsterte er ihm aufmunternd ins behaarte Ohr.
Auf diese Weise wollte er den Niagarafall austrocknen. Schluchzend begann Bonzo ihm seine Lebensgeschichte stockend zu erzählen, immer wieder von Weinkrämpfen unterbrochen. Das ganze wurde begleitet von einem unterstützenden, permanenten Kopfschüttelns seitens Hergen.
Der konnte seine Gefühle auch nicht mehr unterdrücken und stimmte in Bonzos Geheule mit ein. Längst war es in der Kneipe mucksmäuschenstill. Alle waren erschüttert von dem, was Bonzo hier zum Besten gab. Auch sie, halbnackte Lederkerle, die hier den harten Mann gaben, schämten sich ihrer Tränen nicht. Oft wird ja erzählt, von feuchtfröhlichen Kneipenabenden. Hier wurde dies sprichwörtlich zur Realität. Mutti kam mit dem Aufwischen gar nicht mehr hinterher. Unermüdlich feudelte sie das Laminat, damit es, wegen der Feuchtigkeit, keine Falten warf.
Quälende drei Stunden berichtete Bonzo und breitete sein ganzes Leben aus. Und niemand hegte auch nur den geringsten Zweifel, dass im Gegensatz zu ihm, Hiob ein glückliches Leben hatte. Und zum Schluss bat Bonzo eindringlich, nichts von dem, was er erzählte, nach außen dringen möge. In einer nie da gewesenen Solidarität, die es so wohl nur unter Liebhabern von Lederbekleidung und zutiefst traurigen Geschichten gibt, schworen alle Stillschweigen. Alle erklärten sich bereit sich den Mittelfinger einritzen zu lassen, denn Bonzo bestand auf einen Blutschwur, so wie es bereits Winnetou und Old Shatterhand es praktiziert hatten.
Doch das war Hergen nicht genug. Er wollte noch ein persönliches Zeichen setzen. Dazu verlangte er das Wort, was ihm auch zugebilligt wurde.
„Hier und heute und für alle zeit, zeige ich mich mit Bonzo nicht nur solidarisch, sondern verkünde es öffentlich und in vollem Bewusstsein meines Handelns. Ich bekenne mich dazu und wünsche mir die Toleranz, dass ein jeder akzeptieren möge, was ich zusammenfassend in nachfolgendem Satz zum Ausdruck bringen möchte.“
Dann richtete er seinen Blick und auch seine Worte direkt an Bonzo.
„Bonzo, ab diesem Moment, wo ich es offen ausspreche und unter Zeugen, ich möchte dein Mädchen sein. Jetzt und für alle Zeit.“
Da gab es kein Halten mehr. Wildfremde Männer fielen sich reihenweise um den Hals. Nie war mehr ehrliche Liebe im Raum wie nach der beeindruckenden Rede Hergens, die fortan auf den Namen Hertha hörte.
Aber das ist eine andere Geschichte.

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