Es war Montag Morgen, Herr Fleischmann kam wie immer zur Arbeit ins Büro. Die Kollegen, alle mit ihren bunten Clownperücken auf, unterhielten sich heiter über das Wochenende. Einer war mit Frau und Kind im Vergnügungspark gewesen, eine Kollegin war ihre Eltern besuchen gegangen. Doch sie alle verstummten als Fleischmann eintrat. Alle Augen richteten sich auf ihn. Doch er war es sich gewohnt. Alle starrten auf sein Haupt, das einzige im Büro auf welchem keine bunte Clownperücke thronte. Fleischmann hatte sich an die starrenden Blicke der perückentragenden Masse gewöhnt, im Zug, im Supermarkt, im Büro oder wo auch immer. Er ging eigentlich gar nicht gerne unter die Leute, lieber wurde er alleine gelassen. Auch in der Arbeit war er nicht sehr gesellig, und widmete sich hauptsächlich seinen Aufgaben. Nachdem er sich an seinen Platz gesetzt hatte, wurden die Unterhaltungen der Kollegen bald fortgeführt.
Um die Mittagszeit kam Herr Rosenstock an Fleischmanns Platz. Das Büro war fast leer, alle waren zur Mittagspause raus. Nur Fleischmann ass an seinem platz. Rosenstock war einer der wenigen Kollegen mit denen Fleischmann, wenn auch nur wenig, verkehrte. Er plauderte ein Bisschen über das Wochenende, und kam dann auf die Frage zu, warum Fleischmann denn keine bunte Clownperücke trug.
„Ich will einfach nicht“, antwortete Fleischmann.
„Aber warum denn nicht?“, fragte Rosenstock.
„Einfach so“, sagte Fleischmann und widmete sich seiner Mahlzeit.
„Aber alle anderen tragen doch diese Perücken. Und es schadet ja nicht“, fuhrt Rosenstock fort.
„Sollen sie doch. Was stört es sie wenn ich keine trage?“, fragte Fleischmann inzwischen irritiert.
„Naja, es stört sie halt, weil sie ja alle eine tragen und du dann nicht, verstehst du?“, sagte Rosenstock.
„Nein. Verstehe ich nicht“, sagte Fleischmann und ass weiter. Rosenstock rümpfte die Nase und entfernte sich.
Es war diese Woche, dass Fleischmann unerwartet in das Büro des Chefs gebeten wurde. Fleischmann wurde nervös, er hatte nicht das Gefühl dass es sich um etwas gutes handeln würde. Er war eigentlich froh, je mehr man ihn einfach in Ruhe liess. Er trat ein und setzte sich an den grossen Cheftisch. Der Chef, dessen bunte Clownperücke grösser und bunter war als alle anderen, drehte sich sogleich zu ihm.
„Da bist du ja, Fleischmann“, sagte der Chef.
„Guten Tag, Chef“, sagte Fleischmann.
„Fleischmann, ich muss etwas wichtiges mit dir besprechen.“
„Bitte.“
„Die Sache ist die“, begann der Chef, „wir sind eigentlich zufrieden mit deiner Arbeit. Sehr zufrieden sogar. Aber, wie soll ich das sagen… dein Verhalten ist nicht ganz was wir erwarten würden.“
„Habe ich etwas falsch gemacht?“, fragte Fleischmann.
„Also, nein. Aber weisst du… das mit den… naja, du weisst schon, den Perücken. Du weigerst dich durchgehend deine zu tragen“, sagte der Chef.
„Ich sehe keinen Grund dazu“, sagte Fleischmann schlicht. Es war nicht das erste Mal dass er ein solches Gespräch führte, und er wollte dass es so schnell wie möglich zu Ende wäre.
„Aber Fleischmann, du siehst doch wir alle tragen unsere Perücken“, sagte der Chef.
„Ich habe auch nichts dagegen“, sagte Fleischmann.
„Und du trägst einfach keine?“, fragte der Chef, „findest du das denn richtig?“
„Ich sehe einfach nicht ein was es anderen ausmacht“, versuchte sich Fleischmann rauszureden.
„Herrgott Fleischmann!“, rief der Chef und schlug auf den Tisch, „was soll den dieses kindische Getue?“
Fleischmann sagte nichts, er mied den Blick des Chefs.
„Fleischmann, hör mir gut zu“, begann der Chef, nun mit einem ganz anderen, aggressiven Ton, „wir werden das nicht länger hinnehmen, verstehst du? Du hast eine Wahl, triff jetzt gefälligst die richtige Entscheidung, zwing mich nicht dazu dich zu entlassen.“
„Entlassen?“, fragte Fleischmann nervös.
„Ich werde das nicht weiter diskutieren, Fleischmann“, sprach der Chef ernst, „wir haben dein Verhalten lang genug durchgehen lassen, es reicht jetzt.“
Fleischmann schluckte, und schaute sich im Raum herum. Er seufzte.
„Dann heisst das wohl adieu“, sagte er verstört.
„Fleischmann um Gottes Willen, das ist doch nicht dein Ernst!“, sagte der Chef laut.
Fleischmann streckte ihm die Hand aus, doch der Chef stiess sie weg. Fleischmann verliess sein Büro, packte seine Sachen zusammen, und ging.
Über die kommenden Wochen bewarb sich Fleischmann bei dutzenden Ausschreibungen, doch alle lehnten ihn ab. Einige antworteten mit Ausreden, andere sagten gleich dass sie niemanden wollten, der keine Clownperücke trug. Irgendwann wurde das Geld knapp und Fleischmann konnte die Rechnungen nicht mehr bezahlen. Erst wurde der Strom abgestellt, dann fehlte auch das Geld für die Miete. Eines Tages stand der Vermieter vor der Tür. Unter seiner bunten Clownperücke warfen seine Augen einen hasserfüllten Blick auf Fleischmann, und er sagte ihm, er müsse ende Monats, also in drei Tagen, aus der Wohnung raus. Er hatte ja schon die Mahnungen bekommen. Er machte keinen Hehl daraus, dass er ganz zufrieden war, jemanden wie Fleischmann rauszuschmeissen. Einen Querulanten, der einfach keine Perücke trug, wie es doch alle anderen taten.
Fleischmann hatte Angst davor, obdachlos zu werden. Doch zugleich wollte er dieser Gesellschaft, die ihn aus diesem für ihn unverständlichen Grund so vollkommen verachtete, nachgeben. Er wollte nicht Teil sein einer Gesellschaft, die ihn nur akzeptierte, wenn er sich dieser unsinnigen Regel fügte. Er verkaufte was er konnte um etwas Geld zu beschaffen, und nahm in einem Koffer mit, was er konnte: Einen schweren Mantel gegen die Kälte, ein Taschenmesser, eine Bibel, denn er war gläubiger Christ, und ein Fotoalbum, in welchem er Bilder seiner schon lange verstorbenen Eltern hatte. Bevor er das Album einpackte, blickte er hinein. Auf den alten Schwarzweissbildern sah er seine Mutter, noch ganz jung, mit ihm als Säugling. Keiner auf den Bildern trug eine Clownperücke.
Mitten in der Nacht verliess er die Wohnung. Es war kalt, also versuchte er im Bahnhof sein Glück, eine Ecke zu finden, wo er sich vor der Kälte schützen konnte. Doch er wurde alsbald von einem Wachmann vertrieben. Dieser schien besonders gehässig, wie er sah, dass Fleischmann, anders als er, keine Clownperücke trug. Ins Armenhaus wollte man ihn auch nicht lassen. Er müsse erst eine Clownperücke tragen. Aber warum zur Hölle machte es etwas aus, ob er eine verfluchte Perücke trug, um ihm einen Platz zum schlafen zu geben? Er bekam keine Antwort, und wurde verscheucht. Wie er sich von der langen Schlange an perückentragenden Obdachlosen entfernte, kam ein Mann auf ihn zu. Was Fleischmann sofort auffiel, war sein unbedeckter Kopf, auf welchem keines dieser lächerlichen Büschel sass.
„He du“, sagte der Mann, der recht abgerissen aussah, „weisst nicht wohin?“
„Nein“, sagte Fleischmann.
„Komm mit“, sagte der Mann. Er führte ihn einige Strassen weiter zu einem leeren Grundstück. Auf dem Bauzaun der das Grundstück begrenzte standen Schilder die den Zugang verboten. Doch der Mann wusste wo man ein Stück dieses Zaunes entfernen konnte, um sich Zugang zu verschaffen. Er führte Fleischmann hinein, und stellte den Zaun dann zurück. Fleischmann fand eine kleine Barackensiedlung vor, notdürftig gebaut mit altem Baumaterial und Plastikplanen. In Stahltonnen brannte Feuer, um welches herum sich einige andere wärmten. Was Fleischmann auffiel, war dass keiner von ihnen eine Perücke trug.
„Willkommen bei den Ausgestossenen“, sagte der Mann und deutete auf die kleine Behausung, „Leute, wir haben einen Neuankömmling. Er heisst – wie heisst du eigentlich?“
„Fleischmann“, sagte Fleischmann, „hallo, freut mich.“
„Komm ma‘ her und wärm dich“, sagte ein alter Mann mit Glatze und weissem Bart der sich an einer Tonne wärmte.
„Hast du Hunger? Wir haben Brot und Wurst“, sagte eine Frau mittleren Alters wie sie das erwähnte Essen aus einem Plastiksack hervor holte.
„Das schmeissen die Abends aus dem Supermarkt“, sagte der Mann der Fleischmann dorthin geführt hatte, „ist noch nicht schlecht aber kann nicht mehr verkauft werden. Greif zu.“
Fleischmann bot ihnen Geld an für die Speise und die Unterkunft, doch sie wollten es nicht annehmen. Es hatte ja genug Platz, und das Essen würde sowieso schlecht werden, wenn man es nicht bald verzehrte. Stattdessen kaufte Fleischmann am nächsten Tag mit seinem letzten einige nützliche Sachen für die anderen Obdachlosen, Mützen, Handschuhe, Geschirr und dergleichen. Diese Baracken waren zwar alles andere als Komfortabel, doch wenigstens wurde Fleischmann endlich in Ruhe gelassen, und musste nicht dauernd diese nervigen Clownperücken sehen.
Die Wochen vergingen, und Fleischmann gewöhnte sich recht schnell an das Leben als Ausgestossener. Irgendwie hatte er sich schon lange ausgestossen gefühlt. Doch eines Morgens wurden sie alle von lautem Klopfen geweckt. Jemand schlug gegen den Zaun, rammte ihn gar. Es wurde so stark auf den Zaun geschlagen, dass dieser bald nachgab und umfiel. Dahinter stand ein kleines Bataillon von Polizisten mit schwerer Ausrüstung, dicke Schutzkleidung, Schlagstöcke in der Hand und Helme mit Schildern vor dem Gesicht, durch welche allerdings noch ein Paar Strähnen der Clownperücken zu sehen waren. Ohne grosse Erklärungen begannen die Polizisten, die Baracken zu zerschmettern und die Obdachlosen zu verprügeln und zu verhaften. Fleischmann ging empört auf die Polizisten zu, denn diese Leute hatten doch niemandem etwas zu Leide getan, doch er erhielt sogleich einige starke Schläge mit einem Schlagstock. Erst gegen die Beine, woraufhin er zu Boden ging, dann auf die Arme, und schliesslich ein Tritt gegen den Kopf, woraufhin er ohnmächtig wurde.
Fleischmann wachte auf und fand sich in einem Bett wieder. Es dauerte ein Wenig bis er wieder klar sehen konnte, dann schaute er um sich. Er war mit fünf anderen Leuten in einem Spitalzimmer. Es musste ein altes Spital sein, der Raum und auch die Betten waren alles andere als neuwertig. Aber seine Decken waren sauber. Er hatte einen Verband am Kopf und an einem Bein. Dieses Bein schmerzte ziemlich, wie auch sein Kopf. Er lag eine weile da und versuchte sich zu erinnern was passiert war, aber nach dem er die Schläge abbekommen hatte war alles schwarz geworden. Nach einer weile kam ein Arzt herein, ein junger Mann. Fleischmann sah zum ersten mal seit einiger Zeit wieder eine bunte Clownperücke, obgleich er da auch bemerkte, dass die anderen Leute in den Betten keine trugen.
„Wie geht es ihnen?“, fragte der Arzt.
„Geht schon… schmerzt noch ein bisschen“, antwortete Fleischmann.
„Die haben ihnen auch ganz schön zugesetzt. Gebrochen war zum Glück nichts. Ich denke in ein Paar Tagen sollten sie auch wieder laufen können.“
Fleischmann bedankte sich beim Arzt, der auch gleich weiterging, denn er musste sich noch vielen anderen Patienten widmen.
Am Abend wurde Fleischmann, der schon schlief, plötzlich von einem Aufruhr geweckt. Es schien gleich ausserhalb der Zimmertür wurde laut gestritten.
„Der Mann ist festzunehmen wegen Einbruchs, Hausbesetzung, Brandstiftung, Sachbeschädigung und Landstreicherei, ich habe hier einen Haftbefehl für Herrn Fleischmann“, sagte eine wütende Stimme.
„Der Mann ist mein Patient, und sie haben hier nichts zu suchen, also verschwinden sie wenn sie nicht wollen dass ich eine Beschwerde gegen sie aufgebe“, antwortete eine andere Stimme, die nach dem jungen Arzt von vorhin klang.
„Herrgott, was scheren sie sich denn darum? Sehen sie sich den doch an, wie der rumläuft, solche Leute gehören weggesperrt!“, rief die andere Stimme.
„Verschwinden sie endlich, sie stören unsere Patienten“, erwiderte der Arzt. Schliesslich waren laute Schritte zu hören, die sich entfernten. Nach einer weile kam der junge Arzt herein und kam zu Fleischmann.
„Es scheint, man will sie verhaften“, sagte er nur.
„Ja, das kann schon sein“, sagte Fleischmann resigniert.
„Ich habe den Mann fort geschickt. Wir werden erstmal zusehen, dass es ihnen wieder gut geht“, sagte der Arzt.
„Warum eigentlich? Sie sehen doch wie ich… rumlaufe“, sagte Fleischmann und deutete auf sein Haupt.
„Das hier ist das Armenspital“, sagte der Arzt, „wir weisen hier niemanden ab. Unsere Aufgabe ist es, unsere Patienten zu pflegen.“
„Und es stört sie nicht, dass ich solch ein böser, krimineller Querulant bin, der sich nicht fügt und gehorsam ist?“, fragte Fleischmann.
„Es ist nicht an uns hier, sie zu richten. Für uns hier sind sie einfach nur ein Patient wie jeder andere.“
Nachdem Fleischmann aus dem Spital entlassen wurde, holte man ihn sogleich ab und führte ihn dem Richter vor. Und wie er in diesem ehrwürdigen Gerichtssaal stand, umgeben von ehrwürdigen Juristen die alle bunte Clownperücken trugen, musste er plötzlich lachen. Er konnte nicht mehr aufhören, denn der Anblick schien ihm das komischste, was er je gesehen hatte. Er sah sich um und betrachtete den bunten Perückenwald des Publikums, und musste noch mehr lachen. Er zeigte auf den Staatsanwalt und lachte, er zeigte auf den Richter und lachte. Ein Gerichtsdiener kam auf ihn zu und schüttelte ihn, dass er sich besinne. Und auch das fand Fleischmann zum totlachen. Nach einer halben Stunde, in welcher Fleischmann kaum hatte aufhören können zu lachen, und auch keinen ganzen Satz sagen konnte, weil er immerzu lachen musste, gab der Richter die Sache auf, und ordnete an, dass man Fleischmann in eine Irrenanstalt einweise.
Er passte sich bald an das Leben in der Anstalt an. Hier war er seine Sorgen los, er wurde nicht mehr angestarrt oder angefeindet, und auch viele andere Insassen trugen, wie er, keine bunte Clownperücke. Womöglich waren sie deshalb eingewiesen worden. Trotzdem musste Fleischmann immer wieder lachen, wenn er die Krankenwarte mit ihren Perücken sah. Aber sie nahmen es ihm nicht übel, er war ja schliesslich nur ein Insasse der Irrenanstalt. Ab und zu führte er Gespräche mit einem Psychiater, der seinen Zustand hierbei begutachtete. Nach einem dieser Gespräche sass der Psychiater in seinem Arbeitszimmer, und Tippte auf seiner Schreibmaschine den Bericht über die Therapiesitzung dieses Tages.
„Der Patient Fleischmann zeigt in seinem tagtäglichen Verhalten keinerlei Attacken oder Ausbrüche, ausser den durch die Perücken ausgelösten Lachanfälle. Im Gespräch zeigt er sich weitgehend kohärent und rational, und begründet sein pathologisches Verhalten mit scharfsinniger Argumentation. Tatsächlich scheint seine Position, abstrakt betrachtet, rationaler, als dass es das gewöhnliche Verhalten der breiten Masse ist. Man müsste sich fragen, ob nicht Patient Fleischmann geistig gesund ist, und die Masse pathologisch. Die Mehrheit kann aber niemals pathologisch sein, egal wie irrational ihr Verhalten. Diese Klassifizierung kann ja schliesslich nur auf das Verhalten einer abweichenden Minderheit zutreffen.“
Er nahm das Papier aus der Schreibmaschine und unterschrieb seinen Bericht. Dann nahm er seine Perücke ab, und warf sie in den Abfalleimer.