Das Argument «Religion ist immerhin ein moralischer Leitfaden» wird im Paradeumzug apologetischer Katholiken stets im zweitvordersten Wagen, direkt nach «Unsere gemeinnützigen Arbeiten (Bedingungen und Konditionen siehe AGB)» präsentiert. Und natürlich wird das Argument auch immer mit den zehn Geboten belegt. Höchste Zeit also, diese 10 Disziplinierungs-Gassenhauer einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.

Moses war ein Revisionist, weshalb es einige Fassungen dieser Sprüche-Charts gibt. Ich beziehe mich im Folgenden auf die Zehn Gebote nach Luther. Bedenke, liebe:r Lesende:r, dass der einzige Text, den Gott nicht nur höchstpersönlich, sondern auch selbst und im Zweifel eigenhändig geschrieben, also in Stein gemeißelt haben soll (Und er verkündigte euch seinen Bund, den er euch gebot zu halten, nämlich die Zehn Worte, und schrieb sie auf zwei steinerne Tafeln. (5. Mose 4:13)).

Fangen wir vorne an:

Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir (1. Gebot). Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht unnütz gebrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht (2. Gebot). Oh, und ausserdem sollst du den Feiertag heiligen (3. Gebot). Weil, das ist auch wichtig!

Von den zehn Geboten sind die ersten drei nur Unterlassungsdrohungen eines egozentrischen und eifersüchtigen Gottes. Es ist die Machtpositionierung eines unsicheren Diktators, der den Menschen befiehlt, ihn zu lieben und gleichzeitig zu fürchten. Ist solche zwanghafte Liebe moralisch gut? Natürlich nicht, und kein kluger, moderner Mensch würde das so eng sehen. Christen leisten hier geradezu beeindruckende Begründungsakrobatik. Aber genau darum geht es doch: Wenn aus der Religion die Moral erwachsen soll, weshalb braucht es dann den persönlichen ethischen Kompass, solche Dinge automatisch direkt auszufiltern, ja nicht einmal in Betracht zu ziehen? Keiner dieser ersten drei Regeln (und das sind immerhin 30%) ist für den Menschen, im humanistischen Sinne, von moralischem Wert. Und noch eine Kleinigkeit am Rande: Hatte Gott etwa Angst vor Konkurrenz? War er also doch nicht der einzige Gott, oder weshalb sollte er sich Sorgen machen, dass Menschen sich anderen Göttern unterwerfen?

Man könnte den ersten Teil dieses Dekrets durch die folgenden Zeilen ersetzen - das wäre nicht unbedingt ein besserer Moral-Leitfaden, aber bestimmt auch kein schlechterer:

  • Bewege dich mehr!
  • Denke, bevor du sprichst!
  • Unterbreche nie einen Pink Floyd Song!

Du sollst nicht ehebrechen (6. Gebot) wird man stattdessen gewarnt. Es ist schwer zu verstehen, weshalb ein solches Vergehen in die gleiche Kategorie fällt wie Mord (5. Gebot) und Diebstahl (7. Gebot).

Du sollst nicht töten /morden (5. Gebot) steht zwar erst an fünfter Stelle, aber immerhin noch vor: Du sollst nicht stehlen (7. Gebot). Ja, diese Regeln sind so einfach wie beliebt. Sie sind sogar so beliebt, dass sie sich in den Gesetzbüchern säkularer Gesellschaften wiederfinden. Doch gab es je eine Gesellschaft, die willkürliches Morden oder Stehlen empfahl? (Unabhängige Anmerkung: Gibt es katholische Banker?)

Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass es dir wohlgehe und du lange lebest auf Erden (4. Gebot). Gilt das nicht für alle Menschen, die sich diese Ehre verdient haben? Was ist mit Eltern, die sich des Missbrauchs schuldig gemacht haben? Sollen die Kinder von Fred und Rosemary West ihre Eltern ehren? Und warum widerspricht Jesus seinem Papa (sich selbst), wenn er im Neuen Testament sagt: «Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert.» (Matthäus 10:34–37). «Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein.» (Lukas 14:26). «Jeder, der seinen Bruder hasst, ist ein Menschenmörder und ihr wisst: Kein Menschenmörder hat ewiges Leben, das in ihm bleibt.» (1 Johannes 3:15). «Aber die Feiglinge und Treulosen, die Befleckten, die Mörder und Unzüchtigen, die Zauberer, Götzendiener und alle Lügner — ihr Los wird der See von brennendem Schwefel sein. Dies ist der zweite Tod.» (Offenbarung 21:8).

Viertes Gebot, Jesus? Hallo!?

Wenn Christen nun behaupten, dass das alles kein Widerspruch sei, dann ist das auch kein Widerspruch! Ehrlich! Christen lügen nicht, denn du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten (8. Gebot). Darum gibt es bekanntlich auch keine Christen, die behaupten Dinge zu wissen, die sie nicht wissen können.

*Kicher*

Und kein Christ würde je behaupten, dass Homosexualität «moralisches Übel», unnatürlich und eine Sünde sei, dass eine Hölle existiere, um Menschen ewig (was ziemlich lang ist) zu bestrafen, oder auch nur, dass Atheismus ein Glaube sei.

Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus (9. Gebot). Und wenn wir schon dabei sind, sollst du auch nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was dein Nächster hat (10. Gebot), wie seinen BMW, sein Heimkino oder seinen Jacuzzi.

Auch wenn ich meinen Barmherzigkeitsmodus auf 100 % schalte, den Zeigefinger an die Nase drücke und zwischendurch ganz fest an rosa Wölkchen denke, kann ich den Gedanken, Frauen und Knechte in die gleiche Besitztum-Kategorie wie Nutztiere einzuordnen, nicht mit Moral in Verbindung bringen.

In diesen letzten beiden himmlischen Erlassen, werden Gedanken bestraft. Alleine das Begehren reicht. Die Vorstellung, den «Napoleon Prestige PRO Gasgrill» des Nachbarn zu wollen (!) genügt, und Gott wird zur Karen. Der Mensch wird aufgefordert, den Instinkt zu unterdrücken, obwohl wir ihn doch angeblich diesem Gott zu verdanken haben. Neid ist eine Todsünde — und so ist es konsequenterweise auch verboten, neidisch auf den Nachbarn zu sein, weil er so viele starke Sklaven hat. Es ist jedoch keine Sünde, Sklaven zu besitzen.

Der Berg Sinai, wo auch um 1250 v. Chr. nichts Besonderes geschah.

Ja, geschenkt, heute findet die katholische Kirche die Sklaverei auch nicht mehr so schnafte, denn auch sie muss sich (wenn der Druck dieses, von säkularen Ketzern angetriebenen, Zeitgeistes gross genug ist) anpassen. Also rudert die katholische Kirche immer mal wieder etwas zurück und macht Dogmen, die jahrhundertelang galten, mit einer großzügigen Handbewegung, ein paar gemurmelten Sätzen auf Latein und mit einem Siegelstempel rückgängig. Manchmal entschuldigt sich der Vatikan sogar halbherzig und verteidigt das eigene moralische (und vor allem ethische) Unvermögen damit, es nicht besser gewusst zu haben. Aber da stellt sich, wie Stephen Fry in der Debatte von Intelligence Squared+ «The Catholic Church is a Force for Good in the World» (2009) bemerkte, in erster Linie doch unweigerlich die Frage über den Sinn ihrer Existenz!

Natürlich muss man die Gesamtheit dieser Texte im historischen Kontext sehen, aber ey, erstens, werden diese Top 10 noch heute als moralischer Kompass postuliert, und zweitens sind hunderte Jahre alte Texte halt vor allem eines: hunderte Jahre alt.

Der Religionskritiker Ebon Musings hat deshalb die alternativen 10 Gebote formuliert. Und die sind nicht in Stein gemeißelt:

  • Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu.
  • Strebe immer danach, keinen Schaden anzurichten.
  • Behandle deine Mitmenschen, andere Lebewesen und die Welt im Allgemeinen mit Liebe, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und Respekt.
  • Sieh über Böses nicht hinweg und scheue dich nicht, Gerechtigkeit walten zu lassen und sei immer bereit, schlechte Taten zu verzeihen, wenn sie freimütig eingestanden und ehrlich bereut werden.
  • Führe dein Leben mit einem Gefühl von Freude und Staunen.
  • Strebe stets danach, Neues zu lernen.
  • Stelle alles auf den Prüfstand; miss deine Ideen immer an den Tatsachen und sei bereit, auch lieb gewordene Überzeugungen über Bord zu werfen, wenn sie sich nicht mit der Wirklichkeit vereinbaren lassen.
  • Versuche nie, zu zensieren oder dich von Meinungsverschiedenheiten abzukapseln; respektiere immer das Recht der anderen, anderer Meinung zu sein als du.
  • Bilde dir aufgrund deiner eigenen Vernunft und Erfahrung eine unabhängige Meinung; lass dich nicht blind von anderen führen.
  • Stelle alles infrage.

Richard Dawkins hat diese Gebote in seinem Buch «Der Gotteswahn» (2006) ergänzt:

  • Erfreue dich an deinem eigenen Sexualleben (solange es keinem anderen Schaden zufügt) und lass andere sich des ihren ebenfalls erfreuen, ganz gleich, welche Neigungen sie haben — die gehen dich nichts an.
  • Diskriminiere oder unterdrücke nicht aufgrund von Geschlecht, Rasse oder (soweit möglich) biologischer Art.
  • Indoktriniere deine Kinder nicht. Bring ihnen bei, selbstständig zu denken, Belege zu beurteilen und anderer Meinung zu sein als du.
  • Beurteile die Zukunft nach einem Zeitmaßstab, der größer ist als dein eigener.

Wer stellte denn eigentlich die Regel auf, dass es nur 10 Gebote sein dürfen?

Gott?

Eben.


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