Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Words That Mean Nothing

Much of the time that we think we are talking about ​“issues,” we are actually talking about words. One side will argue against one definition of a word, while the other side argues in favor of a different definition of a word. Each side can claim that the other is not addressing the issue, because the issue is defined differently on each side. In this way, political debate can carry on unimpeded by any barriers of mutually agreed upon terms, like separate superhighways rushing on at full speed in opposite directions. This characterizes a large amount of political discourse in this country: Torrents of people talking about different things, all of whom assume that they are talking about the same things. There is much hand-wringing today over the idea that misinformation and conspiracy theories and omnipresent propaganda have created a situation in which Americans don’t seem to have a single set of mutually agreed upon facts. That is true. But it does not capture an even more elementary flaw in what we are doing. We allow entire ​“issues” to be created and to be talked about endlessly in the national political media without ever determining what those issues mean. The absurd effect of this failure is twofold. First, it allows bad faith political actors to purposely exploit this rhetorical vulnerability in order to smear the other side by inflating the definition of bad things to include whatever the other side is doing. This is standard issue political scumbag behavior, and is to be expected. Worse, though, it creates a self-reinforcing cycle in which widespread use of some vague, ill-defined term convinces the public that this term is something important, driving media coverage and creating impenetrable towers of meaninglessness that come to dominate our partisan political landscape. (Hamilton Nolan, In These Times)

Ich bezweifle stark, dass es sich hier um ein neues Phänomen handelt; als die CDU "Freiheit oder Sozialismus" plakatierte, war "Sozialismus" schließlich auch nicht mehr als ein politischer Kampfbegriff. Auch die völlige inhaltliche Entkernung von "neoliberal" schlägt in dieselbe Kerbe. Nolan beschreibt in seinem Artikel anhand einiger Beispiele eindrücklich die Bandbreite, die bestimmte Schlagworte im politischen Diskurs (wenn man solch hochtrabende Worte hier überhaupt verwenden will) haben. Damit lässt sich zwar Mobilisieren, aber sicherlich nicht über irgendetwas diskutieren. Addiert man dazu noch die jeweiligen nur von bestimmten Teilgruppen verwendeten Begriffe (so was wie "Gender-Gaga"), bekommt man ein Gewirr, das zwar hervorragend dazu geeignet ist, irgendwelche Emotionen zu wecken, aber sicherlich nicht, um ein Thema zu diskutieren.

2) Was ein Diffamierungswahlkampf anrichtet

Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, dass Teile der CDU/CSU, angeführt von den Generalsekretären Blume und Ziemiak, mit ständiger Begleitmusik vom Generalsekretär der Herzen, Friedrich Merz, einen Wahlkampf nach dem Modell »US-Republikaner light« ausprobieren möchten. Einen Wahlkampf, der sich weniger auf eigene Positionen bezieht, sondern auf die Diffamierung der Partei, die man als Hauptgegner identifiziert hat. Dabei zögert man nicht, dieser Partei wieder und wieder Positionen zu unterstellen, die diese gar nicht vertritt. Es wird gewissermaßen ein Strohmann-Wahlkampf geführt. Diese Strategie gipfelt in der immer wieder eingestreuten These, wenn die Grünen die Wahl gewännen, werde vermutlich der Sozialismus in Deutschland wieder eingeführt, oder doch zumindest so etwas Ähnliches. All das ist erkennbar Unsinn, aber das ist nicht das größte Problem. [...] Das größte Problem an einem Diffamierungs- und Desinformationswahlkampf ist aber ein weiteres: Wenn Täuschung und Diffamierung zum gängigen Mittel der Politik werden, und zwar auch jenseits von radikalen bis extremistischen Parteien wie der AfD, dann zerstört das auf Dauer den demokratischen Diskurs. Wohin das führt, das konnte man nun tatsächlich in den USA betrachten. Es ist an den Wahlkämpfenden, diese Entwicklung im Keim zu ersticken. (Christian Stöcker, SpiegelOnline)

Die Einseitigkeit des Diffamierungswahlkampfs ist tatsächlich bemerkenswert. Ich frage mich, woher die kommt. Es gibt eine merkwürdige Beißhemmung aktuell, die sich durchaus noch drehen mag. Aber Laschet ist vermutlich auch keine sonderlich geeignete Angriffsfläche. Während man Merz mit Leichtigkeit alles Schlechte dieser Welt unterstellen kann, ist das bei Laschet deutlich schwieriger (was einmal mehr zeigt, dass seine Wahl so dumm nicht war). Vielleicht ist das auch ein CDU-Ding; man erinnere sich nur daran, wie die es geschafft haben, die ganzen Debakel der schwarz-gelben Ära ausschließlich der FDP aufzuladen. Die bot natürlich umgekehrt auch genug Angriffsfläche, anders als Lindner heute, der weitgehend auf Westerwelle'sche Klopper verzichtet, aber die CDU selbst ist da kaum Opfer. Liegt das an ihrer thematischen Leere? Ich bin echt überfragt. Auf jeden Fall machen sie es durch Ekel-Wahlkampf wett.

3) Achtung - dieser Artikel wurde im Homeoffice geschrieben (und ist trotzdem fertig)

Solange Elternzeiten für Väter und berufliche Aufstiege von Müttern misstrauisch beäugt werden, solange Überstunden als Leistung zählen und nicht die innovative Organisation eines Projekts, solange Präsenz bei Meetings wichtiger ist als Empathie für Kolleginnen und Kollegen, so lange bleibt Deutschland auch in der Bürofrage wohl eher unflexibel. Dabei müsste die Wirtschaft in digitalen Zeiten erkennen: Nicht über den Arbeitsort gewinnt sie Menschen für sich, sondern über die Art, wie Arbeit organisiert ist. Auch über die Haltung von Führungskräften. Haben sie nach der Krise, in der Angestellte nebenbei Kinder beschult und betreut, Leben neu organisiert, Ältere umsorgt und gar nicht nebenbei noch gearbeitet haben, wirklich Grund, ihren Mitarbeitenden zu misstrauen? Und es wurde ja nicht weniger gearbeitet. Im vergangenen Jahr wurden im Land fast 1,7 Milliarden Überstunden geleistet; im Schnitt mehr als die Hälfte davon unbezahlt. Während manche in unfreiwilliger Teilzeit feststeckten oder ihr Gewerbe ruhen lassen mussten, ackerten andere umso mehr. Viele Eltern mit wenig Unterstützung. [...] Die Politik muss jetzt eine Antwort geben. Eine andere als für ihre Angestellten in Berlins Behörden und der Bundestagsverwaltung. In vielen Amtsstuben herrschte in der Hochphase der Pandemie zu viel Hochbetrieb. Ja, Arbeitsergebnisse müssen geschafft, Werte geschaffen werden. Und viele wichtige Jobs können nicht zu Hause erledigt werden. Andere schon. Da ist Kontrolle gut. Vertrauen ist besser. Denn übrigens: Auch wenn dieser Artikel im Homeoffice geschrieben wurde - er ist trotzdem rechtzeitig fertig geworden. (Robert Ide, Tagesspiegel),

Die Ablehnung des Home Office durch diverse Arbeitgebende scheint mir weniger in konkreten Problemen mit Home Office per se zu liegen sondern viel mehr darin, dass damit ein empfundener Kontrollverlust einhergeht. Und auch der ist ja nur eingebildet. Denn wer tatsächlich glaubt, alle Arbeitnehmenden im Büro unter Kontrolle zu haben und deren Arbeitsoutput dadurch im Überblick zu haben, lügt sich in die Tasche. Dasselbe Phänomen haben wir ja im Unterricht auch, wo diverse Kolleg*innen sich der Illusion hingeben, die Schüler*innen im Klassenzimmer tatsächlich unter permanenter Aufsicht zu haben und deren Output und Lerneerfolg durch physische Präsenz zu erzwingen. Diese Illusion ist so furchtbar weit verbreitet, es ist zum Haare raufen.

4) Sahra Wagenknecht: "Es sollte keine Viertel geben, wo Einheimische die Minderheit sind"

In Ihrem Buch argumentieren Sie, dass dieses Wir-Gefühl in Deutschland durch Zuwanderung bedroht ist.

Wenn sie ein bestimmtes Maß überschreitet, ja. Es ist klar, dass es ein Grundrecht auf Asyl geben muss. Wenn Menschen davon bedroht sind, wegen einer falschen Äußerung für 20 Jahre in Erdogans Gefängnissen zu verschwinden, dann müssen sie in der Europäischen Union Asyl bekommen. Deutschland braucht aber eine Migrationspolitik mit Augenmaß, um die Gesellschaft nicht zu überfordern. [...]

Finden Sie, dass zuletzt zu viele Menschen nach Deutschland gekommen sind?

Ich finde, es sollte keine Stadtviertel geben, wo die Einheimischen in der Minderheit sind und es sollte keine Schulklassen geben, in denen mehr als die Hälfte der Kinder kaum Deutsch spricht. Ganz davon abgesehen, dass wir dringend Regeln brauchen, die verhindern, dass Zuwanderer in unserem Arbeitsmarkt als Lohndrücker missbraucht werden können. Es gibt eine Reihe von Branchen, in denen wären die Löhne in den zurückliegenden Jahren längst gestiegen, wenn die Unternehmen nicht immer wieder auf billige Arbeitskräfte aus dem Ausland hätten zugreifen können. So wird etwa bei Postzustellern oder Reinigungskräften ein miserables Lohnniveau verfestigt, von dem viele Menschen das Leben in einer durchschnittlichen deutschen Großstadt nicht mehr finanzieren können. [...]

Wie meinen Sie das?

International betrachtet schadet die Förderung von Migration den Herkunftsländern, weil sie tendenziell ihre besser gebildeten Arbeitskräfte verlieren. Es kommen ja nicht die Ärmsten zu uns, sondern Menschen aus der Mittelschicht. Gerade aus Afrika gibt es da immer wieder die Ansage an die Industrienationen: Ihr schadet uns! Deutschland sollte arme Länder durch eine vernünftige Handelspolitik unterstützen, statt ihnen Verträge zu diktieren, die für die lokale Wirtschaft ruinös sind. Migration, wie wir sie in den letzten Jahrzehnten hatten, vergrößert die Ungleichheit auf allen Seiten. Sie benachteiligt die armen Länder und sie benachteiligt ärmere Menschen hier in Deutschland. (Matthias Kohlmeier, web.de)

Mir wäre wirklich recht, wenn gerade jemand, der so intelligent ist wie Wagenknecht, die Begriffe "Asyl" und "Migration" trennschärfer verwenden würde, denn das ist nicht dasselbe. Deswegen verwischt auch ihre Analyse immer wieder. Das ist ziemlich schade, weil sie eigentlich ein Grunddilemma aufzeigt, das wir erst gestern im Artikel zur Klimaschutzpolitik diskutiert haben: eigentlich wäre die sinnvollste Flüchtlingspolitik jene, die die Flucht überhaupt erst unnötig macht.

Allein, politisch ist das eine praktisch wertlose Feststellung. Selbst Sahra Wagenknecht wird im Zweifel lieber Geld für deutsche als nigerianische Arbeitslose ausgeben. Es ist politisch überhaupt nicht vermittelbar, und schon gar nicht von links außen, Geld und Ressourcen in erheblichem Maße (und wir reden von erheblichen Maßen) in diese Länder zu stecken. Und da Länder, aus denen viele Menschen flüchten, ohnehin nicht stabil sind, müssten wir auch über die Bundeswehr sprechen, und spätestens da gehen bei der LINKEn die Rollläden runter.

Und deswegen passiert mit linken Ansätzen zur Flüchtlingspolitik dasselbe wie mit liberalen Ansätzen zur Klimaschutzpolitik: Die Idee ist nicht doof, aber die Botschaft kommt nicht an. An den Realitäten von Mensch und Politik zerschellen die guten Absichten. Alles, was übrig bleibt, ist, dass Sahra Wagenknecht sich gegen die aktuelle Flüchtlingspolitik positioniert. Der Rest ist Wortklimbim. Nehme ich ihr die guten Absichten ab? Vielleicht? Es spielt keine Rolle.

Denn der praktisch nutzbare Rest deckt sich mit der AfD. Die will auch "Fluchtursachen bekämpfen". Das hat sie in der richtigen Erkenntnis auf die Wahlplakate geschrieben, dass sie nie, nie, nie Taten folgen lassen muss. Da kann man sich moralisch erhaben dahinter verstecken und diejenigen kritisieren, die in der echten Politik echte Entscheidungen und Kompromisse treffen müssen. Erneut: darin gleicht sie all jenen, die vom weltweiten Zertifikathandel und der globalen CO2-Steuer schwärmen und nie in die Verlegenheit kommen werden, irgendetwas davon umsetzen zu müssen. Und in der Zwischenzeit kann man alles zerreden, was das Problem zwar nicht löst, aber wenigstens angeht.

5) Die Zuspätrevoltierenden

In Ostdeutschland wirbt die AfD erfolgreich mit dem Slogan »Vollende die Wende« und appelliert damit an das verbreitete Gefühl, hier sei 1989 etwas Erstaunliches auf den Weg gebracht worden, dann aber ins Stocken geraten und seither unabgegolten. Tatsächlich ist die ostdeutsche Revolte von 1989, die zur ersten erfolgreichen Revolution in der deutschen Geschichte hätte werden können, auf halber Strecke steckengeblieben. Die radikalen Anfangsideen, die sich nicht zur Vulgarität des Konkreten hinreißen ließen, sondern zunächst einmal nur eine utopische Spannung erzeugten, die das Gefühl nährte, alles sei möglich, diese fabelhaften Ideen von Leipzig und Berlin wurden, als die Kleinbürger aus Ost (D-Mark-Lüstlinge) und West (die mit der D-Mark im Gepäck) Lunte gerochen hatten, rasch überwältigt und im Einheitskitsch erstickt (»Wir sind ein Volk«). Es gibt also zwei Schuldige, die die Revolte scheitern ließen: die westdeutschen Parteien, die die fetten Köder ausgelegt hatten, und die Ostdeutschen, die darauf hereingefallen sind. Anfangs vollkommen unbeteiligt, taten sich die Ideengangster aus Ost und West zusammen und verübten erfolgreich Anschläge auf die politische Fantasie, so dass bald nichts mehr übrig blieb und alles bleiben konnte, wie es war. Bis heute ist das die deutsche Lage. Und dass dieses 1989 dann auch noch als erfolgreiche »Revolution« gefeiert wird, ist die größte Schmach für die Ostdeutschen, die insgeheim wissen, dass sie es sich vermasseln ließen. (Moritz Rudolph, Merkur)

Ich halte überhaupt nichts von dieser These. Tatsächlich halte ich sie für eine Art versuchter linker Dolchstoßlegende, wenngleich (glücklicherweise) sehr viel weniger erfolgreich als das Original. Die Vorstellung, es habe 1989/90 eine Stimmung oder auch nur das Potenzial für eine Art dritten Weg, eine Reform der DDR und eine Abkehr von der totalitären Planwirtschaft und der parlamentarisch eingehegten Marktwirtschaft gegeben, ist völlig fantastisch. Dieses Potenzial hat nie bestanden.

Und wir wissen, dass es nie bestanden hat. Wir haben einerseits die Meinungsumfragen, die nach dem November 1989 getätigt wurden; wir haben das Wahlergebnis der Volkskammerwahlen im März 1990, bei denen alle reformerischen Splittergrüppchen zusammengenommen nicht einmal in Spuckweite der 5%-Hürde kamen; wir haben die Bundestagswahlen 1990, die dieses Ergebnis noch einmal bestätigten.

Klar kann man sich das mit dem Dolchstoß in den Rücken, den ein sinistrer Helmut Kohl der ostdeutschen Reformbewegung verpasst habe, erklären. Nur macht es das nicht richtig. Es ist Traumtänzerei, ein "was wäre Wenn", auf einem Level mit den Nachkriegsvorstellungen der Verschwörer vom 20. Juli. Illusion. Zum Glück spielen die Vertreter*innen dieser These eine so geringe Rolle - der radikale linke Rand hat heute etwa so viel Anziehungskraft wie 1990, sprich, keine - dass abgesehen von solchen Essays in Nischenzeitschriften keine große Relevanz besteht. Das ist leider Gottes mit den rechten Mythen völlig anders.

6) Herr Drosten, woher kam dieses Virus?

Herr Drosten, in Deutschland wurden Sie mit dem NDR-Podcast «Corona­virus-Update» für viele zur ersten Informations­quelle in dieser Krise. Was hätten Sie damals, als Sie vor über einem Jahr mit dem Podcast begannen, gerne gewusst, was Sie heute wissen?
Wie die Medien funktionieren, das wusste ich damals nicht.

Was meinen Sie damit?
Was mir überhaupt nicht klar war, ist diese false balance, die entstehen kann in der Öffentlichkeit, in den Medien. Und dass man diese nur bedingt korrigieren kann.

False balance?
Dass man sagt: Okay, hier ist eine Mehrheits­meinung, die wird von hundert Wissenschaftlern vertreten. Aber dann gibt es da noch diese zwei Wissenschaftler, die eine gegenteilige These vertreten. In der medialen Präsentation aber stellt man dann einen von diesen hundert gegen einen von diesen zweien. Und dann sieht das so aus, als wäre das 50:50, ein Meinungs­konflikt. Und dann passiert das, was eigentlich das Problem daran ist, nämlich dass die Politik sagt: «Na ja, dann wird die Wahrheit in der Mitte liegen.» Das ist dieser falsche Kompromiss in der Mitte. Und das ist etwas, das ich qualitativ nicht kannte. Ich wusste nicht, dass es dieses Phänomen gibt. Ich wusste auch nicht, dass das so hartnäckig ist und sich zwangs­läufig einstellt. Das hat sich ja in praktisch allen Ländern eingestellt, dieses Problem. Alle Wissenschaftler sprechen davon. Dass ich da durch einen Podcast mitten in dieses Spannungs­feld reingerate, war mir nicht klar. (Marie-José Kolly/Angela Richter/Daniel Ryser, Republik.ch)

Ich empfehle grundsätzlich das gesamte Drosten-Interview, in dem es eigentlich hauptsächlich und sehr kompetent um Corona geht, zur Lektüre. Ich habe dazu nur wenig zu sagen außer, dass es sehr interessant ist. Der hier zitierte Ausschnitt dagegen geht die Themen dieses Blogs wesentlich mehr an. Wir kennen das false-balance-Problem aus den amerikanischen Wahlkämpfen 2016 und 2020 zur Genüge. Auch hierzulande feiert es leider immer häufiger fröhliche Urständ, je professioneller die randständigen Gruppen werden - ob Klimawandelleugnung, Querdenker*innen oder Rechtsextremisten. Sie werden einer feigen Schein-Objektivität zuliebe legitimiert und gestärkt. Die Folgen sind verheerend.

7) Wenn er weg ist

Binyamin Netanyahu, israelischer Premierminister on and off seit einem Vierteljahrhundert, autoritärer Populist, lang bevor es cool war, Mitbegründer dieses Genres und einer seiner ganz Großen, vor dessen scheinbar gegen alle Wechselfälle der Demokratie gefeiter Unverdrängbarkeit von der Macht selbst Viktor Orbán bislang in scheuer Ehrfurcht das Knie zu beugen hatte. Plötzlich weg. Abgewählt. Auf friedlichem, demokratischem Wege von der Macht entfernt. Das erste Mal in einer parlamentarischen Demokratie, dass das gelingt. Was bedeutet das? [...] Das Gegenteil von autoritärem Populismus ist nicht Demokratie, nicht Freiheit, nicht einmal notwendigerweise Rechtsstaatlichkeit – sein Gegenteil ist Pluralismus. Die Vorstellung, dass es so etwas wie politische Verschiedenheit gibt und geben kann und geben sollte, dass verschiedene politische Werte und Interessen und Präferenzen koexistieren, die einander gleichgeordnet und gleichermaßen legitime Teilnehmer am Wettbewerb um politische Macht und gleichrangige Verhandlungspartner im Ausloten von Gemeinsamkeiten beim Finden von Mehrheiten sind: das ist es, was mit autoritärem Populismus schlechthin nicht zusammengeht. Das ist es, was der autoritäre Populismus nicht aushält, wogegen er einen Kampf kämpft, der sein eigentliches Programm ausmacht. Für den autoritären Populismus gibt es nichts als Uns und Die und darf es auch nichts anderes geben. (Maximilian Steinbeis, Verfassungsblog)

Abgesehen davon, dass ich über den Abgang Netanyahus mehr als glücklich bin - trööööt, Party - kann ich das Bekenntnis Steinbeis' zum Pluralismus nur unterschreiben. Es ist das Kennzeichen der Autoritären, dass sie abweichende Meinungen nicht zulassen wollen. Dass sie nicht bereit sind, sich den Regeln des demokratischen Machtwechsels zu unterwerfen (wie Netanyahu eindrucksvoll beweist). Dass sie ihre Gegner*innen mit allen Mitteln bekämpfen. Dagegen müssen demokratisch gesinnte Menschen zusammenstehen.

8) 9/11 and 1/6

The scenario then goes like this. The Republicans win back the House and Senate in 2022, in part thanks to voter suppression. The Republican candidate in 2024 loses the popular vote by several million and the electoral vote by the margin of a few states. State legislatures, claiming fraud, alter the electoral count vote. The House and Senate accept that altered count. The losing candidate becomes the president. We no longer have "democratically elected government." And people are angry. No one is seeking to hide that this is the plan. It is right there out in the open. The prospective Republican candidates for 2024, Donald Trump, Ted Cruz, and Josh Hawley, are all running on a big lie platform. If your platform is that elections do not work, you are saying that you intend to come to power some other way. The big lie is designed not to win an election, but to discredit one. Any candidate who tells it is alienating most Americans, and preparing a minority for a scenario where fraud is claimed. This is just what Trump tried in 2020, and it led to a coup attempt in January 2021. It will be worse in January 2025. [...] In such a scenario, it is not clear what the armed forces or civil servants would do. Most likely they would fracture. An oath to defend the Constitution is hard to honor when it is unclear what it means. Both those who were stealing an election and those who were defending votes would claim that the Constitution was on their side. (Timothy Snyder)

Ich hoffe immer noch, dass wir uns zu Unrecht Sorgen machen. Aber das Beispiel Texas zeigt ziemlich deutlich, wohin die Reise der Republicans aktuell geht. Wie irgendjemand angesichts dessen, das dort gerade vor sich geht, noch der Meinung sein kann, bei dieser Partei handle es sich um Demokraten (haha, Wortspiel), ist mir völlig schleierhaft. Die GOP hat sich von der Demokratie verabschiedet, emphatisch und mit Ansage. Wenn sie die Chance bekommen, werden sie sie benutzen. Die Frage ist, ob sie sie bekommen werden. Und dafür sieht es gut aus.

9) How China escaped, and Eastern Europe was felled by, the Volcker shock

The idea the reformers had in mind was to borrow from the West, use the funds to build either import-substitution industries (as was indeed done in most of the world those days), or hard-currency-earning export-oriented production. In either case, they hoped, borrowings would pay  for itself.  [...] In addition, borrowing was politically preferable to trying to lure foreign (Western) investors. When you borrow, you obviously retain full control over the use of such money; one can choose to fulfill other objectives like to help development of poorer regions, to garner political support, or even to use the funds for consumption. With foreign investors, one is limited to accept what they like. That logic led, as is well known, all socialist countries into impasse. Their investments were inefficient, new companies became a burden. [...] China, however, avoided all of this, perhaps by sheer luck of being a late reformer and seeing where borrowing without a change in the structure of economic governance led. It escaped the Big Bang too, having come, as Weber details, three times within the hair’s breath to implementing it. Unlike the crackdown in Poland which left Jaruzelski in a limbo, the 1989 Tiananmen violence ironically shifted the energies away from political change into economic development. When Deng made his famous “Southern tour” in 1992 (which he made as, technically, a private citizen) China was ready to embrace the other way: to attract foreign and diaspora investments, to acquire foreign technology, and to emulate the East Asian “miracle” economies. The story told here is important for two reasons. First, in understanding the sources of Chinese success that were not planned, but the product of a number of serendipitous developments. Second, to make us understand that the main impetus behind the fall of communist regimes was economic. Western political scientists love to write about “freedom” and “the spirit of 1989” etc. They often do not know much about communist economics, nor do they have a grasp about how inefficient economies, and a desire to reform them using Western credits, created a powerful combustion that, rather quickly (within less than a decade), broke the back of communism. (Branko Milanovic, Global Inequality)

Es ist faszinierend, wie unterdiskutiert der Fall des Ostblocks immer noch ist. Ich habe das Gefühl, dass da eine gewisse Selbstzufriedenheit der Wendejahre einfach fortgeschrieben worden ist. So hält sich ja auch etwa das längst widerlegte Narrativ, Reagan habe die Sowjets "totgerüstet", weiterhin hartnäckig. Für das Verständnis heutiger Wirtschaftspolitik einerseits, aber auch Entwicklungs- und Außenpolitik andererseits aber ist es ja essenziell zu verstehen, was da eigentlich geschehen ist.

Denn die (richtige) Aussage, dass die östlichen Planwirtschaften nicht gerade das Gelbe vom Ei waren, ist vergleichsweise nutzlos wenn man nicht genauer hinschaut, was da eigentlich passiert ist - und gerade im Falle Chinas, wie die Transformation erfolgreich ablaufen konnte.

10) Where are the Trumpghazis?

Remember that it was the Republican House majority's spurious and endless Benghazi inquiry that uncovered former Secretary of State Hillary Clinton's email practices. The subsequent drumbeat of stories about a completely inconsequential scandal helped torpedo her favorability numbers and led the media to cover the inquiry to the exclusion of almost any other policy issue in 2016. As then-House Majority Leader Kevin McCarthy admitted in 2015, "everybody thought Hillary Clinton was unbeatable, right? But we put together a Benghazi Special Committee, a select committee. What are her numbers today? Her numbers are dropping." [...] Democrats should form a series of select committees to investigate the administration's crimes and abuses of power. [...] Perhaps Garland's DOJ is already on top of some of these things. But we're talking about a target-rich environment here, full of thieves and crooks and self-dealers who are staging an ongoing assault on American democracy and who are waiting for another chance to seize power and finish the job. Democrats can't afford to wait and see whether Garland has the time or resources to address all of these problems. As with efforts to shore up democracy through reform, they must use the power they have before it's too late. (David Faris, The Week)

Ein Großteil politischer "Skandale" sind reine Fabrikation, was schon unter normalen Umständen extrem nervig ist, aber umso schlimmer, wenn diese konstruierten Aufreger den echten Themen die Luft abschneiden. Ich bleibe aber weiterhin skeptisch darüber, ob das für Progressive funktionieren kann. Ich fürchte allerdings, dass die Antwort "ja" lautet und dass das Werfen riesiger Mengen Dreck in der Hoffnung, irgendwas würde schon kleben bleiben, auf Dauer die Strategie der Wahl wird. Wir sehen das ja gerade im Wahlkampf hierzulande auch wieder, wo eine krasse Waffenungleichheit herrscht.

11) Mal alle tief Luft holen

Skandalös und menschenverachtend, so schimpfen Kritiker, sei die Idee gewesen, minderwertige Masken unter Obdachlosen und Hartz-IV-Empfängerinnen zu verteilen. Kann man Gesundheitsminister Jens Spahn oder welcher seiner Mitarbeiter auch immer die Verantwortung für den Plan trägt, ernsthaft böse Absichten unterstellen? Welches Ziel genau hätte er damit verfolgen wollen? Gruselige Vorstellungen, wenn man den Gedanken mal bis zu Ende denkt. Wahrscheinlich war es so, dass die Masken nun einmal da waren, zwar nicht perfekt, aber nach Ansicht des fraglichen Mitarbeiters im Bundesgesundheitsministerium doch zu schade zum Wegwerfen. Ziemlich nachhaltig eigentlich. Berechtigt ist daneben die Frage, warum die Sache jetzt erst an die Öffentlichkeit kommt, wo das von der SPD geführte Arbeitsministerium offenbar schon vor Monaten die Verteilung stoppte. (Susanne Knaul, taz)

Mein Problem an dem ganzen Skandal (?) ist ein ganz anderes. Obwohl seit Tagen Meldungen die ganzen Zeitungen und TV-Sendungen hoch und runter laufen, ist immer noch völlig unklar, was genau "minderwertig" denn nun eigentlich bedeutet. Die Journalist*innen und Politiker*innen werfen mit Begrifflichkeiten um sich, ohne dass das irgendwie klar wäre. Grundsätzlich ist von "lebensgefährlich" bis "fehlt die Zertifizierung nach EU-Richtlinie 57357235/5fv" alles dabei. Wären die Masken tatsächlich irgendwie krass gefährlich (wofür mir echt die Vorstellungskraft fehlt, so falsch kann man die Dinger doch gar nicht herstellen, oder?), dann wäre die Maßnahme des Gesundheitsministeriums natürlich infam.

Aber wenn sie im Endeffekt nur den Standards des Handels beziehungsweise der Apotheken nicht genügen, dann sehe ich kein Problem damit, Obdachlose und Hartz-IV-Empfänger*innen damit zu versorgen, besonders wenn man bedenkt, dass ausgerechnet das huberthusheilige Arbeitsministerium, das den Scoop nun öffentlich gemacht hat, sich standhaft weigert, diesen Gruppen die Maskenkosten zu ersetzen.

Es macht mich kirre, wie niedrig das Niveau der Debatte hier schon wieder ist. Wir sollten nach deutlich über einem Jahr Pandemie eigentlich inzwischen so weit sein zu wissen, dass ein bisschen Schutz besser als kein Schutz ist. Masken, die nur zu 95% schützen, sind praktisch ununterscheidbar von solchen, die zu 100% schützen (gemessen am Standard irgendwelcher ohnehin arbiträrter Richtlinien). Und Masken, die nur 50% schützen, sind besser als keine Masken. Selbst Masken, die nur auf 10% kommen würden - und erneut, ich finde es schwer vorstellbar, wie man die Maskenherstellung dermaßen verkacken könnte - sind besser als keine Masken.

Kritik an Jens Spahn in allen Ehren, aber ich sehe hier einfach den Skandal nicht.

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