Für uns hier im Westen ist der Ukrainekrieg zugleich nah und fern. Nah, weil es der größte Krieg in Europa seit 1945 ist, ein verbrecherischer Angriffskrieg, der unsere eigene Sicherheit in Frage stellt. Fern, weil wir - einmal abgesehen von der Inflation - das Ganze letztlich aus derselben Distanz beobachten können, mit denen wir solche Konflikte für gewöhnlich betrachten. Allem Gerede von der Zeitenwende zum Trotz hat ein tiefer Mentalitätswechsel genauso wenig stattgefunden wie ein Politkwechsel. Der unwürdige Prozess um das Sondervermögen der Bundeswehr legt das genauso offen wie die katastrophale Beschaffungsbürokratie. Doch der Krieg lässt auch Schlüsse zu, die nicht ganz so offensichtlich sind - und allesamt nicht sonderlich angenehm.
Auf der ersten Ebene steht allerdings die eklatante Unvorbereitheit des Westens, ganz besonders aber Deutschlands. Es ist kaum eine neuartige Erkenntnis, dass die Bundeswehr nicht einmal bedingt abwehrtauglich ist. Munitionsvorräte, die kaum zwei Tage Ernstfall überstehen würden, fehlende Ersatzteile, mangelhafte Ausrüstung, fehlende Ausrüstung, kaum Großgerät - die Liste ist endlos, und das für eine Armee, deren Verteidigungsbudget nicht eben gering ist.
Aber gleichzeitig ist es auch wenig sinnvoll, dieses tote Pferd weiter in Bezug auf die Zeit vor dem Februar zu dreschen. Es gab keine politischen Mehrheiten für etwas anderes, in keiner Partei und nicht in der Bevölkerung. Die Vorstellung, dass irgendjemand, selbst wenn diese Person gewollt hätte - ob Merkel, ob sonstwer - das hätte ändern können, ist anachronistisch. Die Bundeswehr war fast 30 Jahre lang effektiv eine Friedensarmee. Sie diente nicht einmal wie im Kalten Krieg zur Abschreckung. Geld auszugeben für die Einlagerung von Munition und Gerät, das nie würde benötigt werden - wer hätte das durchsetzen sollen?
Das Auffällige ist vielmehr, dass sich das nicht grundlegend geändert hat. Sieht man sich die Debatte zum Sondervermögen an, dann ist ersichtlich, dass sich die Mentalität nicht grundlegend gewandelt hat. Neun Monate wurden mittlerweile fast komplett ungenutzt verstreichen gelassen. Die üblich langsamen deutschen Politikroutinen mahlen gewohnt langsam, und die wichtigste Debatte schien zu sein, wie das Sondervermögen rechtssicher in trockene Tücher gebracht werden könne (mit der ganzen Krückenkonstruktion um die Grundgesetzänderungen und Kapriolen um den "Kernhaushalt").
Währenddessen gingen mögliche Lieferverträge durch die Lappen und stapeln sich die Aufträge bei den Rüstungsfirmen - nur die der Alliierten, nicht der Bundeswehr. Denn die Industrie würde gerne mehr Gerät und Munition herstellen; allein, eine verbindliche Aussage Deutschlands ist nicht zu bekommen. Tiefgehender als diese Verzögerung aber ist, dass nicht zu erwarten ist, dass nach der Verabschiedung des Sondervermögens eine größere Investitionssicherheit für die Unternehmen herrschen würde: die Zeitenwende steht innenpolitisch auf wackeligen Füßen, und bereits jetzt sind die 100 Milliarden auf rund 80 Milliarden abgeschmolzen - von der weiter deutlichen Unterschreitung des 2%-Ziels ganz zu schweigen.
Die Armee bleibt daher unvorbereitet und wird das auch absehbar bleiben. Bei den europäischen Verbündeten sieht die Lage nicht sehr viel besser aus. All das aber ist nicht wirklich neu. Der Ukrainekrieg hat es nur noch deutlicher offengelegt als bislang.
Auf der zweiten Ebene steht eine Frage, die bisher vor allem als ukrainisches Phänomen diskutiert wird, aber für uns hierzulande ebenfalls von großer Bedeutung ist: die der Resilienz. Kaum ein Bericht aus der Ukraine kommt ohne die erstaunt-bewundernde Feststellung aus, dass die Moral trotz aller Entbehrungen hoch ist.
Und Entbehrungen erleidet die Bevölkerung. Die russische Terrortaktik versucht (offensichtlich ebenso vergeblich wie verbrecherisch) die ukrainische Moral durch unterschiedsloses Morden der Zivilbevölkerung zu brechen. Abgesehen von den zahlreichen Kriegsverbrechen, von denen Bucha nur das erste bekanntgewordene ist, ist der Raketen- und Drohnenbeschuss Kiews und anderer Städte sicherlich das augenfälligste Merkmal.
Das Ziel dieser Attacken ist, soweit man das sagen kann, das Ausschalten der Infrastkruktur, vor allem der Stromversorgung. Mit dieser fällt auch die Wasserversorgung, die Heizung, die Kommunikation. Es brechen Versorgungsketten weg, sterben Menschen in den Krankenhäusern wegen fehlender Behandlungsmöglichkeiten, werden Leute auf offener Straße, zuhause oder bei der Arbeit von zufälligen Attacken getötet.
Wir wissen spätestens seit den durch die Klimakrise hervorgerufenen Naturkatastrophen der letzten Jahre, wie sensibel unsere eigene Infrastruktur ist. Moderne Gesellschaften sind extrem komplex aufgebaut, und der margin of error ist gering. Unsere Verwaltungen, Infrastrukturen und Versorgungsketten sind auf maximale Effizienz ausgelegt. Analog zur Bundeswehr haben wir quasi eine Friedensverwaltung.
Sollte der Ernstfall tatsächlich eintreten, würde wie in der Ukraine mit breitflächigen Stromausfällen zu rechnen sein, mit Versorgungsschwierigkeiten, mit Chaos. Die Systeme haben eine vergleichsweise geringe Resilienz, weil diese die letzten 30 Jahre einfach keine Rolle gespielt hat. Redundanzen waren ausschließlich eins: ein ineffizienter Kostenfaktor, der wegrationalisiert werden musste. Genauso wie bei den Munitionsvorräten der Bundeswehr war es politisch unvorstellbar, für den Ernstfall, der praktisch unvorstellbar war, Kapazitäten vorzuhalten - ob im Gesundheitssystem, bei der Stromversorgung, bei Notfallrationen, Unterständen, und so weiter.
Im Kalten Krieg gab es ein feingliedriges System der Bevorratung für den Kriegsfall. Wie belastbar das tatsächlich war, haben wir dankenswerterweise nie herausgefunden. Aber bedenkt man, wie der letztjährige Test der Notfallwarnsysteme daneben ging und wie der aktuelle Test des Handywarnsystems lief - nämlich furchtbar - bekommt man einen Vorgeschmack davon, womit zu rechnen wäre, wäre man wirklich auf diese Systeme angewiesen. Auch die Flutkatastrophe im Ahrtal hat diesen Mangel an Infrastruktur deutlich offengelegt, genauso wie die Coronakrise immer noch zeigt, wie sensibel unsere Versorgungsketten sind, die auf weltweite, friedliche Kooperation angelegt sind.
Ich habe keine Ahnung, ob es realistisch möglich ist, die Resilienz unserer Infrastrukturen signifikant zu verbessern. Was mir auffällt ist aber, dass es praktisch nicht diskutiert wird. Das ist verständlich, denn die Vorstellung, solche Bevorratungen wieder einzuführen, Redunanzen aufzubauen und die Resilienz des Systems zu erhöhen würde Unsummen kosten und Ressourcen binden, in einer Zeit, in der wir eigentlich die lang verschleppte Bekämpfung des Klimawandels angehen und die ebensolang versäumte Digitalisierung nachholen müssten, alles zusätzlich zur Steigerung der Verteidigungsausgaben. Die Versäumnisse der Ära Merkel holen uns auch hier mit Macht ein.
Doch das alles ist nur Geld. Die dritte Ebene ist die für mich am verstörendsten. Denn der Krieg in der Ukraine hat nicht nur Krieg selbst wieder in den Alltag gerückt und gezeigt, dass auch 2022 nicht unvorstellbar ist, dass Soldat*innen in schlammigen Schützengräben unter Artilleriebeschuss die Stellung halten. Mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Ukraine und Russland und der Rekrutierung von breiten Teilen der Bevölkerung in aktiv kämpfende Armeen ist etwas zurückgekehrt, das westliche Armeen eigentlich seit dem Koreakrieg nicht mehr kennen: die Einbeziehung breiter Teile der Bevölkerung in aktive Kampfhandlungen (in Vietnam hatten die USA zwar noch die Wehrpflicht, zogen aber sozial diskriminierend, dass von "allgemeiner" Wehrpflicht kaum gesprochen werden kann.
Praktisch alle Staaten weltweit haben Berufsarmeen. Das ist angesichts der Komplexität der Aufgaben und Waffensysteme grundsätzlich auch sinnvoll. Wenn für die Ausbildung eines Soldaten schon im 19. Jahrhundert drei Jahre veranschlagt wurden, wie soll das heute erst aussehen? Nur, diese Zeit existiert für die Beteiligten nicht, weswegen zahlreiche kaum antrainierte Truppen an die Front geworfen werden. Sie sind dort mehr als nur warme Körper: die heftigen Kämpfe haben die professionellen Truppen stark ausgedünnt.
Die wohl verstörendste Lektion des Krieges soweit ist, dass die professionellen Truppen, egal wie gut ausgebildet und ausgerüstet sie sind, in einem ernsthaften Krieg konventioneller Truppen hohe Verluste hinnehmen müssen. Diese Verluste müssen dann wieder aufgefüllt werden, wenn die Armee einsatzfähig bleiben soll - und eine Berufsarmee hat keine sonderlich großen Kader. Bei vielen unserer Verbündeten gibt es wenigstens ein Reservistensystem aus Veteranen, auf das man zurückgreifen kann; Deutschland hat nicht einmal das. Aber auch die Reservisten reichen nicht lange aus. Ein Krieg in dem Ausmaß und der Intensität des Ukrainekriegs erfordert die Mobilisierung der Bevölkerung - und damit deren Einsatz und Tod im Feld.
Die Vorstellung, dass dies in Deutschland passieren könnte, ist jahrzehntelang völlig unvorstellbar gewesen. Aber die Ukraine zeigt deutlich, wie schnell das gehen kann. Plötzlich sind die Altersgruppen der 17- bis 40jährigen gefragt, in die Armee eingezogen zu werden und ihr Leben auf dem Schlachtfeld zu riskieren.
Auch hierauf sind wir in mehreren Dimensionen völlig unvorbereitet. Die Vorstellung, dass zehntausende von Zivilist*innen aus ihrem Leben gerissen, am Dienst an der Waffe ausgebildet und dann ins Feld geschickt werden, ist...unvorstellbar. Die Idee allein ruft kognitive Dissonanz hervor, in einem noch schlimmeren Ausmaß als ein Stromausfall wegen Raketenangriffen. Aber sie gehört zum Ernstfall ebenfalls dazu. Sollte es zu einem echten Krieg kommen, wird der Personalbestand der Bundeswehr innerhalb von Tagen erledigt sein. Kaum 180.000 Männer und Frauen befinden sich aktuell in der Armee, wovon ein großer Teil keine Kampftruppen sind.
Und die Bundeswehr hat genausowenig Kapazitäten für eine Ausbildung von Massen völlig untrainierter Wehrpflichtiger wie irgendeine andere Armee. Die Moral der Ukrainer*innen kann nicht in Zweifel stehen, aber die Berichte von Leuten, denen effektiv eine Waffe in die Hand gedrückt wurde um den Vormarsch auf Kiew abzuhalten, binden Knoten in die Magengrube. Einer der großen Effizienzgewinne der Friedensdividende seit 1990 und der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 war, dass man die riesige Ausbildungsinfrastruktur abbauen konnte. Die Bundeswehr wäre überhaupt nicht in der Lage, einen solchen Influx zu stemmen. Es gibt nicht die Ausrüstung, nicht die Kasernen, nicht die Ausbilder*innen dafür. Was solcherart eingezogene Truppen an Verlustraten erleiden würden, will man sich gar nicht ausmalen.
Vielleicht sind diese Befürchtungen übertrieben. Aber das sind die drei mehr als unangenehmen Schlüsse, die ich aus den letzten zehn Monaten ziehe. Ich bin gespannt, wie ihr das seht.
Dir gefällt, was Stefan Sasse schreibt?
Dann unterstütze Stefan Sasse jetzt direkt: