Vorsichtig buchsieren meine Schwester und ich meine 72jährige Mutter vom Messegelände in Frankfurt in die U-Bahn. Trotz Multipler Sklerose hat sie heute ihren Rollator nicht dabei, nur den Stock, denn sie war sich nicht sicher, wohin mit dem Rollator beim gerade besuchten Konzert. Die einzige Aussage, die sie je dazu bekommen hatte, war, dass sie ihn an der Garderobe abgeben müsse.
Mit den Wissen, dass man uns zum Messegelände fahren würde, ließ sie ihn also Zuhause. „Die paar Schritte“ zur Bahn auf dem Rückweg würde sie schon schaffen.
Wir fahren nach dem Konzert also per Rolltreppe zum Gleis der U-Bahn-Station Messe. Mutters linker Fuß, der bei Ermüdung besonders betroffen ist, schlurft schon etwas. Aber es sind ja nur wenige Meter. Mit der U-Bahn wollen wir zum Frankfurter Hauptbahnhof und von dort weiter mit einer S-Bahn, bis zu deren Endstation, wo wir mit dem Auto abgeholt werden.
Wir steigen am U-Bahn-Gleis am Hauptbahnhof aus und machen uns auf den Weg zu den S-Bahn-Gleisen.
Die erste Rolltreppe ist schon mal kaputt. Mutter steigt tapfer die lange Treppe runter.
Der Fuß schlappt.
Auch die zweite Rolltreppe ist entweder kaputt oder fährt nur nach oben. Auf jeden Fall steht sie und lässt sich von oben auch nicht auslösen. Wieder greift Mutter beherzt nach dem Treppengeländer und quält sich langsam nach unten.
Unten nimmt sie links den Stock und rechts meine Schwester. „Die ist größer!“ lehnte sie mich schon an der Messe ab, als ich mich anbot.
Wir schaffen es bis zum Gleis auf dem unsere Bahn fahren soll. Von der wunderschönen, digitalen Anzeige wird uns mitgeteilt, dass unser Zug den Hauptbahnhof nicht anfahren wird, sondern erst ab Rödelheim fährt. Gut, andere Züge fahren ja auch nach Rödelheim, da können wir dann einfach umsteigen. Die nächste angekündigte S-Bahn könnten wir zum Beispiel nehmen, die aber übrigens auf einem anderen Gleis abfährt.
Das ist zunächst ja auch kein Drama, aber weder die Anzeige, noch irgendein Schild in der Umgebung zeigen uns an, auf welchem verf**kten Gleis wir sind. Man sollte meinen, diese Info sei irgendwie nicht ganz unwichtig und würde sich direkt auf oder an der digitalen Anzeige vielleicht ganz gut machen, aber nein. Von dort, wo wir - und damit meine wenig mobile Mutter stehen - was übrigens Mitten auf dem Bahnsteig ist, ist eine Gleisnummer nicht zu erkennen. Zum Glück bin ich mobiler und finde die Gleisnummer geradezu winzig auf der uns abgewandten Seite einer Säule angebracht.
Und es ist der reinste Lottogewinn, sag ich euch: Natürlich ist das neue Gleis der Bahn, die wir jetzt brauchen, genau auf dem anderen Bahnsteig. Und die Bahn steht bereits da. Der einzige Weg führt wieder hoch und dann wieder runter. Ich schaue gequält auf meine Mutter, die sich inzwischen zu einer Bank geschleppt und hingesetzt hat.
Leider hegen meine Schwester und ich den Verdacht, dass auf unserem Bahnsteig überhaupt nichts mehr fährt. Die nummernlosen Anzeigen zu den beiden Gleisen an diesem Bahnsteig verweisen für jeweils den nächsten Zug auf den anderen Bahnsteig. Zwar ist auch danach je ein weiterer Zug angegeben, aber auf der Anzeige ist kein Platz vorgesehen, um anzuzeigen, ob der nächste Zug auch auf einem anderen Bahnsteig abfährt. Wenn man aber bedenkt, dass hier nur Leute rumsitzen und keine Züge vorbei kommen, wird hier wohl gar kein Zug mehr ankommen. Komme was wolle, Mutter muss ungefrachtet werden, und da man es am Frankfurter Hauptbahnhof nicht für notwendig hält, Fahrgäste über sowas zu informieren, bevor man mit einer Gehbehinderten zwei kaputte Rolltreppen überwinden muss, heißt das: rauf und wieder runter. Da wir jetzt aber über den Fernbahnhof umsiedeln können, weil wir nicht von der U-Bahn kommen, gibt es gottseidank einen Aufzug. Gut, da steht natürlich nirgendwo dran, dass der uns auch den Weg zum anderen S-Bahnsteig eröffnen wird (wer braucht schon Informationen?), aber wir kennen wenigstens den Bahnhof gut genug, um uns da ziemlich sicher zu sein.
Es dröhnt jetzt unablässig Ansagen, die uns natürlich über das informieren, was wir vor Minuten schon hätten wissen müssen - die jedoch niemandem, der Deutsch nicht von der Wiege auf gelernt hat, irgendwie verständlich sein dürften. Auf unserem Gleis fahren zwar immer noch null von allen Zügen, aber der Sprecher rattert stumpf alle zeitnahen Bahnsteigänderungen herunter, ohne zu erwähnen, dass der gesamte Bahnsteig hier „für‘n Arsch” ist. Wie zu erwarten erscheinen weitere Leute auf dem Bahnsteig - oder warten immer noch - um sich von RMV und Bahnhof enttäuschen zu lassen.
Auf der App der Bahn gibt es übrigens die nächsten S-Bahn nach Rödelheim nicht. Vermutlich, weil die S-Bahn, die von jetzt ab erst als drittes nach Rödelheim fährt, kurz vor unserem Anschlusszug dort eintrifft. Selbst die App will es wohl nicht, dass sich irgendwer mehr als absolut notwendig in Rödelheim aufhält. (Kein Problem, oder? Wir alle wissen ja, dass das mit den Anschlüssen sogar bei Störungen immer perfekt klappt und ein Zeitpuffer nicht notwendig ist.)
Wir überlegen, ob wir länger am Hauptbahnhof bleiben wollen oder uns lieber gleich in Rödelheim abstechen lassen.
Wir entscheiden uns für den gewaltsamen Tod.
Wir scheuchen Mutter aus ihrer Sitzposition und buchsieren sie zum Aufzug. Zwei Etagen hoch, langsam rüber zum anderen Aufzug, warten, zwei Etagen runter.
Die Bahn, die wir wollten, ist schon weg, aber immerhin sind wir jetzt an der richtigen Stelle für die nächsten beiden. Es rollt auch sogleich eine ein, mit dem Ziel Frankfurt Hauptbahnhof (dieser Zug endet hier!), statt der erwarteten Bahn. Und das, obwohl wir uns fast 90% sicher sind, dass wir die Gleisnummer kennen. Ersichtlich ist sie nämlich schon wieder nicht. Offiziell aussehende Menschen steigen aus, der Zug ändert vor uns die Identität. Wir fragen ob der geänderte Zug nach Rödelheim fährt. Ja, tut er.
Während einer kurzen Unterhaltung finden wir außerdem heraus, dass in den gesamten S-Bahntunneln unter Frankfurt, also von Hauptbahnhof bis Konstablerwache, bald gar nichts mehr fahren wird. Man will wohl über Nacht die kaputte Weiche reparieren, was ja auch sinnvoll ist. Gewarnt werden aber offensichtlich nur wir durch die nette Dame. Die restlichen Passagiere glauben noch an den Fahrplan.
Super, so ein bisschen Zeitdruck on top of Gehbehinderung, kaputten Rolltreppen und Gleiswechseln ist ja auch was Spannendes. Wir fragen vorsichtshalber nach, ob unsere Bahn im Anschluss auch von Rödelheim abfahren würde. Die freundliche Mitarbeiterin schaut nach und gibt uns das „Go“.
Mutter schleppt sich mehr oder weniger einfüßig in die Bahn. Ich schaue auf das Display: Dieser Zug wird erst nach unserem Anschlusszug in Rödelheim ankommen. Ich mache meine Mitreisenden darauf aufmerksam. Es ist nicht die Schuld der Mitarbeiterin - wir vermuten, sie hat den Anschlusszug eine halbe Stunde später gemeint, und uns somit 20 Minuten geschenkt, um in Rödelheim zu krepieren. Leider friert Mutter schnell, weil Blutarmut ist ja auch so ‘ne Sache und die wird ja während es Abgestochenwerdens auch noch mal schlimmer.
Planänderung: Noch werden alle Tunnelstationen außer dem Hauptbahnhof von der S-Bahn, die wir ursprünglich mal hatten nehmen wollen, angefahren. Nur der Hauptbahnhof wird ausgelassen. Am gegenüber liegenden Gleis auf dem gleichen Bahnsteig steht die S-Bahn in die Gegenrichtung. Wenn wir mit dieser zur Taunusanlage fahren, dann können wir dort in unsere S-Bahn einsteigen, statt in Rödelheim auf sie zu warten.
Als wir im Multiple-Sklerose-Schneckentempo (also mit der MSS Mama) zur anderen S-Bahn „hetzen“, ruft uns die Mitarbeiterin von vorhin noch nach, dass diese Bahn nicht nach Rödelheim fährt. Ich versuche noch, den neuen Plan irgendwie zu erklären, weil sie so besorgt aussieht, aber die Zeit reicht nicht. Mutter blockiert schon in so einer Art Mobilitätsproblem-Übertreibung die Tür des anderen Zuges. Ich springe hinein.
Wir stehen im Gang, neben uns eine zierliche Polizistin, die kaum größer als ich sein dürfte (1,55m) und ihr direkt gegenüber eine Frau mit Pupillen in extragroß. Ich bezweifle ja, das sie um diese Zeit grad vom Augenarzt kommt, aber die Polizistin scheint recht entspannt.
Wir ändern auf dem Weg zur Taunusanlage erneut den Plan, weil uns das hier unten in den S-Bahntunneln alles zu unsicher ist. Wir fahren jetzt bis Hauptwache und wollen eine U-Bahn nehmen. Den netten Freund meiner Schwester, der uns abholen soll, informieren wir, dass wir an einem anderen Bahnhof ankommen werden.
Wir steigen an der Hauptwache aus und orientieren uns Richtung U-Bahn. Tja, und was ist natürlich kaputt?
Na klar! Die verdammte Rolltreppe!
Mutter stöhnt leise, zwängt sich an dem Typen von der Bahnhofsmission vorbei, der gerade mit einem wohl obdachlosen Mann, der auf der Treppe sitzt, spricht. Neben ihm stehen zwei Frauen, eine davon mit einem dicken blauen Auge. Der Obdachlose telefoniert mit irgendwem, nirgendwo fließt Blut, aber es ist ja auch nicht Rödelheim.
Irgendwie landen wir am U-Bahn-Gleis, trotz schlurfendem-MS-Fuß und ohne Rolltreppen. Mutter sinkt auf einen Sitzplatz und wir warten ein paar Minuten auf die richtige U-Bahn. Wenn jetzt die S-Bahntunnel zwischen Konstablerwache nur Hauptbahnhof zusammenbrechen, kann uns das gar nichts mehr.
Um kurz vor halb Zwölf sind wir nach U-Bahn-Fahrt und Chauffeurdienst wieder bei Mutter. Ich bringe sie noch rein und fahre dann in mein eigenes Haus, zu meiner Katze, wo ich kurz nach Mitternacht auch eintreffe - und mir eine Standpauke abhole, weil der Kater schon wieder empört ist, dass ich nicht 24 Stunden des Tages mit ihm verbringe. Zur Strafe kommt er in mein Bett und beginnt meinen Nachttisch abzuräumen.
Als ich ihn zum dritten Mal deswegen verwarne, steigt er halb auf mein Gesicht, rutscht aus und zerkratzt mir das Kinn.
Ich wische das Blut ab und denke mir: Das ist mein Schlafzimmer, nicht Rödelheim. Das hätte also auch schlimmer kommen können.
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