"Du bist, was du denkst."

Viele Betroffene psychischer Erkrankungen fühlen sich von dieser Aussage oft angegriffen, ist es für sie doch gleichbedeutend mit "Die Schuld liegt bei dir."

Doch wer will schon Ängste haben, Panikattacken, Depressionen, etc. - das möchte niemand und bewusst würden wir uns niemals in einer Art und Weise verhalten, die zu einer solchen Erkrankung führen oder sie aufrecht erhalten würde. Und doch liegt in dieser Aussage sehr viel Wahres. Stichwort:

Das Gesetz der Anziehung.

Esoterisches Geschwurbel? Mitnichten.

Das menschliche Bewusstsein nimmt nur einen minimalen Bruchteil aller Reize wahr, mehr als 90% (manche Quellen sprechen von über 99%) registrieren wir gar nicht. Es wäre auch viel zu viel für uns,  wenn wir z. B. beim Einkaufen jedes noch so minimale Geräusch, jede kleinste Bewegung, sämtliche Gerüche, etc. unserer Umgebung bewusst erleben würden. Wir könnten auch niemals in einem Buch versinken oder irgendetwas anderes so konzentriert tun, dass wir um uns herum alles ausblenden.

Zum Glück sitzt in unserem Hirnstamm das Retikuläre Aktivierungssystem, vergleichbar mit einer hochtalentierten Chefsekretärin, die den lieben, langen Tag nichts anderes tut, als e-Mails, Telefonate, WhatsApp-Nachrichten und Vertreter dahingehend zu überprüfen, ob ein berechtigter Verdacht besteht, die Führungsetage wüsste gern darüber Bescheid oder ob sie uns lieber verleugnet und so den Rücken freihält - damit wir die Zeit und den Nerv für all das haben, was wir stattdessen unbedingt erledigt haben wollen.

Und wie sortiert sie das alles?

Sie kennt uns einfach sehr gut, sie weiß natürlich um unsere beruflichen Interessen, sie weiß aber auch, dass wir z. B. auf Hochseeangeln stehen und seit Jahrzehnten nicht mehr in die Sonne gereist sind, warum also sollte sie uns Angebote für Bustouren in die Provence weiterleiten? Oder für eine Safari durch Südafrika?

Sie erinnert sich auch sehr gut daran, dass wir den Herrn der Ringe schon zigfach gesehen haben und Mittelaltermärkte uns schwer begeistern, deshalb wird sie uns natürlich gewissenhaft informieren, sobald sie von einem ähnlich gelagerten Event erfährt.
Das Saxophonkonzert im Stadtpark, nächste Woche Mittwoch, das behält sie dagegen für sich, juckt uns eh nicht, das weiß sie genau. Ist auch besser so, wir haben ja so schon alle Hände voll zu tun. Mit Geld nicht zu bezahlen, diese Frau!

All das geschieht im Retikulären Aktivierungssystem unseres Hirnstamms.

Bin ich nun depressiv, habe ich bestimmte Ängste und Sorgen und befasse mich gedanklich mit kaum etwas anderem, ist für unser Hirn völlig klar, dass es das ist, wofür wir uns interessieren und es handelt streng nach Dienstanweisung: Oh! Da war doch mal dieses oder jenes Ereignis, da hat Cheffe sich so richtig mies gefühlt, das leg ich mir besser mindestens alle drei Tage auf Wiedervorlage, nicht, dass er es noch vergisst.

Unsere Wahrnehmung richtet sich nach unseren Interessen.

Frauen, die schon mal ein Kind bekommen haben, kennen das: Kaum haben sie erfahren, dass sie ein Baby erwarten, sehen sie überall nur noch Schwangere. Über Nacht scheint die ganze Welt Nachwuchs zu bekommen. Sowas ...

Natürlich sind es nicht mehr Schwangere geworden, es besteht nur plötzlich ein dringender und absolut berechtigter Verdacht, wir wollten möglichst alles über diese Thematik wissen und schon überwinden gefühlt sämtliche Schwangeren dieser Erde mit Leichtigkeit die Schranke zu unserem Bewusstsein.

Genauso gut können zehn Menschen ein und dieselbe Zeitung lesen, es wird immer den ein oder anderen Artikel geben, von dem irgendjemand felsenfest behauptet, er stünde nicht drin, obwohl jemand anderes genau diesen Bericht als das Highlight des ganzen Blattes bezeichnet. Gleicher Grund: Unsere Interessen sind unterschiedlich und damit auch unsere Aufmerksamkeit und Wahrnehmung.
All diese "Du bist, was du denkst"-Zitate nerven vielleicht, wenn es einem gerade mal nicht so gut geht, schieben sie die Schuld für unser Elend doch tatsächlich in unsre eigenen Schuhe, das ändert aber nichts daran, dass sie mehr Wahrheit beinhalten, als uns in solchen Phasen lieb ist.

"Aber die Welt ist ja auch echt schlecht, das wird man doch wohl noch anmerken dürfen???"

Klar. Aber Menschen mit psychischen Erkrankungen (bleiben wir einfach mal bei der Depression) neigen dazu, sich entweder zurückzuziehen und sich mit niemandem auszutauschen - sie verlieren sich in Grübeleien und Gedankenchaos - oder aber sie suchen nach Gleichgesinnten um sich auszutauschen und verstanden zu fühlen.

Für Letzteres ist das gut und wichtig, Problem an der Sache ist nur:

Häufig fehlt der Gegenpol. Sie beschäftigen sich auch nicht mehr nur mit ihren eigenen Problemen, die der anderen kommen noch hinzu, ihre Gedanken kreisen wie ein Hurrikan um ein und dasselbe Thema und die Waagschale neigt sich immer weiter ins Minus - und was macht die Chefsekretärin?

Oha! Dieser Sachverhalt scheint ja immer wichtiger zu werden, ich warte ab sofort nicht mehr nur, bis entsprechende Mails, Nachrichten oder sonst was eingehen, ich gehe am besten aktiv auf die Suche nach Informationen, die die Chefetage aktuell priorisiert.

Wir fokussieren unsere Wahrnehmung immer mehr auf all das Schlechte in uns und der Welt und können uns immer weniger vorstellen, dass es auch noch etwas anderes gibt.

Heutzutage ist dieser Mechanismus noch erheblich problematischer: Social-Media birgt eine Menge Möglichkeiten, ebenso aber auch eine Menge Gefahren. Eine davon ist die, mit dem Schatten der Depression immer mehr zu verschmelzen - und das nicht etwa, weil meine Erkrankung einfach so immer weiter fortschreitet, sondern auch, weil wir selbst unsere Gehirnstrukturen entsprechend programmieren.

Mag manch einer als Hokuspokus abtun, ist aber lediglich eine äußerst kluge Einrichtung der Natur um uns vor einer zu großen Reizüberflutung zu schützen.

Unserem Gehirn ist das völlig egal. Es kennt kein Gut oder Böse. Es kennt nur "interessant" und "uninteressant."

Wenn du betroffen bist, versuche dir irgendetwas zu suchen, was dir gut tut oder gefällt - in schweren depressiven Episoden keine leichte Aufgabe, ich weiß, deshalb ist es gerade dann nützlich, wenn du auf etwas zurückgreifen kannst, was du in besseren Zeiten vorbereitet und nun griffbereit hast.

Vielleicht ein Dankbarkeits-, Glücks-, Lächeltagebuch (nenn es, wie du willst), in das du jeden Tag irgend etwas hineinschreibst, was heute gut war. Was dich erfreut hat. Kleinkram. Die Abkühlung nach einem heißen Sommertag. Dass du es geschafft hast, dir was zu Essen zu machen. Der Film, den du gesehen hast und der richtig gut war. Der spielende Hund auf dem Nachbargrundstück. Was auch immer.

Oder ein Notfallköfferchen mit schönen, bzw. ablenkenden Dingen darin. Bilder, Rätsel, Kaugummis, Listen frühere Ereignissen, die gut für dich ausgegangen sind, Situationen, in denen du stark gehandelt hast (doch, die gibt es, sonst wärst du nicht hier), Telefonnummern von Freunden. Ganz egal.

Hauptsache, du machst deinem Hirn regelmäßig klar, dass du dich auch für solche Dinge interessierst. Deine Chefsekretärin muss wissen, dass sie dich über sowas informieren soll - und das kann sie nur, wenn du es ihr sagst. Klare Aufgabenstellung. So wichtig!

Ist das einmal erledigt, ist unser RAS vergleichbar mit einem Navi.

Wir können auch mal falsch abbiegen und verlieren dadurch evtl. etwas Zeit und Nerven, aber unser Navi bringt uns schnell wieder auf die richtige Spur. Wie es das macht, müssen wir nicht einmal genau wissen. Aber es tut es. Wenn wir das erst ein paar Mal erfahren haben, wird unser Vertrauen in "die Technik" auch größer und damit auch unsere positive Erwartungshaltung.

Abschließend will ich noch betonen, dass es hier nicht um "Tschakkaaa, du schaffst es geht", sondern lediglich um eine klare Ausrichtung, die Fehltritte mit einplant und nicht verteufelt, aber das Verständnis erfordert, dass man nicht Kartoffeln ernten kann, wenn man Karotten sät.

Oder wie Napoleon Hill es formulierte:

"Jeder kann erstaunliche Erfolge erzielen, wenn er die tiefsten Schichten seiner Psyche für sich arbeiten lässt.

Alles Liebe dir,
Eyra

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