»Ein Satz« - Zweite Vorrunde der Freiburger Poetry Slam Stadtmeisterschaften

Es gibt Sätze, die möchte man einfach nicht hören.
Opa ist tot.
Das ist so ein Satz.

Aus Gründen, die für diesen Satz nie eine Rolle spielten, dürfte ich nicht nur eine Kindheit mit drei Großelternpaaren erleben, sondern musste auch diesen einen Satz als Erwachsener drei mal hören.

»Opa ist tot.«
Als ich den Satz zum dritten Mal in meinem Leben hörte, wehte mit der Trauer auch Erleichterung heran.
Opa Hans hatte einige Monate zuvor einen Schlaganfall erlitten. Bald war klar, dass er sich davon nie wieder erholen würde. Halbseitige Lähmung. 100% pflegebedürftig.
Er war ein faszinierend vitaler, gutaussehender Mann gewesen. Er hatte Wellensittiche und Aquarien, immer einen lustigen Spruch auf den Lippen, nahm mich manchmal zum Angeln mit und wirkte noch mit über 80 wie ein Mittsechziger.
Er war der erste meiner Opas, der mir als Kind vom Krieg erzählt hatte. Er war als Wehrpflichtiger in den Afrikafeldzug geschickt worden und dort in Kriegsgefangenschaft geraten. Was er mir erzählte, bezog sich allein auf diese Zeit in der Gefangenschaft.
Lager-Geschichten von Schmuggel und Bestechung. Von Sabotagen am Steinbruch, in dem die Gefangenen Arbeitsdienst verrichten mussten. Von Strategien und Tricks, erdacht, um das Lager bis zur Entlassung so gut es irgendwie ging durchzustehen. Für mich klang all das damals mehr nach einem großen Abenteuer. Mein Opa in Afrika.
Ich hatte eine sehr kindliche Vorstellung davon, was Kriegsgefangenschaft wirklich bedeutet.

Und nun war Opa im eigenen Körper gefangen. Ohne jede Möglichkeit zu Schmuggel oder Bestechung. Und ohne jede Aussicht auf Entlassung. Irgendwann begann er, das Essen zu verweigern. Und bald darauf verspürte ich neben meiner Trauer eben auch Erleichterung über Opas gelungene Flucht, als mein Bruder mich anrief und diesen einen Satz sagte:

»Opa ist tot.«
Als ich diesen Satz zum zweiten Mal in meinem Leben hörte, traf er mich wie ein Faustschlag ins Gesicht. Opa Franz konnte nicht einfach an einem Schlaganfall sterben. Er war derjenige, der sein Treffen mit dem Tod schon früh hinter sich gebracht und sich verweigert hatte.

Ihn hatte man als jungen Mann in Ostpreußen eingezogen und in den Russlandfeldzug geschickt. Auch er geriet in Gefangenschaft. Doch seine Erzählungen klangen nicht nach Abendteuer.
Er erzählte von der erbarmungslosen Kälte Russlands. Von Barracken voller Ratten, schimmligem Brot und wässriger Suppe, deren Einlage aus dem mageren Fleisch verhungerter Pferde bestand. Und von dem, was vorher passiert war. Von der Granate, die neben ihm explodierte, dem Schrapnell, das sich schräg nach oben durch sein Bein pflügte und bis in den Bauchraum vordrang, wo es sich seit dem, im Gewebe eingekapselt, als orangengroße Kugel auf seiner Bauchdecke nach außen wölbte.
Nach seiner Heimkehrwar ein Stock sein ständiger Begleiter.Und doch ließ er sich nichts aus der Hand nehmen. Von ihm lernte ich schon früh alles, was man über Werkzeug wissen konnte. Er wirkte unzerstörbar.
Deshalb traf es mich hart, als ich meine Mutter diesen einen Satz sagen hörte:

»Opa ist tot.«
Man sollte meinen, beim ersten Mal müsste dieser Satz den größten Schmerz verursacht haben. Aber er hinterließ nur Verwirrung.
Opa Ernst war ein kleiner, unscheinbarer Mann. Er hatte ein freundliches und gütiges, sehr stilles Wesen. Er besaß einen Videorekorder und eine Sammlung aller Filme von Dick & Doof, Louis de Funès, Bud Spencer und Terence Hill. In der Kühltruhe gab es immer Eis und im Sommer spielte ich im Garten, während Opa für uns auf der Terrasse grillte. Worin er sich am deutlichsten von Opa Hans und Opa Franz unterschied, war, dass er niemals ein Wort über den Krieg verlor.

Am Vorabend des Tages, an dem ich diesen einen Satz zum ersten Mal in meinem Leben hören sollte, stand er beim Fernsehen aus seinem Sessel auf, sagte meiner Oma,er müsse nochmal weg und ging nach draußen. Er ging in die Garage, nahm eines der alten Springseile, die dort noch aus meinen Kindertagen hingen, fuhr mit dem Auto in ein nahegelegenes Wäldchen und erhängte sich dort an einem Baum.

Über zehn Jahre später, kamen Oma und ich wieder einmal auf ihn zu sprechen. Und auf die noch immer unbeantwortete Frage nach dem Warum. In einem Moment der Stille sagte sie:
»Weißt Du, manchmal denke ich, vielleicht wollte er einfach nicht noch einmal träumen.«
Ich wusste nicht, was Sie damit meinte. Und so war es meine Oma, von der ich erfahren sollte, was Opa im Krieg erlebt hatte.

Er war kurz vor Kriegsende wie viele andere tausend Jungen im Alter von 14-17 Jahren für Hitlers letztes Aufgebot eingezogen und als Mitglied der Wehrmacht zum Arbeitsdienst abgestellt worden.
»Sie haben ihn in ein Lager bei Celle geschickt», erzählte Oma mir. »Sie gaben ihm einen Karren, der von einem Esel gezogen wurde, und er musste diejenigen einsammeln, die in Nacht gestorben waren. Oder tagsüber starben. Manchmal haben sie auch Menschen erschossen. Anschließend musste er die Toten einsammeln, auf den Karren laden und hinter den Baracken auf Haufen stapeln. In jeder Nacht, in der wir ein Bett teilten, hat er von diesen Toten geträumt. Und Nacht für Nacht ist er mit einem Schrei aus diesen Träumen erwacht.«

Das Lager bei Celle war Bergen-Belsen.
Bis zur Befreiung des Lagers durch britische Truppen am 15. April 1945 starben dort mindestens 52.000 Menschen. Die meisten von ihnen auf Grund der unmenschlichen Haftbedingungen. Allein im März 1945 zählte man 18.168 Tote. Unter ihnen befand auch Anne Frank. Sie war zwei Jahre jünger als mein Opa.
Berichte schildern das Grauen des Lagergeländes. Überfüllte Baracken mit Gefangenen in allen Stadien der Auszehrung und Krankheit.  Abgemagerte menschliche Körper in verschiedenen Verwesungsstadien lagen überall im Lager verteilt oder waren hinter den Baracken zu Stapeln unterschiedlicher Höhe geschichtet.
Es war mein Opa, gerade 17 Jahre alt, der diese Stapel errichten musste. Um dann tausend und abertausendfach vom Tod zu träumen, jede Nacht, für den Rest seines Lebens.

Ich spüre heute keine Verwirrung mehr.
Opa ist tot.
Und oft bin ich einfach nur froh für ihn.



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Ihr

Benno Brockmann


Und im Übrigen bin ich der Meinung, dass der Faschist Björn Höcke bei jeder sich bietenden Gelegenheit als eben solcher benannt werden muss.

#TausendMalGesagt

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