Faszinierend finde ich Menschen, die ihr ganzes Leben einer einzigen Aufgabe widmen. Dazu gehört viel Leidenschaft aber auch viel Mut und Hartnäckigkeit. Mit Leib und Seele setzen sie ihre ganze Energie ein, um ihr Ziel zu erreichen, nicht so sehr weil sie irgendeine Belohnung erwarten, sondern vielmehr weil sie daran glauben.  Olivier Perrottet ist einer von denen. Als ein Journalist ihn mal fragte, ob er jemals an sein Projekt gezweifelt hätte, erwirderte er „wer nicht sicher ist, etwas fertig bringen zu können, sollte erst gar nicht damit anfangen“ (Si no estas seguro de poder terminar algo no empiezas)

Panorama of Miraflores Coast
Foto von Willian Justen de Vasconcellos / Unsplash

Mitte 30 wanderte er nach Peru aus. Kaum angekommen, widmete er sich sofort mit Leib und Seele der Entstehung des ersten Plans der Buslinien von Lima. Dies war der Anfang von seiner Karriere als autodidaktischer Kartographer, die sein ganzes Leben beeinflussen sollte.

Obwohl viele annehmen, dass unsere Welt heutzutage global und daher teilweise uniform geworden ist, möchte ich diese Meinung widersprechen. Ich höre Podcasts oder lese Nachrichten aus vielen Ländern und möglichst in der Originalsprache. Dabei stelle ich immer wieder fest, dass die akuten Themen meistens regional doch noch sehr unterschiedlich sind. Deswegen habe ich mir vorgenommen, die Erzählungen, die mich am meisten gefesselt haben, auf Deutsch wiederzugeben.

Heute möchte ich mit Euch die Geschichte von Olivier Perrottet teilen, ein Schweizer, der das Gesicht Limas verändert hat. Begegnet bin ich ihm Dank dem Podcast von „Radio Ambulante“

discovering the world
Foto von Xavi Cabrera / Unsplash

Eine von den ersten Erinnerungen von Olivier Perrottet ist die Karte von Marco Polos Reisen, die seine Mutter über sein Bett aufgehängt hatte. Diese Reproduktion, die bunt und voller Bilder von exotischen Tieren und wundersamen Pflanzen war, muss den 5 jährigen Basler so beeindruckt haben, dass er, mehr als 60 Jahre später, noch voller Sehnsucht davon erzählte. Als Kind liess allerdings seine eher schüchterne Art nicht unbedingt ahnen, dass er später Welterkunder werden würde. Allein, den Umzug mit seiner Familie von Basel nach Zürich, als er 7 Jahre alt war, beschreibt er als einen Schock, da die Züricher ihn als kühler und nicht so freundlich (más fría, no tan amable ) wie die Basler erschienen.

Sein Gefühl für Verortung, scheint jedoch schon in den ersten Jahren in ihn fest verankert gewesen zu sein. Kaum in Zürich angekommen, fing er an, einen Grundriss von seinem Viertel zu zeichnen. Auf diese, folgten etliche andere. Mit seinem ersten Taschengeld kaufte er sich Stadtpläne und fing an sie leidenschaftlich zu studieren.  Als junger Man wurde er dann, immer noch in Zürich, Taxifahrer. Er erzählt, wie diese Aufgabe ihn begeisterte, da er „gleichzeitig allein arbeiten konnte, aber auch vielfältige Menschen traff“. Dabei lernte er, seine Stadt richtig zu kennen und sie als „lebendiges Organismus“ zu verstehen. Schon mit 19 wurde es ihm jedoch zu langweilig und er fand Arbeit auf einem Frachtschiff, mit dem er ein Jahr lang durch die Welt reiste.

Als er daraufhin in die Schweiz zurückkehrte, stellte er schnell fest, dass er sich nach mehr sehnte. Er beschloß daher seinen Wohnort zu wechseln, um Abenteuer zu suchen. Statt jedoch finanzielle Sicherheit, oder Orten nach Sehenswürdigkeiten oder touristischen Attraktionen auszusuchen, orientierte er seine Wahl nach ganz anderen Prioritäten. Er suchte Südamerika aus, weil „die Form des Kontinentes ihm als elegant erschien", Peru weil "es am Meer (jedoch nicht am Atlantik) und mittig lag" und Lima, weil es eine Großstadt ist. Nun kam er als Junger Mann, Anfang der 70er Jahren, in diese pulsierende Metropole an, von dem er nichts wusste.

Um so wenig Vorurteile wie möglich über seine neue Heimat zu haben, hatte er weder über das Land Peru oder die Stadt Lima gelesen, noch die Sprache gelernt. Wie beeindruckend diese Großstadt ihm vorgekommen sein muß! Man stelle sich vor, wie die Intensität des Sonnenlichtes, die Hitze, das Brummen der Menschenmasse, die Gerüche von den Straßenverkäufern, die Essen verkauften, die Vielfältigkeit der Gesichter, der Überfluß an Farben, auf diesen Jungen Mann, der frisch aus der Schweiz kam, berauschend gewesen sein muss.

Kaum angekommen, nämlich schon innerhalb ein paar Tagen, hatte er eine Unterkunft und eine Stelle als Deutschlehrer beim Goethe Institut gefunden. Seine neue Beschäftigung war perfekt, da sie ihn genügend finanzielle Sicherheit bot und ihn trotzdem viel Freiheit übrig ließ, da er nämlich nur einen Tag in der Woche unterrichten musste. Manche hätten vielleicht ihre Freizeit damit ausgenutzt, die Sehenswürdigkeiten der Stadt anzuschauen oder womöglich die wunderschönen Strände genossen. Nicht aber Olivier Perrottet. Ihm waren die zahlreichen, bunten Busse, die im Stadtzentrum fuhren, aufgefallen. Er beschloß, ziellos in einem von denen einzusteigen und bis zur Endstation zu reisen.  Am nächsten Tag, wollte er die Erfahrung wiederholen, aber diesmal mit einem Plan in der Hand, um sich besser orientieren zu können. Allerdings suchte er vergebens, denn einen Plan der Bus-Routen existierte damals einfach nicht.

Das war für ihn den Ansporn selber einen zu entwerfen. Ab da verbrachte er jeden freien Tag damit, Lima mit dem Bus durchzukreuzen. Dabei notierte er der Name von jeder Haltestelle und der dazu gehörenden Strassen an der er vorbeifuhr. Dies wiederholte er pausenlos vier Monate lang, bis er alle 200 Buslinien von Lima erfasst hatte.

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Mit diesen Informationen in der Hand und viel Hartnäckigheit gelang es ihm 1975 die erste Bus-Route für die Haupstadt Peru (guìa de transporte de Lima Metropolitano) zu schaffen. Darauf folgten unter anderem ein kompletter Plan von Lima (1977), ein Reiseführer für den Cusco/Machu Picchu (1987), eine Topographie des Inka-Trails (inzwischen, der König der peruanischen Wanderwegen genannt), sowie etliche weitere Pläne von anderen Orten und Städten in Peru.

Aber Olivier Perrottet war nicht nur ein Träumer, ein Zeichner und ein Kartographer. Er war auch ein Unternehmer. Gleich Anfang 1977, gründete er seine eigene Firma, die er „Lima 2000“ nannte. Der Name allein zeigt, dass Olivier Perrottet ein Visionär war, aber der Beweis dazu lieferte er endgültig, als er schon 1995 den 1. Digital-Stadtplan von Lima herausgab, der übrigens heute noch als bevorzugte Web-Mapping-Platform der Bewohner  von Lima gilt.

Lima from above
Foto von Willian Justen de Vasconcellos / Unsplash

Man sollte aber nicht glauben, dass Perrottets Unternehmungen immer reibungslos und mühelos verliefen. Als er in Lima ankam, war diese Stadt gerade dabei extrem zu expandieren. Täglich, überschwemmten bis zu 1000 Einwanderern die Stadt und zur gleichen Zeit entstanden zahlreiche neue Vierteln. Für sein Vorhaben, eine Bus-Route zu entwerfen, gab es noch überhaupt keine Grundrisse, so dass er praktisch von Null anfangen mußte. Aber gerade diese Situation und der Gedanke, dass seine Arbeit für andere wertvoll sein würde, spornte ihn an.

Als er danach an den ersten Stadtplan von Lima arbeitete, traf er auf noch größere Probleme. Nicht nur waren die Pläne von Grundbuchamt oft nicht akkurat und teilweise nicht vollständig, sondern deren Fläche von insgesamt 10 m2 musste in der Größe einer Faltlandkarte umgesetzt werden. „Es war eine echte Knobbelaufgabe", sagte Olivier Perrottet, "eine Methode zu finden, damit keine auch nur winzige Gasse auf dem Stadtplan von Lima fehlte". Wenn man bedenkt, dass er Autodidakt und kein gelehrter Kartographer war, kann man sein Fachkönnen und seine Beharrlichtkeit nur bewundern.

Zum Vergleich, der Stadtplan von Sydney, den ich bei meiner Ankunft vor 20 Jahren benutzte, war damals nur in Form eines dicken Buches von mehr als 300 Seiten verfügbar. (Anmerkung des Autors)

Als Olivier Perrottet letztendlich mit seinen Plänen fertig war, musste er auch noch Sponsoren finden, um sie drucken und publizieren zu lassen. Allerdings stellte er fest, dass er noch vor einer letzten Hürde stand, die er nicht bedacht hatte: der kulturelle Unterschied zwischen Peruanern und Schweizern. Der Stadtplan war zwar verkaufsbereit, fand aber kaum Käufer.

Perrottet mußte erkennen, dass er etwas übersehen hatte. Zu diesem Zeitpunkt benutzten die Peruaner nämlich kaum Stadtpläne. Sie waren nicht daran gewöhnt, den Viertel in dem sie lebten zu verlassen, um die Stadt zu erkundigen und verstanden nicht einmal den Sinn eines solchen Werkzeuges. "In der Schweiz", so überlegte Perrottet, "sehen wir Pläne um jede Ecke. Wenn wir z.B. aus dem Bus aussteigen und wir den Weg nicht kennen, gibt es eine Karte vom Ort, zum Nachschauen". In Südamerika aber, fragt man einfach die Leute auf der Straße wenn man seinen Weg sucht. Er machte es also zu seiner Aufgabe „die Einwohner von Lima leicht umzuerziehen“ (educar un poco a la gente), damit sie sich an Karten gewöhnten.

Die Hinterlassenschaft von Perrottet reicht allerdings weit über seiner Arbeit als Kartographer und Geschäftsführer hinaus. Auch wenn nicht jeder seinen Namen in Lima kennt, sein stadtplan wird inzwischen täglich von millionen von Leuten benutzt. Dem Journalisten Jorge Caraballo nach, der ihn in 2017 interviewt hat, hat Perrottet “die Indentität vielen Peruanern definiert“ (ha definido la identidad de muchos Peruanos).

Perrottet reiste regelmäßig in seine alte Heimat zurück und war ein langjähriges Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Kartographie (SGK). Daher finde ich es angebracht, diesen Bericht mit der Eulogie zu beenden, die sie ihm zu Ehre schrieb, als er in 2018 im alter von 69 Jahren starb.

"Er hinterlässt eine grosse Lücke in seiner geliebten Familie und bleibt bei uns in Erinnerung durch seine Besonderheit, wo er mit seinem innovativen und kreativen Schaffen stets den Nutzen für seinen Mitmenschen in den Mittelpunkt setzte."


[i] Caraballo, J. (2017). "Un mapa para llegar a donde el diablo perdió el poncho" - Entrevista con Oliver Perrottet - Radio Ambulante. Retrieved 16 August 2021, from https://radioambulante.org/extras/entrevistaperrottet

[ii]Historia – LIMA2000. (2021). Retrieved 16 August 2021, from https://lima2000.com/historia/

[iii]Cartography in Switzerland 2011–2015. (2015). Retrieved 16 August 2021, from https://b-ok.org/

[iv]Lima 2000 – Nawi Maps. (2021). Retrieved 16 August 2021, from https://nawimaps.com/maps/lima-2000/

[v]Räber, S. (2018). Carto news. Retrieved 16 August 2021, from https://kartografie.ch/wp-content/uploads/2018/09/carto_news_2018_4.pdf

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