Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Fundstücke

1) Why Biden Is Getting More Bipartisan Laws Than Anyone Expected

To some extent, the rise in bipartisan legislating reflects a trend that has been quietly happening for several years. Beginning at the tail end of the Obama era, and continuing through the Trump era, Congress has passed a number of important bills that have flown under the radar. Simon Bazelon and Matthew Yglesias called the phenomenon “Secret Congress.” The pattern is that the two parties negotiate the bills almost entirely in private, avoiding both media attention and partisan conflict. The product of the negotiation is brought onto the floor of Congress and approved with little public notice or debate. But there is more happening during the Biden administration than a mere continuation of the Secret Congress phenomenon. The bills are bigger, and the subjects they cover are less obscure. Infrastructure is a revealing window into the change. [...] Biden also deserves some credit here. He promised during the campaign that he could turn down the temperature in Washington and that his Senate experience would make him a more effective negotiator. That has not always proven true when it comes to negotiating with his own party, but it very much has when it comes to negotiating with Republicans. Many of us dismissed Biden’s claim that he could bring the parties closer together as delusional. To an extent we didn’t expect, he’s managed to do it. (Jonathan Chait, New York Magazine)

Die Totalblockade der Obama-Ära war schon immer ein Resultat einer politischen Entscheidung, in dem Fall der Republicans. Obama war genauso wie Biden mit dem expliziten Versprechen und aufrichtigen Wunsch nach überparteilicher Zusammenarbeit angetreten. Aber Mitch McConnell hatte - durchaus korrekt - die Prämisse vertreten, dass eine Totalblockade überwiegend den Democrats angelastet werden würde. Es ging darum, den "historischen Unfall" des ersten schwarzen Präsidenten rückgängig zu machen. Einen ähnlichen Impetus gibt es für Biden nicht, der, obgleich er politisch "linker" regiert als Obama (weniger aus persönlichen Gründen als wegen der Struktur von Partei und Kongress). Und das ist eigentlich das ganze Geheimnis. Das heißt nun nicht, dass Biden keinen Anteil an dem Erfolg hätte; das ist offensichtlich ein großes Talent, das er hat (und eines, das Obama nicht hatte). Aber ohne McConnells Bereitschaft, grundsätzlich den "Secret Congress" wieder zuzulassen, würde auch Biden gegen eine Wand laufen.

2) Der verletzte Mensch

Unter der Oberfläche verletzt die vierte, die ökologische Kränkung den Menschen in einer Weise, die darüber hinausgeht, was Sigmund Freud vor hundert Jahren analysiert hat. Sie stellt alles infrage, was dem Menschen zu Stolz und Ehre gereicht, sie versieht fast alle Erzählungen mit einem Fragezeichen, die der moderne Mensch gern über sich selbst verbreitet. Angefangen vom Gang der Geschichte über den Sinn des eigenen Lebens bis hin zum Hochgefühl der individuellen Freiheit. [...] Zwar haben wir längst gelernt, dass unser Fortschreiten eben nicht immer Fortschritt bedeutet, dass Kolonialismus, Imperialismus und Kapitalismus nicht stets nur Heil bringen, sondern auch Unheil, dass Fortschritt nicht nur Himmel, sondern auch Hölle bedeuten kann. Und diese Lehren waren schwierig. Aber sie widersprechen nicht dem the best is yet to come. Die Klimakrise jedoch beginnt es zu unterminieren, eben weil sie sich mit keinerlei Heilsversprechen vereinbaren lässt. [...] Mit solchen Fragen kollabiert nicht bloß die Küchentisch-Teleologie der Familien, damit fliegt im Grunde der ganze Generationen-Deal auf, weil die Kinder die Eltern nur sehr schwer für die Welt ehren können, die sie ihnen da hinterlassen. [...] Die oft unter intellektuellen und emotionalen Mühen aus den Katastrophen und den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts gewonnene Regelkenntnis lässt uns verloren dastehen. Zum Beispiel kommt in der Klimakrise das Unheil nicht mehr aus den Untaten mächtiger verbrecherischer Individuen, sondern aus der Untätigkeit durchaus gutmeinender Politiker. (Bernd Ulrich/Fritz Engel, ZEIT)

Die Idee, die Klimakrise im Freud'schen Sinne als eine "Kränkung des Menschen" zu sehen, ist spannend. Der ganze Text ist sehr lesenswert. Die These, dass es der Klimakrise an einem Heilsversprechen fehlt, trifft ins Schwarze. Ich glaube, dass neben den großen Zeiträumen, die hier involviert sind, der Hauptgrund für die Schwierigkeit bei der politischen Mobilisierung für Gegenmaßnahmen ist. Auch, dass Untätigkeit der Kern des Übels ist und nicht irgendeine sinistre, in Uniformen gekleidete totalitaristische Truppe macht die Erfassung sehr schwer.

3) Some thoughts on the judiciary

Here's what's been filling up my Twitter feed today:

  • Democrats don't care as much about the judiciary. This is true, and yet judgeships are split pretty evenly despite Democrats holding the presidency for only nine of the past 21 years. Caring more doesn't really seem to matter that much.
  • Democrats aren't ruthless enough. Mitch McConnell's refusal to hold hearings for Merrick Garland was surely a new level of ruthlessness. But when Republicans continually blocked Democratic nominees in 2013, Harry Reid nuked the filibuster. I'm not so sure Democrats lack ruthlessness.
  • We have to expand the Court. Sure, except we don't have 50 votes to do it. This is just pointless jibber jabber at the moment.

Here's what I'm not hearing:

We need to do whatever it takes to keep control of the Senate. Like it or not, this means moderating some progressive views in order to win seats in purplish states. We don't seem willing to do that.

More of us should have voted for Hillary. I don't care if she doesn't quite tick all your boxes. If there had been less Hillary loathing among liberals she would have won the presidency and the Supreme Court would currently be majority Democratic.

We are now paying the price of not doing these things. You can carry your AR-15 openly anywhere you want. The government can't mandate COVID vaccinations in the workplace. Women in red states have lost control over their own bodies. And God only knows what's next. (Kevin Drum, Jabberwocky)

Ich stimme Kevin Drum absolut zu; seine Einschätzungen zur Revision von Roe v Wade (hier, hier und hier) decken sich generell mit meinen Ansichten. Ich will hier vor allem darauf hinweisen, die dumm der Diskurs auf der Linken gerade ist. Die Analyse dessen, was da vor sich geht, ist furchtbar defizitär und führt in völlig falsche Richtungen. Die Progressiven haben die Debatte schlicht verkackt, das kann man gar nicht anders sagen. Die Konservativen haben 40 Jahre lang methodische Basisarbeit und Lobbying betrieben und ernten jetzt die Früchte.

Ich will besonders auf den zweiten Punkt hinweisen, den man nicht hört: die Wahl von 2016 bleibt das größte Eigentor, das die Progressiven sich geschossen haben. Es ist dieselbe Geschichte wie 2000: die Eitelkeit einiger Leute, die ihre Prinzipien nicht ausreichend vertreten sahen und sich in eine falsche "es ändert eh nichts"-Haltung redeten beziehungsweise der Überzeugung waren, dass die Wahl von Ralph Nader oder Jill Stein irgendwie sinnvoll wäre, hatte riesige Konsequenzen.

4) Robert, Alter, rück die 50 Euro raus!

Das ist ein überhebliches Statement des Grünen-Ministers, dessen Parteikollegen und Wähler meist aus dem gut situierten Bürgertum kommen, in dem die Kostenerhöhungen kaum eine Rolle spielen. Im selben Interview erklärte Habeck noch, wie viel Prozent Energie man einsparen könne, wenn man Wohnräume weniger stark heize. Doch schon jetzt heizen viele Menschen, die knapp über der Bedürftigkeitsgrenze liegen, kaum noch, oder nur in einzelnen Räumen. In vielen schlecht isolierten oder schimmelanfälligen Gebäuden lassen sich kaum Heizkosten einsparen. Viele arme Menschen können gar nicht die Sparziele erfüllen, die für eine Prämie notwendig sind. Und dass viele Studenten und Rentner nicht einmal die 300 Euro Energiepauschale bekommen, macht Habecks Erwartungshaltung an die Bevölkerung doppelt zynisch. Besser wäre es, der Staat würde die Heizkosten – ähnlich wie bei Hartz IV – für eine breitere Zahl einkommensschwacher Menschen komplett übernehmen. Doch das schwebt Habeck nicht vor.[...] Und wenn er möchte, dass man beispielsweise mit neuen Duschköpfen Warmwasser einspart, müsste der Minister aus der Agenda-2010-Partei Bündnis 90/Die Grünen erklären, wie Menschen, die mit Hartz IV am Existenzminimum leben, solche Ausgaben finanzieren sollen. (Jörg Wilamasena, Welt)

Ich hab das schon mal in einem Vermischten angesprochen: Habecks Kommunikationsstil kommt gerade wahnsinnig gut an, aber das liegt nicht daran, dass der irgendwie sui generis überlegen wäre. Wie der oben verlinkte Artikel zeigt, kann man den Kommunikationsstil auch in der Luft zerreißen und total zum Kotzen finden. Wie das die Mehrheit, vor allem die der Meinungsbildenden, letztendlich beurteilt ist praktisch nicht vorherzusehen. Nach 16 Jahren Merkel steht die "klare Kante" offensichtlich wieder etwas im Kurs, aber ich darf daran erinner, dass Kurt Beck etwa damals gar nicht so sehr damit ankam, und Franz Müntefering gelang es auch nicht wirklich, das durchzubringen. Letztlich ist das schon ein wenig willkürlich, und man kann als Politiker*in nur darauf hoffen, dass der eigene Stil sich entweder durchsetzt (siehe Merkel) oder halt in die Zeit passt.

5) Schöpfung statt Freiheit

Es ist ein Sieg der religiösen Rechten und Erzkonservativen im Land. Die Evangelikalen setzen die Schöpfung über die Evolution und vertreten in gesellschaftlichen Fragen extrem konservative Haltungen. Sie haben das getan, was Falwell eingefordert hat. Sie sind drangeblieben. Sie haben ihre Botschaft niemals aufgegeben, haben finanzielle und moralische Wahlkampfunterstützung für Politikerinnen und Politiker daran gekoppelt, dass diese in ihrer Entscheidung zwischen Pro-Life und Pro-Choice nur eine einzige kompromisslose Antwort geben durften. Diese ideologische Arbeit für die Rechte begann direkt nach dem Sieg der Pro-Choicer vor dem Supreme Court mit Roe v. Wade 1973. Bei der Präsidentschaftswahl 1980 gewann Ronald Reagan deutlich gegen Jimmy Carter, er brauchte nicht einmal die Stimmen der Rechtsaußenkonservativen, auch wenn seine Botschaft – Make America Great Again – mit auf sie abzielte. Im Schatten von Reagans ungefährdetem Sieg passierte noch etwas anderes: Im Senat verloren zwölf demokratische Senatoren ihre Sitze an Konservative mit eindeutiger Antischwangerschaftsabbruchhaltung, womit die Republikaner das erste Mal seit den Fünfzigerjahren wieder die Kontrolle über die Kammer bekamen. "Dranbleiben, dranbleiben, dranbleiben." Alle konservativen US-Präsidenten seit Reagan waren Schwangerschaftsabbruchgegner: George H. W. Bush, George W. Bush und Donald Trump. (Rieke Havertz, ZEIT)

So sehr ich dem Artikel grundsätzlich zustimme, so sehr muss ich doch gegen eine Legende gegendrücken, die er leider reproduziert und die ich hier in den Kommentaren auch schon öfter gelesen habe: Die Idee, dass Roe v Wade 1973 zu einer polarisierenden Gegenreaktion führte, ist falsch. Die Southern Baptist Convention, die relevanteste Vertretung der Evangelikalen, hatte 1973 kein Problem mit Abtreibung. Tatsächlich betrachteten sie das als ein Thema der Katholiken und machten sich eher darüber lustig. Erst gegen Ende der 1970er Jahre begannen politische Organisator*innen auf der evangelikalen Rechten gegen Abtreibungen mobil zu machen, weil sie das Langzeitpotenzial des Themas erkannten.

Tatsächlich war das entscheidende Thema für den Aufstieg der "Rechtsaußenkonservativen" nicht die Abtreibung, sondern die Desegregation der 1960er Jahre, die dieser Artikel von Politico ausführlich darlegt. Die massive Mobilisierung evangelikaler Wählender gelang über diese Themen. Nicht umsonst hatte Reagan damit seinen Wahlkampf 1979/80 bestritten und nicht mit Abtreibung, die damals überhaupt keine Rolle spielte. Die Rechtsaußenkonservativen waren für Reagans Sieg auch, anders als der Artikel behauptet, entscheidend, schon allein, weil sie gegen Carter mobilisierten - der als Evangelikaler noch 1976 eine Mehrheit in diesen Schichten gewonnen hatte.

6) What Happens When American Children Learn About Racism?

First and foremost, Nelsen found that, compared to students who read the more traditional history text, students of all racial backgrounds benefitted from reading the more critical text. Latino and Black youth, for instance, reported a greater willingness to participate in acts of political engagement and were also more willing to express their views on a variety of issues. In another work, Nelsen also found that white students reported a greater appreciation for the contributions that Black, Latino and Asian Americans have made to American society. Political scientists are not the only ones finding results like this. Nelsen’s findings are consistent with a larger body of research conducted by a team of psychologists from Northwestern University, the University of Georgia and the University of Vermont. In their recent review of the literature on this topic, psychologist Sylvia Perry and her colleagues noted that teaching children about racism can actually increase the empathy they have for members of other groups, as well as their concerns about systemic racism. (Neil Lewis Jr., 538)

Es ist sehr schön zu lesen, dass der Unterricht beziehungsweise die Thematisierung im Unterricht tatsächlich positive Effekte haben. Gleichzeitig zeigt es ein strategisches Rational der Republicans im inszenierten Kampf gegen den Unterricht dieser Inhalte: gerade weil es funktioniert, ist es für sie gefährlich. Ich denke weiterhin, dass die Mobilisierung der eigenen Basis und die Identitätspolitik die relevanteren Motivationsgründe für diese Politik sind, aber es ist nicht zu verachten, dass es auch ihren gesellschaftspolitischen Zielen entgegenkommt.

7) Die Sprengkraft der Kartoffel

Um das zu verstehen, müssen wir uns vergegenwärtigen, wie Privilegien und Diskriminierung zusammenhängen. Der erste Schritt einer Diskriminierung besteht darin, die Gesellschaft in zwei Gruppen aufzuteilen – etwa aufgrund bestimmter äußerer Merkmale wie Haar- oder Hautfarbe oder aufgrund diffuser Zuschreibungen wie "Migrationshintergrund". Der zweite Schritt besteht darin, diesen Gruppen Eigenschaften zu unterstellen, die mit der ursprünglichen Unterscheidung nichts zu tun haben – etwa Unterschiede in der Leistungsbereitschaft, der Intelligenz oder der Neigung zu Gewalt und Kriminalität. Im dritten und entscheidenden Schritt wird die Gruppe, die die Unterscheidung getroffen und der anderen Gruppe die negativen Eigenschaften zugeschrieben hat, dann als Gruppe unsichtbar gemacht. Sie wird aufgelöst in lauter Individuen, die dann auch nur an ihren individuellen Eigenschaften und Leistungen gemessen werden, denen also nicht schon aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit mit einer bestimmten Einstellung begegnet wird und die nicht für das (tatsächliche oder angebliche) Fehlverhalten anderer Mitglieder ihrer Gruppe in Haftung genommen werden. Diese Unsichtbarkeit als Gruppe, diese Selbstverständlichkeit, ohne Vorurteile als Individuum wahrgenommen zu werden, ist das Privileg, auf das Ataman in ihrer Kolumne hinweist. Das Wort "Kartoffel" ist nicht deshalb verletzend, weil es Deutsche ohne Migrationshintergrund diskriminiert – das kann es schon deshalb nicht, weil es keine herabwürdigenden Vorurteile gegen diese Gruppe gibt. Es ist verletzend, weil es diejenigen, die mit diesem Wort bezeichnet werden (oder auch nur bezeichnet werden könnten), dazu zwingt, sich zur Abwechslung überhaupt einmal als Mitglied einer Gruppe zu verstehen. (Anatol Stefanowitsch, ZEIT)

Ich stimme Stefanowitsch in dem, was er schreibt, völlig zu, will aber ein Nebenthema herausgreifen, das mir von progressiver Seite mit arg schnödem Händwedeln beiseitegewischt wird: "Kartoffel" mag zwar keine Diskriminierung darstellen, weil ich als alman grundsätzlich nicht von Minderheiten diskriminiert werden kann (aus den von Stefanowitsch gut dargestellten Gründen); gleichwohl ist es einerseits eine Beleidigung, die ich nicht hinnehmen muss, und andererseits Ausdruck eines insgesamt der Integration nicht sonderlich fördernden Abgrenzungsdenkens. Dass die geifernden Kommentare vieler Konservativer, die einen "Rassismus gegen Weiße" postulieren, Blödsinn sind, ändert wenig daran, dass der Gebrauch solcher Begriffe nicht besonders cool ist.

8) The Supreme Court rulings represent the tyranny of the minority

Now, the Supreme Court has no obligation to follow the popular will. It is charged with safeguarding the Constitution. But it is hard for any disinterested observer to have any faith in what the right-wing justices are doing. They are not acting very conservatively in overturning an abortion ruling (Roe v. Wade) that is 49 years old and a New York state gun-control statute that is 109 years old. In both cases, the justices rely on dubious readings of legal history that have been challenged by many scholars to overturn what had been settled law. Conservatives can plausibly argue that liberal justices invented a constitutional right to abortion, but how is that different from what conservative justices have done in inventing an individual right to carry guns that is also nowhere to be found in the Constitution? The Supreme Court did not recognize an individual right to bear arms until 2008 — 217 years after the Second Amendment was enacted expressly to protect “well-regulated” state militia. The Second Amendment hasn’t changed over the centuries, but the composition of the court has. The majority conveniently favors state’s rights on abortion but not on guns. It is obvious that the conservative justices (who are presumably antiabortion rights and pro-gun rights) are simply enacting their personal preferences, just as liberal justices (who are presumably pro-choice and pro-gun control) do. (Max Boot, Washington Post)

Eine ähnliche Kritik ist auch von Adam Serwer im Atlantic zu lesen. Generell scheint sich das Bild des SCOTUS bei vielen Moderaten durch die Entscheidung grundlegend gewandelt zu haben. Wie verbreitet und nachhaltig das tatsächlich ist, wird sich zeigen, aber das offensichtliche Belogen-werden von den Konservativen (man denke nur an Kavanaughs unzählige Versicherungen während seiner Anhörungen, er werde keinesfalls Roe v Wade overturnen) hat glaube ich schon was kaputt gemacht.

Ansonsten ist das hier ziemlich deckungsgleich mit meinem eigenen Argument: der "Originalismus" ist nichts als miese Geschichtswissenschaft, eine Soße, die über die eigenen Vorlieben gekippt wird, um zu verschleiern, dass man halt höchstrichterlich durchsetzt, wovon man immer schon überzeugt war. Wenn es nach dem Willen der Founders ginge, würden Leute wie Scalia oder Alito ohnehin nicht im SCOTUS sitzen; für die Gründergeneration waren Katholiken in Machtpositionen generell unvorstellbar - von Schwarzen, Juden oder Latinos einmal ganz abgesehen. Allein das sollte eigentlich ausreichen, um diese Argumente völlig zu diskreditieren.

Offensichtlich hat sich die Gesellschaft weiterentwickelt. Bedenkt man, dass die Founder ursprünglich ein Verfallsdatum von 15-30 Jahren diskutierten, um nachfolgende Generationen nicht zu binden und dann als praktikablere Variante die Möglichkeit der Verfassungsänderung erfanden, sieht man einmal mehr, wie ahistorisch diese ganze Idee ist. Da ist mir die Ehrlichkeit der Progressiven wesentlich lieber. Die sagen wenigstens offen, dass sie die Auslegung in ihrem Sinne ändern wollen.

9) Wie erinnerungswürdig ist der Kommunismus? Zur geplanten Rekonstruktion des Revolutionsdenkmals von Mies van der Rohe

Interessant ist nun, dass in jüngster Zeit die Rekonstruktion eines den Opfern des 15. Januar 1919 gewidmeten Revolutionsdenkmals auf dem Berliner Zentralfriedhof Friedrichsfelde in Erwägung gezogen wird. Während andernorts Erinnerungen an den Kommunismus getilgt werden, soll das 1926 von Ludwig Mies van der Rohe gestaltete Denkmal auf dem Friedhof wiedererrichtet werden. [...] Dass der Kommunismus erinnerungswürdig ist, sollte unbestritten sein. Eine Idee, die Millionen Menschen in ihren Bann geschlagen und mobilisiert hat, und eine machtvolle Bewegung, die zugleich Millionen Menschen auf dem Gewissen hat, sind schwerlich zu ignorieren. Es geht darum, wie man ohne die lange vorherrschende Hagiografie und Mystifizierung auskommt und die von den Gegnern und Feinden betriebene Propaganda vermeidet. Es bleibt das Spannungsverhältnis zwischen einem auf humanistischen Kategorien aufbauenden Menschenbild und diesen völlig zuwiderlaufenden Praktiken, die an jedem Ort eines „realexistierenden Sozialismus“ aufgetreten sind. Gegenüber der menschlichen Mitwelt wie der natürlichen Umwelt hält der Kommunismus strukturell eine mindestens autoritär-pädagogische, schlimmstenfalls menschenverachtende und naturzerstörerische Hierarchie aufrecht, die ihn zu einem historischen Relikt des 20. Jahrhunderts absinken ließ. Die Kernideen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität, die der Kommunismus von den bürgerlichen Revolutionen geerbt hat, um sie aus dem Reich der Ideen in die soziale Welt zu übersetzen, sind damit nicht obsolet. [...] Was ist also „Kommunismus“, dieses Gespenst, das einst in Europa und der Welt umging, heute: ein antiquarisches Studienobjekt, „nur so eine (in Schönheit gestorbene) Idee“? Oder das Monster, das für immer mit dem GULag assoziiert bleibt? Ein Untoter, der immer wieder idealistische Begeisterung hervorruft? Oder ein Mutant, der gerade die Gestalt des russischen Imperialismus angenommen hat? Von allem etwas wohl. Doch wie sagte Christian Semler, 68er, ex-KPD/AO und graue Eminenz der taz, gerne: Kein Kommunismus ist auch keine Lösung. (Claus Leggewie, Geschichte der Gegenwart)

Tatsächlich ist der vorliegende Fall ein schwieriges Thema, weil es gleichzeitig um Mies van der Rohe und um Opfer rechten Terrors geht, aber grundsätzlich gibt es in meinen Augen wenig Notwendigkeit, Denkmäler für den Kommunismus aufzustellen. Würden Stalinmonumente und ähnlicher Quatsch noch bestehen, müssten die auch abgebaut werden, zumindest aus meiner Sicht. Auf der anderen Seite haben wir alte Hohenzollernpracht wieder aufgebaut, und das ist mindestens genauso bescheuert wie die Rekonstruktion kommunistischer Denkmäler. Wenn wir schon Blödsinn machen, dann bitte nach allen Seiten gleich.

10) Wir müssen aufhören, auf diese Leute zu hören

Ab da aber ging es bergab, was viel mit den Aktivitäten der FDP-Wirtschaftsminister Rainer Brüderle und Philipp Rösler zu tun hat. Dabei sprach gerade Rösler oft und gern davon, dass er den Ausbau der Windenergie »vorantreiben« wollte. Das Gegenteil trat ein. Und die bis dahin boomende heimische Solarbranche wurde, nicht zuletzt durch eine von Rösler und Norbert Röttgen (CDU) durchgesetzte Kürzung der Förderung, fast vollständig vernichtet. Heute könnten wir die damals zerstörten Kapazitäten gut brauchen. Zur Einordnung: Im Braunkohlebergbau arbeiteten in Deutschland 2011 noch knapp 23.000 Menschen, 2021 waren es noch knapp 18.000. Im Bereich erneuerbare Energien verschwanden im gleichen Zeitraum mehr als 70.000 Arbeitsplätze (zwischenzeitlich waren es sogar mehr als 100.000, aber seit 2019 hat sich die Branche leicht erholt). Während also ein Häuflein Vergangenheitsarbeitsplätze zugunsten der jährlich milliardenschwere Schäden anrichtenden Erlösmodelle von RWE, Leag und Co. geschützt wurden, radierte man parallel Zehntausende Zukunftsarbeitsplätze, die uns aus der Abhängigkeit von Öl, Kohle und Gas hätten befreien können, aus. Das ist das wahre Erbe der Ära Merkel, so bitter das klingt. [...] Die Tatsache, dass die gegenwärtig wirtschafts- und energiepolitisch doppelt bedrohliche Lage Deutschlands sich auf konkretes politisches Handeln konkreter Schuldiger zurückführen lässt, ist in meinen Augen längst noch nicht ausreichend aufgearbeitet. Das Gleiche gilt für die Tatsache, dass die Lobbyistinnen und Lobbyisten, auf deren irregeleitete Ratschläge die Politik all die Jahre gehört hat, weiterhin als ernstzunehmende Gesprächspartner behandelt werden. [...] Um ihre sehr speziellen Ziele zu erreichen, haben die Vertreter vieler Branchen jahrzehntelang gelogen, manipuliert, verzerrt, geschmeichelt und mit lukrativen Jobs für Leute aus der Politik gelockt. Das völlig verzerrte Bild der Arbeitsplätze in den Energiebranchen, das hierzulande noch immer vorherrscht, ist ein hervorragendes Beispiel, der Umgang mit dem Dieselskandal ein zweites. (Christian Stöcker, SpiegelOnline)

Ich finde, dass Stöckers Lobbyismusfeindlichkeit etwas über das Ziel hinausschießt, aber ich bin absolut bei ihm, wo er die Hauptverantwortung für dieses Desaster den Merkel-Kabinetten anlastet. Sie waren es, die die furchtbare Verhinderungs- und teilweise sogar Zerstörungspolitik betrieben haben. Auch der Hinweis darauf, dass der größte Kladderadatsch mit Schwarz-Gelb 2009 begann, ist absolut treffsicher. Etwas zu gut kommt mir in diesen Analysen immer die SPD weg. Die hat sich nämlich seit 2013 nicht eben mit Ruhm bekleckert und ist fast genauso schlimm wie die CDU. Plenty of blame to go around.

Resterampe

a) Ein Nachtrag zu Fundstück 5 aus dem letzten Vermischten ist diese Kritik Kevin Drums an progressiven Organisationen. Die Kritik scheint mir durchaus berechtigt, aber die Idee, das sei in konservativen Organisationen anders, ist lächerlich. Was diese Kritiken alle nicht beantworten ist die Frage, warum es für die eine politische Bewegung vernichtend ist und für die andere effektfrei.

b) Steuersenkungspartei Grüne.

c) Gerade macht diese Recherche des Intercept die Runde, in der die internen Querelen progressiver Aktionen und Woke-Exzesse dargestellt werden. Meine Frage ist dieselbe wie in a): die Konservativen erzwingen seit Jahren eine noch viel größere ideologische Konformität und säubern ihre Organisationen erbarmungslos von allen Abweichlern. Was ist der Unterschied? Dass die Linken es öffentlicher tun, chaotischer?

d) Auto-Ideologie, Beispiel 23252352

e) Wenig überraschend: Lüftungssysteme helfen massiv gegen Covid-Infektionen. Aber warum sollte man etwas tun, um Schüler*innen und Lehrkräfte zu schützen...

f) Dieses Beispiel für Fake News dürfte Wächter gefallen.

g) Varwicks Versuch, sich als Opfer von Cancel Culture zu gerieren, ist so unglaublich lächerlich.

h) Klaus Stöhrs Ernennung lässt Übles ahnen.

i) Apple hat nachgewiesenermaßen mit Patches die Performance und Akkuleistung älterer Smartphones heruntergerregelt. Krimineller Scheißladen.

j) Lektionen von Watergate.

k) Kann man mal zur Abwechslung was Positives zu Elon Musk sagen. Und zur Bundeswehr.

l) Das US-Gesundheitssystem ist einfach beknackt.

m) Noch mal Kritik an der deutschen Ostpolitik-Nostalgie.

n) Mir ist völlig unklar was SPD und Grüne da treiben und bin völlig bei der FDP.

o) Was für eine Absurdität diese Stellenanzeige ist.

p) Wenig überraschend führt Vaping zu höherem Nikotingebrauch.

q) Lindners Kritik am grünen Steuerkonzept ist hanebüchener Quatsch, sagt das Handelsblatt.

r) Spannender Thread von einem Experten über Lieferkettenprobleme.

s) Peak Gaming Journalismus.

t) Der Umgang mit Vergewaltigungsopfern bleibt eine absolute Schande.

u) Die Republicans werden es wieder tun.

v) So wahr bezüglich der Unterschiede von links und rechts. Wenngleich es etwas zu undifferenziert ist.

w) Spannender Thread über die verpassten Chancen von EU-Politik in den 2000er Jahren.

x) Der Subtext wird Text.

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