Der Wahlkampf 2025 hat mit dem Moment begonnen, als Olaf Scholz vor die Kameras trat, um die Entlassung Christian Lindners zu verkünden. Das Drama um den Zeitpunkt der Vertrauensfrage und den Wahltermin hatte auch den Hintergrund, dass relativ klar war, dass über Weihnachten und Neujahr wenig Weltbewegendes zu erwarten ist und man im Januar in die eigentliche heiße Phase starten wird. Das sind eine Menge Worte um zu sagen, dass dieser Artikel eine eher kurze Halbwertszeit haben dürfte - zu unklar ist, wie sich die Lage im neuen Jahr entwickeln wird. Trotzdem handelt es sich um eine Gelegenheit, die sich abzeichnende Strategie der Parteien unter die Lupe zu nehmen und einige Prognosen zu wagen beziehungsweise festzustellen, wo solche sich schlicht nicht machen lassen.

Die CDU. Friedrich Merz und seine CDU ist der absolute Platzhirsch bei den anstehenden Wahlen. Sie rangiert in den Umfragen stabil in den niedrigen 30ern, was mittlerweile auch stetig genug ist, um eine Art natürlichen Regierungsanspruch zu stellen. Tatsächlich wirkt es oft so, als sei die CDU als Kanzlerpartei bereits gesetzt. Allerdings ist diese Stärke auch eine potenzielle Quelle von Schwäche: Selbstzufriedenheit kann dazu führen, dass die eigenen Anhänger*innen weniger motiviert sind und die Wahlbeteiligung relativ zur Konkurrenz geringer ist.

Der CDU gelang es, sich in den vergangenen drei Jahren als vorherrschende Oppositionspartei zu inszenieren und damit einen doppelten Zug zu vollziehen. Einerseits machte sie die innere Unruhe in der Partei über und die Ermüdung in Teilen der Bevölkerung mit der Merkel-Kanzlerschaft völlig vergessen. Jens Spahn kann sich heute ohne rot zu werden hinstellen und verkünden, dass Deutschland einen Neustart brauche, weil die Politik der Vergangenheit ein Irrweg sei, ganz so, als sei diese Politik ohne ihn und die CDU entstanden. Aber das war schon immer der Prärogativ der Opposition. Man muss auch in der Lage sein, diesen zu verwandeln. Merz gelingt das bislang, wo etwa Steinbrück 2013 krachend scheiterte. Der andere Teil des Zugs ist es, als Alternative zu erscheinen.

Das gelingt der CDU trotz - oder wegen - ihrer üblichen programmatischen Dürre. Es war schon immer einer der größten Vorteile der Partei, dass sich niemand für ihr Programm interessiert und dass an der Regierung zu sein für sie, anders als für die anderen Parteien, üblicherweise als Endzweck ausreicht. Was die CDU nun als Programm veröffentlicht hat, ist unseriöses Wahlkampfklimbim. Hundert Milliarden völlig ungedeckte Haushaltslücke? Wen interessiert das bei einer Partei, die ihr eigenes Geschwätz von gestern bekanntlich auch nicht interessiert? Ein Hundertstel dieses Betrags gälte bei anderen als Beleg unseriöser Haushaltspolitik. Bei der CDU ist es kein Problem. Das sind Pfunde, mit denen man wuchern kann.

Die Partei hat aber auch ein Problem: ihren Spitzenkandidaten. Merz kann theoretisch mit einer Erzählung aufwarten, die in Deutschland selten ist: jemand, der es in der "freien Wirtschaft" zu Wohlstand und Erfolg gebracht hat, der nicht mehr ins Amt müsste und der es quasi aus Verantwortungsgefühl tut. Auch bringt er den notwendigen unbedingten Willen zur Macht mit. Gleichzeitig aber hat er eine offene Flanke, weil er sein Geld effektiv durch Versilbern seiner politischen Kontakte und die Arbeit bei einer Investmentfirma erworben hat. Ob die SPD das wird ausnutzen können bleibt abzuwarten; dazu entschlossen ist sie allemal. Dazu kommt, dass er zu impulsiven Ausbrüchen neigt und seine gesellschaftspolitischen Positionen in den 1980er Jahren steckengeblieben sind.

Eine weitere Schwäche für die CDU ist ihre Schwesterpartei. Markus Söder hat schon 2021 keine Gelegenheit verstreichen lassen, zur Pflege des eigenen Egos den CDU-Kanzlerkandidaten zu demontieren; er lässt auch bisher wenig solcher Gelegenheiten aus. Seine ständigen Querschüsse dürften der Partei noch einiges Kopfzerbrechen bereiten. Auch intern ist sie nicht geeint: besonders die erfolgreichsten Ministerpräsidenten, Wüst und Günther, stellen sich gegen die Strategie, die Grünen als Hauptgegner auszumachen, während die bedrängten Ministerpräsidenten aus Neufünfland die CDU beständig nach rechts zu drängen versuchen. Gelingt es der CDU, diese Flügel alle unter sich zu vereinen, hat sie ein breites Zelt und kann sogar die 40% anpeilen. Gelingt es ihr nicht, bleibt sie zerrissen und irrlichtert in Richtung der 20% zurück.

Dazu trägt auch die Migrationsfrage bei. Auf der einen Seite nutzt die Union sie zur scharfen Abgrenzung nach links, aber auf der anderen Seite zahlt sie damit ins Kontor der AfD ein. Das ist ein schwieriger Balanceakt, der Fingerspitzengefühl erfordert - nicht eben eine Stärke Merzens. Die CDU bleibt dennoch der klare Favorit. Aber die Ausschließeritis des Frühjahrs kommt nun als strategisches Problem zurück, und der Wahlkampf ist noch lange nicht entschieden. Merz ist für viele Wähler*innen eine noch definierbare Unbekannte, und je mehr man von ihm sieht, desto schlechter wird das Bild. Das war schon im letzten Jahr die Hoffnung der SPD.

Die SPD. Die Strategie der SPD lässt sich recht einfach beschreiben: die Wähler*innen daran erinnern, dass Olaf Scholz Kanzler ist, dass Olaf Scholz besonnen ist und dass Friedrich Merz schon irgendwie gar nicht so sympathisch und stabil ist. Sie hat natürlich auch wenig andere Möglichkeiten. Die einzige Chance, aus dem Umfragenjammertal der aktuell 14-15% zu entkommen, ist die Duellsituation mit Friedrich Merz. In der Frage nach der Kanzlerdirektwahl erzielt Scholz solide Werte, die deutlich über denen seiner Partei (ein Problem) und auch Merz' (ein Vorteil) liegen. Dementsprechend wird es ihr vor allem darum gehen, die Wahl zu einer Abstimmung zwischen Scholz und Merz zu verwandeln. Wer wird die neue Koalition anführen? Wird es Schwarz-Rot oder Rot-Schwarz? Das ist die Frage, die die SPD den Wählenden zu stellen versucht. Nicht, dass das aktuell eine wäre.

Aber hier kommt der Vorteil der Sozialdemokraten zum Tragen. Die aktuelle Situation ist relativ belanglos; entschieden wird die Wahl im Januar und Februar. Fast die Hälfte der Deutschen ist unentschlossen und sagt, es sei nicht absehbar, wer die Wahl gewinnen wird. Das ist eine große Menge, und wenn die SPD diese Unentschlossenheit aufrechterhalten kann, dann hat sie Aussicht auf dieselbe Dynamik wie 2021: dass die CDU und vor allem Merz Fehler machen, die dann natürlicherweise ihr zufallen.

In der Außenpolitik setzt die Partei den Regierungskurs fort: bloß nirgendwo festlegen, überall bremsen, überall und nirgends dabei sein. Eine wenig tragfähige Position, aber offensichtlich eine mehrheitsfähige. Wer es schafft, Friedrich Merz als Kriegstreiber hinzustellen und eine Debatte über den drohenden Atomkrieg loszubrechen, kann offensichtlich auf tiefsitzende Gefühle zurückgreifen. Jedoch: auch wenn die Ukraine ein dominantes Thema ist, entschieden wird die Wahl über die Innenpolitik. Hier bekommen wir die üblichen SPD-Versatzstücke: mehr Geld für Familien, irgendwie Respekt und Politik für die arbeitende Bevölkerung, und so weiter. Klimbim, weitgehend. Genauso wie die CDU steht die SPD vor allem für ein "weiter so". Und wer weiß, vielleicht ist es genau das, was das Elektorat wünscht.

Die Grünen. Nach ihren Wahlverlusten haben die Grünen eine ziemlich radikale Neuausrichtung vorgenommen. Wie die FDP nach 2013 orientieren sie sich auf ihr Zugpferd aus. Robert Habeck macht quasi den Lindner. Der linke Flügel tat der Parteispitze den Gefallen, sich selbst aus dem Spiel zu nehmen (das würde einem Konservativen oder Liberalen nie passieren), so dass das Ganze recht geräuschlos über die Bühne gehen konnte. Die Grünen-Strategie, die ich unter dem Schlagwort "Mehr Ländle wagen" analysiert hatte, war riskant. Für den Moment aber scheint sie aufzugehen. Die Partei hat in den Umfragen aufgeholt und steht nun wieder bei ihrem Ergebnis von 2021 und fast gleichauf mit der SPD.

Das macht den Kanzlerschaftsanspruch Habecks nicht eben realistischer. Ungeachtet der Umfragewerte kann er nicht von derselben Dynamik profitieren wie Scholz. Es müsste schon ein Wunder geschehen, wenn er stärker als Union und SPD werden und die Kanzlerfrage überhaupt stellen könnte. Nein, aktuell ist diese Kandidatur vor allem als energische Unterstreichung des Regierungswillens zu verstehen. Die Grünen geben lautstark und bei jeder Gelegenheit zu Protokoll, dass sie bereit sind, in eine Regierung einzutreten - ob mit Scholz oder mit Merz.

Das Problem der Grünen wie der SPD ist, dass sie sich leicht gegenseitig kannibalisieren. Dasselbe geschah 2021, als die Gewinne der SPD auch die Verluste der Grünen waren. Gelingt es Scholz, seine Duellsituation aufzubauen, so rückt Habeck in den Hintergrund. Gelingt es Habeck, sich ernsthaft als dritter Mann im Spiel zu halten, verliert Scholz sein größtes Zugpferd. Gleichzeitig würden beide Parteien gerne im Tandem stärker werden. Es ist ein Dilemma.

Und wo wir bei Zugpferden sind: weder Merz noch Scholz können als große Charismatiker gelten. Scholz hat die ganze Spröde Hamburgs kultiviert,  mitsamt einer Schmidt'schen Arroganz, ohne je Schmidts intellektuelles Niveau erreichen zu können. Und Merz ist Meister des reaktionären Fettnäpfchens und ebenfalls niemand, der Wärme ausstrahlen würde. Habecks Strategie der Küchentischgespräche, das ostentative Zuhören und die Bürger*innennähe, ist daher folgerichtig, weil es eine Lücke besetzt. Ob diese Lücke gefragt ist oder ob der Bedarf nach einer emotional distanzierten Führungsperson gerade dominanter ist, bleibt aktuell noch völlig unklar. Die Wählendenschaft weiß ja selbst noch nicht, was sie will; auf diesem Gebiet operieren alle Parteien blind. Immerhin hatte Habeck das gute Glück, dass der Skandal um die Hausdurchsuchungen ("Schwachkopfgate") nicht an ihm hängen blieb, wohl vor allem dank der tatkräftigen Hilfe der FDP, die die Schlagzeilen mit ihrem D-Day-Papier besetzt hält.

Programmatisch sind die Grünen wenig spannend unterwegs. Einige Klassiker - grüne Investitionen, ein bisschen eFörderung, mehr für Familien, Gleichstellung etc., das Ganze finanziert mit einer Milliardärssteuer - sind erkennbar Wahlkampfrhetorik. Das ist auch kein Fehler. Die Partei ist ein gebranntes Kind, was zu konkrete Wahlprogramme angeht. Ein wenig Ambiguität schadet da keinesfalls.

Auch scheint es, als wäre die rechte Flanke weitgehend geschlossen. Der Schwenk nach rechts unter Habeck und das scheinbare Ende des syrischen Bürgerkriegs tragen zu einer Entspannung in der Migrationsfrage bei, die den Grünen nur schaden kann. Je weniger die Debatte um offene Grenzen, Aufenthaltstitel und Integration eine Rolle spielt, desto besser für die Partei.

Die AfD, FDP, LINKE und das BSW analysieren wir übermorgen.

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