Wo kämen wir hin, wenn alle sagten, wo kämen wir hin, und niemand ginge, einmal zu schauen, wohin man käme, wenn man ginge? (K. Marti)

Es begab sich, dass eine Reisegruppe mit ihrem Automobil auf einer gut ausgebauten Straße unterwegs war. Vor der Abfahrt war das Fahrzeug von fremden Mechanikern generalüberholt worden, weil die eigenen es in den Jahren zuvor mit ihrem Werbeslogan, es für die nächsten Tausend Jahre fit zu machen, fast bis zum Totalschaden gebracht hatten.

Auf ihrem Weg wurde  die Reisegruppe von anderen Fahrzeugen überholt. Oft überholte sie im Gegenzug auch andere, bisweilen in atemberaubendem Tempo. Die Fahrer des Automobils wechselten sich im Laufe der Zeit mehrmals ab. Dann und wann gab es zwar Diskussionen darüber, welchen Weg man zu nehmen habe, die Richtung blieb aber insgesamt stets dieselbe, nämlich entlang der gut ausgebauten Straße. Das war auch sehr praktisch, weil man ab und zu Pannenhelfer benötigte, die beispielsweise dabei halfen, die liegengebliebenen Insassen eines Fahrzeugs mit den Geschwistern unserer Reisegruppe zusammenzubringen, indem man ihnen half, in deren Fahrzeug zu gelangen. Zuvor hatten sie deutlich gemacht, dass sie den weiteren Weg doch gern gemeinsam zurücklegen wollten. Nicht alle Pannenhelfer waren davon begeistert und wollten lediglich das Pannenfahrzeug wieder flott machen, akzeptieren aber letzten Endes die gemeinsame Weiterfahrt.

Im Laufe der Reise gewöhnte sich unsere vergrößerte Reisegesellschaft an die gut ausgebaute Straße, an die Pannenhelfer und an die Tatsache, dass man allmählich eine für alle angenehme Reisegeschwindigkeit gefunden hatte. Man ließ sich zwar weiterhin von anderen überholen, eigene Überholvorgänge wurden dagegen immer seltener. Stattdessen stellte man den Tempomat und das Navigationssystem ein und ließ sich wie von selbst weitertreiben. Dies führte dazu, dass im Wagen zunehmend über dieses und jenes gesprochen, diskutiert und sogar heiß gestritten wurde, was weniger mit dem Ziel der Reise als vielmehr mit dem Weg auf sich(t) verbunden war: Soll man überhaupt mit dem Wagen weiterfahren, könnte man nicht auch das Fahrrad nehmen? Soll man Anhalter mitnehmen? Was soll das alles überhaupt?

Immer öfter wurde auch darüber debattiert, dass man bestimmten Insassen des Wagens auf keinen Fall das Lenkrad anvertrauen dürfe. Die einen würden nonstop die linke Fahrspur benutzen, die anderen aus Prinzip den rechten Standstreifen. Und wieder andere sollten besser gleich am nächsten Rastplatz aussteigen, weil sie irgendwie nicht zur Reisegruppe passten. Trotzdem fuhr das Automobil zum Großteil korrekt gemäß der geltenden Straßenverkehrsordnung - meist mittig.

Dann allerdings geschah es. Nachdem ein Fahrer schon seit Stunden am Lenkrad gesessen hatte, immer der gut ausgebauten, mittlerweile einspurigen Straße entlang fahrend,  in der angenehmen Reisegeschwindigkeit, im Hintergrund die Stimmen der Mitfahrer, im Hinterkopf immer die mahnende Stimme der Navigation, die ihm auftrug: „Dem Straßenverlauf folgen“, bemerkten er und mit ihm andere Reiseteilnehmer, dass sich die Landschaft zu ändern begann. Die gut ausgebaute Straße stieg plötzlich an und wurde ein Stück weit schmaler. Aus dem Fonds begannen einige Mitfahrer Ratschläge zu erteilen: „Langsamer fahren!“, „Umdrehen, solange die Straße noch breit genug ist!“, „Unsinn, weiterfahren – Augen zu und durch!“

Der Fahrer beruhigte die Mitreisenden: „Ich kann nicht erkennen, was wir jetzt anders machen müssten“, und fuhr die gut ausgebaute Straße weiter, die mittlerweile noch schmaler und von hohen dunklen Bäumen gesäumt wurde, deren Baumkronen lieblich im seichten Wind hin und her wogten.

Wie aus heiterem Himmel erscholl plötzlich ein Donnern und Krachen – und eine gewaltige Krone stürzte direkt vor das Automobil. Vollbremsung. Kompletter Stillstand. Nichts ging mehr.

Im Leerlauf stand das Automobil auf der gut ausgebauten einspurigen Straße. Alle nicht notwendigen Stromabnehmer wurden abgeschaltet, um die Lichtmaschine zu schonen und Kraftstoff zu sparen. Nur die wichtigsten Funktionen wurden in Gang gehalten, um ohne viele Umstände nach Beseitigung der Krone weiterfahren zu können. Im Fahrzeug selbst wurde beratschlagt, was zu tun sei. „Wo sind die Verantwortlichen? Wer diese Bäume gepflanzt hat,  muss die Krone wegräumen!“, forderten die einen. „Das haben bestimmt welche mit Absicht gemacht, um uns zu stoppen!“, mutmaßten die anderen. „Volle Kraft zurück – rückwärts! Die Krone liegt nur hier, weil damals eine gut ausgebaute Straße hier gebaut wurde!“, verlangten die nächsten. „Ach was, Vollgas voraus und die Krone zur Seite schieben. Das sind nur ein paar harmlose kleine Ästchen!“, meinte ein kleines Grüppchen und bekam den Sturm der Entrüstung der übrigen Mitfahrer zu spüren. Beleidigt drehten sie sich zum Fenster, starrten hinaus und sagten gar nichts mehr. Der seit Stunden am Lenkrad sitzende Fahrer versuchte die Gemüter zu beruhigen: „Ich glaube, dass im Großen und Ganzen nichts schief gelaufen ist. Wir bleiben alle im Auto sitzen. Wir haben genug Reservekanister, um den Motor am Laufen zu halten.“

Und das tat unsere Reisegesellschaft, obgleich ab und zu der ein oder andere Mitfahrer zaghaft die Stimme erhob und die Frage stellte, ob nicht doch der ein oder andere einmal aussteigen sollte, um nachzuschauen, wie groß die Krone sei und vor allem, was sich dahinter befinden könnte.

So wartete und diskutierte die Reisegesellschaft weiter, und wenn sie nicht gestorben sind, dann warten sie noch heute dort, mit laufendem Motor und eingeschalteten Bremsleuchten... oder?