Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) "A City we can afford": capitalism and democracy in New York
Adam Toozes Artikel analysiert die politische und soziale Lage New Yorks im Kontext der überraschenden Vorwahl von Zohran Mamdani, einem demokratischen Sozialisten, zum Bürgermeisterkandidaten. Mamdani habe einen „überdeterminierten“ Sieg errungen – nicht nur durch seine progressive Programmatik in Bereichen wie Mieten, Steuern und öffentlichem Nahverkehr, sondern auch durch das Versagen des demokratischen Establishments. Seine Unterstützung sei besonders stark im einkommensschwachen Mittelstand (60.000–150.000 Dollar), während wohlhabendere und viele schwarze Stadtteile ihn weniger wählten. Tooze betont die extreme soziale Ungleichheit in New York: Der Gini-Koeffizient liegt bei 0,55, vergleichbar mit Rio de Janeiro. Die Oberschicht zahlt den Großteil der Einkommenssteuer, lebt aber abgeschottet. Gleichzeitig seien etwa 750.000 Menschen in „tiefer Armut“, die U-Bahn sei verfallen, und 25 % der Kinder lebten in Armut. In dieser Konstellation wirke Mamdanis Kandidatur wie ein Hoffnungsschimmer für eine Stadt, in der die Spannung zwischen Kapitalismus und Demokratie noch spürbar sei. Ein möglicher Rückschlag gegen ihn könne demokratiepolitisch verheerend sein. (Adam Tooze, Chartbook)
Dieser disconnect zwischen den Themen des Wahlkampfs und der Berichterstattung über den Wahlkampf ist nicht der erste, der hier passiert. Ich glaube, viel von dem Unverständnis gegenüber den Erfolgen eines Trump oder der AfD, aber auch upsets wie die Wahl Mamdanis erklären sich daraus, dass die Medien eine geschlossene Echokammer bilden, die sie mit Realität verwechseln. Mamdani machte seinen Wahlkampf praktisch komplett mit dem Thema Lebenshaltungskosten - das Thema, das für die Realität der New-Yorker*innen auch das bedeutendste ist. Aber in der Rezeption ging es ständig um Gaza, als ob das für das Amt des Bürgermeisters das relevanteste wäre. Nicht, dass ich diese linken Gaza-Positionen teilen würde, by the way. Aber da ist ein medialer Konsens, der die Stimmung keinesfalls wiederspiegelt. Ich sage das ohne Wertung, einfach als Feststellung. - In seinem Folgebeitrag hat Tooze auch einige Zahlen.
2) Das Problem mit der Renaissance der „Rechten“
In seinem Meinungsbeitrag analysiert Magnus Klaue die gegenwärtige inflationäre und inhaltsleere Verwendung des Begriffs „rechts“. Er argumentiert, dass dieser Begriff zunehmend als bloße Vokabel diene – sowohl von einer identitätspolitisch agierenden Linken zur Ausgrenzung politischer Gegner, als auch von deren Kritikern zur Selbstvergewisserung. Besonders kritisiert wird die Umdeutung von „rechts“ zu einer identitären Auszeichnung, wie sie etwa Giorgia Meloni exemplarisch betreibe. Diese reaktive Selbstverortung sei selbst Teil identitätspolitischer Muster und entwerte den politischen Diskurs. Klaue hebt hervor, dass Positionen wie Staatskritik, nationale Loyalität oder Lebensschutz häufig widersprüchlich seien und nicht durch ein einfaches „rechts“ oder „konservativ“ erklärt werden könnten. Zudem sei die frühere ideologische Trennlinie zwischen links und rechts im Begriff, ihre analytische Kraft zu verlieren. Stattdessen schlägt er vor, den Begriff „konservativ“ wieder ernsthaft zu verwenden – als Haltung zur Bewahrung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, die individuelle Freiheit und Glück ermöglichen sollen. Diese bewusste Normalität sei ein Gegenentwurf zur politischen Erregungskultur, die zunehmend auch bürgerliche Werte bedrohe. (Magnus Klaue, Welt)
Es ist gut, dass Klaue anerkennt, dass hier eine Identitätspolitik, eine Art "woke von Rechts", vorzuherrschen begonnen hat. Er liegt auch mit seiner Analyse der Widersprüchlichkeit richtig, nur: das ist ja nichts Neues oder Besonderes. Auch auf der Linken gibt es viele widersprüchliche Positionen, oder - wenn man den Unterschied aufmachen will - im konservativen Spektrum. Wo ich Klaue entschieden widersprechen muss ist seine Idee, dass man "rechts" "konservativ" nennen sollte. Erstens verhindert das keine Identitätspolitik; die Konservativen machen das ja genauso (weil ALLE Identitätspolitik betreiben). Zweitens verwischt es genau die Unterschiede, die die Konservativen ja eigentlich haben wollen. Die tun sich ja keinen Gefallen, wenn sie es etwa der AfD problemlos erlauben, sich als "konservativ" zu reklamieren. Auch ist es keine gute Idee, "Normalität" hier so einzusetzen. Normalitarismus ist selbst ideologisch und identitätspolitisch aufgeladen. Wessen Normalität schließlich?
3) Liberals Are Going to Keep Losing at the Supreme Court
Der Artikel von Duncan Hosie analysiert die jüngsten Niederlagen liberaler Positionen am Supreme Court der USA, insbesondere die Entscheidungen in United States v. Skrmetti und Mahmoud v. Taylor. In Skrmetti bestätigte das Gericht ein Gesetz aus Tennessee, das Minderjährigen den Zugang zu geschlechtsangleichenden Behandlungen verwehrt. In Mahmoud wurde religiösen Eltern ein neues verfassungsmäßiges Recht zugestanden, ihre Kinder vom Unterricht über LGBTQ-Themen fernzuhalten. Hosie argumentiert, dass nicht nur das konservative Gericht, sondern auch strategisch unkluge Entscheidungen liberaler Juristen zu diesen Rückschlägen beigetragen hätten. Diese hätten die Verfahren trotz absehbar ungünstiger Mehrheiten bewusst vor den Supreme Court getragen, was konservativen Richter*innen eine Gelegenheit bot, rechtsprägende Urteile mit weitreichender Wirkung zu fällen. Hosie plädiert dafür, die Konzentration auf die Bundesgerichte zugunsten demokratischer Prozesse – etwa Gesetzesinitiativen, Öffentlichkeitsarbeit oder Basisorganisation – zurückzufahren. Eine solche Neuausrichtung solle Verfassungsdebatten in politische, gesellschaftliche Kontexte zurückverlagern. Gerichte, so Hosie, spiegelten letztlich gesellschaftliche Strömungen – langfristige Veränderungen müssten daher außerhalb der Gerichtssäle ansetzen. (Duncan Hosie, The Atlantic)
Mir fällt bei dem Thema immer nur Marlo aus "The Wire" ein: "You want it to be one way. But it's the other way." Die Democrats wollen so gerne, dass sich die Republicans an die institutionellen Spielregeln halten. An den Rechtsstaat. An Wahlergebnisse. An faire Wahlen. An die grundsätzliche Existenz von Fakten. Spielregeln des demokratischen Prozesses eben, ohne den die Demokratie erodiert wird. Aber das tun die Republicans nicht. Die Democrats müssen gar nicht selbst in dieses Spiel einsteigen; ich glaube nicht, dass sie das gewinnen könnten. Aber sie müssen endlich die Augen aufmachen und erkennen, dass ihre Gegner eben nicht eine andere grundsätzlich demokratische Partei sind, mit der man um die Macht streitet. Dieser Irrglaube an die Gerichte ist übrigens auch in Deutschland weit verbreitet. Wenn hier die AfD an die Macht kommt und diese Stellen mit eigenen Leuten besetzt, werden glaube ich auch einige mit den Ohren schlackern, was da plötzlich für Urteile rauskommen. Institutionen funktionieren nur, wenn alle Beteiligten die Normen einhalten. Die demokratischen Parteien tun das. Parteien wie die Republicans, die PiS, Fidesz oder die AfD tun das nicht.
4) The Stats Guy: Why Musk’s war on ‘woke mind virus’ is doomed to fail
Der Artikel argumentiert, dass die sogenannte „woke mind virus“, wie sie von Elon Musk und anderen Kulturkämpfern beschrieben wird, keine Bedrohung sei, sondern Ausdruck eines normalen Entwicklungsschritts in der gesellschaftlichen und individuellen Reifung. Der Begriff „wokeness“ werde besser verstanden, wenn man ihn als Merkmal der postmodernen Entwicklungsstufe betrachte – eine Phase im menschlichen Bewusstseinswandel, die mit wachsender Empathie, Inklusion und ökologischer Achtsamkeit einhergehe. Diese Entwicklungsmodelle, u. a. von Piaget, Loevinger, Kegan oder Wilber, beschreiben die wachsende Komplexität von Denken und Moral über die Lebensspanne hinweg. Wokeness, so wird betont, sei kein ideologischer Ausnahmezustand, sondern „kulturelle Adoleszenz“ – laut, ungeschickt, aber notwendig. Der Artikel warnt vor dem Versuch, diese Phase mit politischen oder kulturellen Mitteln zu bekämpfen, etwa durch Verbote oder Spott, und plädiert stattdessen für eine Entwicklung hin zu einer „integralen“ Perspektive, die frühere Weltbilder nicht verdrängt, sondern integriert. Der Kulturkampf erscheine aus dieser Sicht wie ein Streit zwischen älteren Geschwistern, die bald erkennen müssten, dass es noch mehr Reifeebenen gebe. Der Weg aus der Polarisierung liege nicht im Sieg einer Seite, sondern in einem kollektiven Reifungsprozess. (Simon Kuestenmacher, The New Daily)
Ich bin jetzt nicht unbedingt der Idee gegenüber abgeneigt, dass emanzipatorisch-progressive Ideen eine Art höhere Entwicklung abbilden, aber ich finde die These ziemlich quatschig. Erstens finde ich es super problematisch, eine Art Entwicklungsgeschichte der menschlichen Spezies auf diese Art abzubilden, in der Jahrhunderte und Jahrtausende (dazu noch anthropologisch völlig falsch) konstant sind, um dann für die letzten 200 Jahre mehrere Entwicklungsstufen zu bauen. Ironischerweise erinnert mich das an Steven Pinker, der ja vom ganz anderen politischen Ende her kommt. Dazu haben wir das Phänomen, dass die Leute dazu neigen, ihre eigene Haltung als höchste Stufe hinzustellen. "Es gibt Position A und Position B, und beide liegen falsch, und es braucht Position C, um die höchste Stufe zu haben - und ich bin zufällig Stufe C." Letztlich ist die Gefahr bei so was riesig, den eigenen Präferenzen einfach einen tollen Anstrich zu geben, so sehr ich mich da inhaltlich auch wiederfinden mag. Ich finde es reichlich unhistorisch.
5) "Kinder sollten tun, was Erwachsene sagen"
Die britische Pädagogin Katharine Birbalsingh gilt als „strengste Schuldirektorin Großbritanniens“ und leitet die Michaela Community School im armen Londoner Stadtteil Wembley. Die Schule verfolgt ein bewusst altmodisches Erziehungskonzept, das auf Disziplin, Gehorsam und persönlichen Einsatz setzt. Schüler sollen tun, „was Erwachsene sagen“, und lernen, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Birbalsingh vertritt die Überzeugung, dass „Strenge Liebe sei“, insbesondere gegenüber Kindern aus schwierigen Verhältnissen, die zu Hause wenig Förderung erhalten. Die Michaela-Schule erzielt außergewöhnliche Ergebnisse: Ein Großteil der Schüler schafft den Sprung an Elite-Universitäten. Die Erziehungsmethoden sind radikal: völlige Stille im Unterricht, Frontalpädagogik, diszipliniertes Verhalten, kein Raum für Ausreden oder Sonderbehandlungen – auch nicht aus religiösen Gründen. Eine Klage gegen das Verbot von Gebetsräumen wurde juristisch abgewiesen. Birbalsingh sieht im Patriotismus ein verbindendes Element in einer multiethnischen Gesellschaft. Ihr pädagogisches Modell ist umstritten: Gegner werfen ihr autoritären Drill und ideologischen Konservatismus vor, Unterstützer loben die Klarheit und Wirksamkeit ihrer Methoden. Birbalsingh versteht sich dabei nicht als politische Akteurin, sondern als Vertreterin eines modernen Traditionalismus, der auch für progressive Kräfte anschlussfähig sein könne. (Jochen Bittner, ZEIT)
Ich habe eine Grundregel für den Umgang mit solchen Artikeln. Man liest sie oft - also die Artikel, nicht die Grundregel. Da wird eine Schule vorgestellt, die etwas ganz anders macht und damit riesige Erfolge feiert. Das kann eine Schule sein, die massiv auf KI setzt. Eine, die voll digitalisiert ist. Eine, die gar nicht digitalisiert ist und in die die Schüler*innen nicht mal ein Smartphone bringen dürfen. Es kann eine Schule sein, die komplett auf Gamification setzt, eine, in der Schüler*innen alles mitbestimmen dürfen und in der es praktisch keine Hierarchien gibt, oder es kann eine sein, die wie hier auf traditionelle Werte und große Strenge setzt. Diese Schulen sind Modellschulen. Und jetzt zu der Regel: Bei solchen Artikeln muss man immer die Frage stellen, ob das Prinzip skalierbar ist. Denn dass eine Modellschule erfolgreich sein kann, steht außer Frage. Nur ist das für das Bildungssystem als Ganzes relativ wurscht. Aus diesen Erfolgen leitet sich nichts ab.
Eine Modellschule hat hoch motiviertes Personal, das sich dem Konzept voll verschreibt, und Eltern und Schüler*innen, die dieses Konzept wollen und voll dahinter stehen. Auf der Michaela sind keine Schüler*innen oder Lehrkräfte, die sich mit den autoritären Strukturen schwer tun. Entsprechend funktioniert das super. Würde man das als Vorbild für ALLE Schulen nehmen, funktionierte es nicht. Deswegen ist diese Diskussion auch so ermüdend. Was es braucht, ist Diversität. Autoritäre UND egalitäre Schulen, welche mit partizipatorischen UND welche ohne solche Elemente, und so weiter. Und es braucht viel bessere Möglichkeiten herauszufinden, welche Schule die richtige für ein Kind ist. Dazu brauchen die Schulen die Möglichkeiten und Mittel, solche Entscheidungen zu treffen. DAS würde helfen. Nicht die Suche nach dem Allheilmittel. Dafür sind Menschen viel zu komplex.
Resterampe
a) Die Berichte von diesem Faschingsumzug in Sachsen zeigen finde ich vor allem, wie sinnentleert dieser ganze Cancel-Culture-Diskurs war. (Tagesspiegel)
b) Israels verlorener Krieg (Welt). Ich meine, es ist Poschardt, da ist maximalistische Rhetorik eingepreist, aber trotzdem...
c) Friedrich Merz gegen Regenbogenflagge am CSD: »Der Bundestag ist kein Zirkuszelt« (Spiegel). Merz, stilsicher wie immer. "Zirkuszelt", Alter...
d) Albtraum AfD-Verbot (Welt) Völlige Phantomdebatte in meinen Augen, das wird nicht kommen.
e) Warum das letzte Tabu der Asylpolitik jetzt fallen könnte – dank Dänemark (Welt). Schon beeindruckend, mit welcher Begeisterung die Bürgerlichen die Aufkündigung der Menschenrechte feiern.
f) Die Aversion der Grünen gegen wirksamen Hitzeschutz (Welt). Kann man kaum anders sagen.
g) Sie versuchen es noch nicht einmal (Spiegel). Elections have consequences.
h) "Newyorktimesisch" :D (Twitter)
i) Die Republicans bauen ICE zu ihrer eigenen Truppe aus. (Twitter)
j) Ihr lacht, aber hätten wir dasselbe mediale Umfeld wie die USA, wäre das bitterer Ernst. (Postillon)
k) Die Medien lassen sich von Trump auch deprimierend leicht erpressen. (NBC)
l) Rückblick auf die Merkelära. (Ekathimerini)
m) Niedrige Geburtenraten: 3000 Euro Baby-Bonus werden nicht reichen (Spiegel). Ich frage mich, wer auf die Idee kommt, dass dem so sein könnte.
n) Der Promi-Thriller als Wunscherfüllung – Hendrik Streeks Prosadebüt „Das Institut“ (54books). Der Typ, ey.
o) Stanford-Studie ergibt, Verzicht auf Social Media sei vergleichbar mit Therapie (Twitter). Das zeigt weniger was über Social Media als über das völlig durchgebrannte politische Klima in den USA.
Fertiggestellt am 03.07.2025
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