Weihnachten ist ja auch immer ein wenig die Zeit der Besinnlichkeit, obwohl das in unserer konsumorientierten Gesellschaft zunehmend zu kurz kommt, man denke nur an scheußliche Werbeslogans wie Weihnachten wird unterm Baum entschieden. Das, was ich nun schildern möchte, geht da in eine andere Richtung, die mehr mit dem eigentlichen Gedanken von Weihnachten zu tun hat, und ist mir tatsächlich so passiert – und war eines der schönsten Weihnachtserlebnisse, die ich je hatte.

In den 90ern arbeitete ich neben dem Studium einige Jahre lang am Heiligabend als Weihnachtsmann für eine Agentur, die das professionell vermittelte. Als Student war das super, denn es gab dafür sehr ordentliches Geld, zudem noch Trinkgelder, und Weihnachten mit der Familie zu Hause rumzusitzen stand zu der Zeit eh nicht so hoch im Kurs. Außerdem feierte man so mehrmals am Tag Weihnachten und war jeweils immer genau beim Höhepunkt der Feierlichkeiten, nämlich der Bescherung, mittenmang. Ich hab das also echt gern gemacht.

Wichtig war dabei, dass man am Tag vor Heiligabend immer schon mal die Tour, die aus etwa zehn bis zwölf Auftritten bestand, abfuhr, um die Adressen zu klären und eventuelle Fehler und Unstimmigkeiten ausfindig zu machen. Am Heiligabend im Dunkeln und als Weihnachtsmann kostümiert das Suchen anzufangen hätte den stringenten Zeitplan dann doch reichlich durcheinandergebracht. Jeder Weihnachtsmann bekam also in der Vorweihnachtszeit seine Tour, die Adressen waren in einem goldenen Buch (na ja, war eher ein Heftordner, der mit goldenem Glanzpapier bezogen war, aber das Ding hat bei den Auftritten seine Wirkung nie verfehlt, wenn der Weihnachtsmann dann darin rumblätterte) vermerkt, in dem auch ein paar Angaben zu den zu bescherenden Kindern standen, die dann immer ordentlich erstaunt waren, was der Weihnachtsmann alles über sie wusste.

In einem Jahr fuhr ich eine Tour in Hamburg. Ein Halt war in Steilshoop, was nicht gerade eine der besten Gegenden der Stadt ist, und beim Durchschauen der Angaben im goldenen Buch hab ich mir gleich schon gedacht, dass dieser Auftritt dort nicht nach dem üblichen Schema ablaufen würde. Es hieß nämlich, dass ich mich bitte beim vorherigen Abfahren der Tour in einem Blumenladen melden möge, der in der Nähe der Wohnungsadresse, wo die Bescherung stattfinden sollte, gelegen war.

Am 23. 12. traf ich dann also in dem Blumenladen ein und stellte mich der Inhaberin vor: „Guten Tag, ich bin der Weihnachtsmann … also der von der Agentur, der morgen hier eine Bescherung machen soll!“ Ich wurde freundlich empfangen, und die Dame erklärte mir die Besonderheit des Auftritts: Es gab in einem der Hochhäuser in der Nähe eine Aussiedlerfamilie, die wahrlich nicht viel Geld hatte. Die vier Kinder wären allerdings immer so fröhlich und freundlich zu ihr, sodass sie die Familie dieses Jahr zu Weihnachten beschenken wollte. Da sie dabei aber anonym zu bleiben gedachte, musste eben jemand her, der die Geschenke überbrachte – und da bietet sich ja schließlich ein Weihnachtsmann an. „Der Sack mit den Geschenken steht dann morgen in einer kleinen Kammer neben dem Laden, die ich unverschlossen lasse, damit Sie da rankommen. Die Geschenke habe ich auch alle mit Namen versehen“, erklärte sie mir noch, dann verabschiedete ich mich wieder, ging sicherheitshalber noch einmal kurz zur Wohnung der Familie, bei der am nächsten Tag der Weihnachtsmann kommen sollte (Klingelschildcheck – ganz wichtig!), und fuhr den Rest der Tour ab.

Am nächsten Tag kam ich am späteren Nachmittag wieder zur dem Blumenladen. So ein bisschen hatte ich auf dem Weg dorthin schon ein merkwürdiges Gefühl im Bauch, denn schließlich war das ja kein Standardauftritt, wie ich sie seit ein paar Jahren eigentlich immer recht routiniert und erfolgreich absolviert hatte. Da die Auftritte aber recht knapp getaktet waren (schließlich hat man dafür ja nur ein nicht allzu großes Zeitfenster: Der Weihnachtsmann kommt schließlich noch nicht um 14 Uhr, und um 21 Uhr ist die Klientel dann ja auch schon im Bett …), ging ich einfach ran an die Sache: Das Auto wurde so geparkt, dass es von der Wohnung aus nicht zu sehen war (ist wichtig, Kinder schauen ja durchaus mal erwartungsvoll oder zum Winken beim Abschied aus dem Fenster, und der Weihnachtsmann kommt halt nicht in einem ollen Opel Kadett – so viel Professionalität muss schon sein), der Sack stand dort, wo er stehen sollte – also alles paletti.

Es ist unglaublich, was einem so in ein, zwei Minuten – länger dauerte es nicht, um vom Blumenladen zur Wohnung der Familie zu kommen – durch den Kopf gehen kann: Was ist, wenn da nun gar keiner zu Hause ist? Oder wenn die denken, ich will sie verarschen? In jedem Fall kamen mir etliche Gedanken, warum die Nummer gleich richtig derbe in die Hose gehen könnte. Aber kneifen ging nicht, und schließlich war ich ja ein routinierter und professionell auftretender Weihnachtsmann …

Es kommt immer gut, wenn man direkt an der Haus- oder Wohnungstür klopfen kann, denn das ist mehr Weihnachtsmannstyle, als einfach nur zu klingeln. Blöderweise haut das bei Hochhäusern nicht so wirklich hin, also: ran an den Klingelknopf und warten, was passiert. Es dauerte einen Moment, dann ertönte eine Kinderstimme in der Gegensprechanlage: „Ja …?“ – „Ho, ho, ho, der Weihnachtsmann ist da!“, antwortete ich mit lauter und tief verstellter Stimme. Jetzt mach bitte die Tür auf, sonst steh ich hier echt scheiße blöd rum … sagte die Stimme in meinem Kopf, die dann doch um einiges zaghafter war als mein Weihnachtsmannorgan. Ein paar Sekunden vergingen, dann summte es. Geschafft! Drinnen war ich schon mal.

Also das Treppenhaus hoch, die Familie wohnte im zweiten Stock. Natürlich nicht mit dem Lift, sondern ächzend, schnaufend und polternd über die Stiegen. Klar, der Weihnachtsmann ist keine grazile Elfe, den hört man schon von Weitem antrapsen. Als ich dann vor die Wohnungstür kam, blickte ich in die Augen eines etwa zwölfjährigen Jungen, die schlagartig die Größe von Teetassen annahmen: „Der … der … Weihnachtsmann …“, entfuhr es ihm, dann rief er in die Wohnung hinein: „Kommt mal her, der Weihnachtsmann ist da!“ Na, immerhin hat er die Tür nicht gleich wieder zugeknallt, dachte ich mir, und dann erschien auch schon der Rest der Familie im Wohnungsflur: vier Kinder insgesamt, die Eltern und ein Hund. Alle so gar nicht festlich gekleidet, sondern teilweise nur im Unterhemd, und weder Weihnachtsmusik noch Kerzenglanz oder Bratenduft schlugen mir beim Näherkommen entgegen.

„Fröhliche Weihnachten! Der Weihnachtsmann ist da!“, posaunte ich durch den Hausflur und blickte dabei in reichlich perplexe Gesichter. „Und ich habe Euch auch etwas mitgebracht!“ Dabei hob ich den Sack in meiner Rechten ein wenig an – als wenn man den nicht auch so gesehen hätte, aber der Weihnachtsmann ist halt ein Freund ausladender Gesten. Die Familienmitglieder wussten wohl nicht so recht, wie ihnen geschah, und ich fragte mich einen kurzen Moment, ob der Hund vielleicht bissig sei, denn immerhin musste ich ja nun in sein Territorium eindringen. Dann ging man allerdings ein Stück zurück in die Wohnung hinein, was ich als Aufforderung verstand, einzutreten. „Eine lange Fahrt vom Nordpol habe ich schon hinter mir, und ich habe gehört, dass hier sehr artige Kinder sind, sodass ich Geschenke für sie mitgebracht habe.“ Damit stellte ich den großen Sack ab (natürlich nicht ohne unter der vermeintlichen Last zu ächzen) und machte mich gleich daran, das Band, dass ihn verschlossen hielt, zu öffnen. Gedichte oder Lieder abzufragen, was sonst eigentlich zum üblichen Repertoire vor der Geschenkausgabe gehörte, erschien mir hier nicht wirklich angebracht. Ein kleines Mädchen, etwa fünf oder sechs Jahre alt, schaute mich an und fragte schüchtern: „Bist Du der … Weihnachtsmann?“ Ihr etwas älterer Bruder stieß sie mit dem Ellenbogen an: „Natürlich! Siehst Du das denn nicht? Wer soll das denn sonst sein?“ – „Aber sicher bin ich der Weihnachtsmann“, bestätigte ich ihn, „und da heute der Heilige Abend ist, komme ich zu den Kindern überall auf der Welt und bringe ihnen Geschenke. Wollen wir doch mal sehen, was ich hier habe …“ Ich griff in den Sack, zog ein Paket heraus und las den Namen darauf laut vor. Der Junge, der mir die Tür geöffnet hatte, hob ein wenig schüchtern seine Hand, so als würde er sich in der Schule melden. Ich lächelte ihn an (soweit man das unter dem enormen weißen Rauschebart überhaupt sehen konnte), gab ihm das Paket und wünschte ihm frohe Weihnachten.

Er bedankte sich leise, stand dann zunächst allerdings etwas ungläubig da und wusste irgendwie nicht so recht, was er damit anfangen sollte. Als ich dann jedoch für alle anderen Familienmitglieder (inklusive des Hundes, der eine Dose Chappi bekam) auch Geschenke aus dem Sack hervorholte, löste sich die Stimmung zusehends, die Pakete wurden geöffnet (recht behutsam, wenn ich das damit verglich, wie bei den meisten anderen Auftritten die Geschenke ihres schmucken Papiers entledigt wurden) und die darin enthaltenen Dinge bestaunt und den Geschwistern und Eltern präsentiert. Die Kinder wurden dann auch immer neugieriger: „Wie bist Du denn hergekommen, Weihnachtsmann?“ – „Mit dem Schlitten natürlich, aber der steht weiter dort hinten auf dem Feld, der würde hier nicht in die Straßen passen!“ „Und wie alt bist Du, Weihnachtsmann?“ – „Oh, schon uralt, deswegen hab ich ja auch so einen weißen Bart.“ Dann kam der Vater zu mir, seine Frau stand neben ihm mit Tränen in den Augen, reichte mir die Hand und fragte: „Von wem sind denn die Geschenke?“ – „Na, vom Weihnachtsmann natürlich! Von wem denn sonst?“, rief ich aus, schüttelte ihm kräftig die Hand und blinzelte ihm dabei zu.

Dann war es Zeit zum Aufbruch, die nächste Bescherung wartete schließlich schon. Also nahm ich den Sack wieder auf, wünschte allen noch mal fröhliche Weihnachten und einen guten Rutsch ins bald beginnende neue Jahr. Dies wurde auch alles fröhlich und laut erwidert, die ganze Wohnung summte vor Erregung. Auf der Treppe drehte ich mich noch mal um, schaute in lachende Gesichter und auf winkende Hände und wusste in dem Moment: Hier gerade eben war ich wirklich und leibhaftig der Weihnachtsmann!

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