Neben seriösen geschichtswissenschaftlichen Werken findet sich leider eine Vielzahl an verschwörungstheoretischen oder einfach nur schlecht recherchierten Werken auf dem Markt. Es gibt Anzeichen, woran man erkennen kann, dass man es mit einem solchen zu tun hat.
Diese Autor*innen arbeiten mit diversen rhetorischen Mitteln, die eine Gemeinschaft mit den Lesenden erzeugen und diese direkt auf die gewünschten Schlussfolgerungen stoßen sollen. Sie konstruieren dabei elaborierte Theorien, die durchaus belegt werden. Diese Belege allerdings sind häufig entweder aus anderen tendenziösen Quellen, so dass ein Kreislauf gegenseitiger Verweise entsteht, oder aus dem Kontext gerissen und deswegen nur Simulationen von Belegen. Auch selektives Lesen von Quellen gehört dazu.
Im Folgenden analysieren wir einen Ausschnitt aus dem Buch „Wer hat Hitler gezwungen, Stalin zu überfallen?“ des russischen Propagandisten Nikolay Starikov von 2017. Starikov hat eine Reihe weiterer Bücher im selben Genre verfasst, etwa „Krieg durch fremde Hände“, „Ukraine. Chaos und Revolution als Waffen des Dollars“, „Verstaatlichung des Rubels. Russlands Weg zur Freiheit“, „So sprach Stalin“, „Wer finanzierte die Zerstörung Russlands?“ und „Wer tötete das russische Imperium?“. Die Titel alleine zeigen, wie der Autor verschwörungstheoretische Narrative pflegt: Feinde von außen – die USA – ziehen im Hintergrund die Fäden und zwingen Russland in Konflikte. Im vorliegenden Buch versucht Starikov seine Lesenden davon zu überzeugen, dass die USA Hitler als Marionette gegen Stalin eingesetzt haben. Ich will an einem Auszug beispielhaft zeigen, wie der Autor arbeitet und daraus allgemeine Rückschlüsse über die Arbeitsweise von Verschwörungstheoretiker*innen ableiten.
Auszug aus „Wer hat Hitler gezwungen, Stalin anzugreifen“ zum Thema ausländischer Parteispenden an die NSDAP um 1923
Jedoch in einem beliebigen unabhängigen Land ist es den Politikern verboten, Spenden aus dem Ausland anzunehmen.
In vielen Ländern sind heutzutage Wahlspenden aus dem Ausland verboten. In den 1920er Jahren war dies allerdings nirgendwo der Fall. Hier werden Äpfel mit Birnen verglichen. Auffällig ist auch die Qualifikation „unabhängig“, weil die Definition vom Autor selbst abhängt. Starikov spielt natürlich, wie wir gleich sehen werden, auf Russland an und kann Gegenbeispiele einfach mit dem „Kein echter Schotte“-Trugschluss vom Tisch wischen – jedes Land, das Wahlspenden aus dem Ausland zulässt, ist nicht unabhängig. Diese Argumentation ist eine Tautologie[2].
Unter dem Deckmantel derartiger persönlicher und gutgemeinter Spende verbergen sich mit hoher Wahrscheinlichkeit Geheimdienste des Machtkonkurrenten, die auf diesem Wege eine Marionette, d. h. ihren Favoriten an die Macht bringen wollen.
Hier formuliert der Autor eine so genannte Prämisse: hinter Spenden verbergen sich Geheimdienste, die damit Marionetten an die Macht bringen wollen. Diese Prämisse klingt auf den ersten Blick einleuchtend, ist aber eine völlig unbelegte Annahme des Autors. Es findet sich auch sofort ein Gegenbeispiel: so finanzierte die Stasi den Kampf der SPD gegen das Misstrauensvotum der CDU 1971, ohne dass Brandt deswegen eine Marionette der SED gewesen wäre – die DDR wollte die Ostpolitik stützen, von der sie sich Vorteile erhoffte. Keine Marionetten weit und breit.
Natürlich zum eigenen Vorteil und Wohle.
Dieser Sarkasmus ist ebenfalls typisch für unseriöse Werke; kein geschichtswissenschaftliches Werk enthält solche wertenden Stilblüten.
Aus diesem Grund wird jeder beliebige Staat, der seine Unabhängigkeit bewahren möchte, die Bildung verschiedener Geldanlagen und Organisationen, die von ausländischen „Menschenfreunden“ finanziert werden, sehr aufmerksam beobachten.
Hm, jeder beliebige Staat? Hat Starikov vielleicht ein „beliebiges“ Beispiel eines solchen Staates?
Bei uns (in Russland, d. Übers.) werden solche „brüderliche Gemeinschaften“ als „Nichtstaatliche Organisationen“ (NSO) bezeichnet. Warum wird diesen NSOs im modernen Russland so viel Aufmerksamkeit geschenkt? Damit die Finanzierung und Steuerung des politischen Kampfes nicht aus dem Ausland erfolgt! Das ist vernünftig und richtig. […]
Und damit sind wir beim Kern der Sache. Nichts von dem, was hier steht, hat irgendetwas mit Geschichtswissenschaft zu tun. Stattdessen gibt Starikov 1:1 die Linie des Kreml wieder. Die russische Regierung zwingt Oppositionelle, sich als „NSO“ zu registrieren, um diese dann als vom Ausland gesteuert diffamieren[3] zu können. Dadurch, dass Starikov dieses anachronistische[4] Konzept auf Hitler anwendet, schafft er eine Verbindung zwischen den zeitgenössischen Oppositionsgruppen und den Nazis.
Im Unterschied zu der heutigen Macht in der Russischen Föderation interessierte sich im damaligen Deutschland niemand von den Machthabern dafür, warum die NSDAP aus dem Ausland finanziert wird. Das Ergebnis dieser völlig fehlenden Neugierde der Macht ist allgemein bekannt: Im Jahre 1933 kam Adolf Hitler an die Macht…
Diese Kausalkette ist inhaltlich völliger Unfug: Hitler kam nicht an die Macht, weil sich niemand für seine Geldquellen interessierte, sondern weil die konservativen Eliten mit ihm gemeinsame Sache machten. Diese Kooperation unterschlägt Starikov übrigens auch im Folgenden konsequent.
Wer aus dem Ausland wollte dem kaum bekannten deutschen Politiker Geld geben? Die Historiker entwickeln dazu verschiedene Varianten und Versionen. Wer sie liest kann nur staunen.
Hier beginnt nun eine den Großteil des Buches in Beschlag nehmende Argumentationskette. Ausländische Interessen hätten Hitler finanziert. Die Frage suggeriert, dass es sich hierbei um ein ungelöstes Mysterium handle (das es nicht ist) und das nun aufgelöst werden muss. Die Selbstverständlichkeit, dass Historiker*innen unterschiedliche Interpretationen entwickeln (siehe Methodik à Einen wissenschaftlichen Text analysieren), bekommt bei Starikov einen ominösen Unterton.
„Die Partei, die sich so erfolgreich behauptete, erhielt ihre finanzielle Unterstützung auch aus tschechoslowakischen, skandinavischen und in erster Linie aus den schweizerischen Finanzkreisen“ [28], schreibt Joachim Fest, der als einer der besten Biographen des Führers bezeichnet wird.
Von wem wird er so bezeichnet? Ein Beleg dafür fehlt. Fests Hitler-Biografie, auf die sich Starikov in zahlreichen Fällen beruft, ist von 1973 und hoffnungslos veraltet. Das ist aber gar nicht das Schlimmste: das Zitat an dieser Stelle, das auf Fests Biografie verweist, ist völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Liest man die Stelle nach, die Starikov hier von Fest zitiert, so stellt man fest, mit welch verzerrender Methodik Starikov arbeitet. So stellt Fest fest, dass die Partei „von [1922] an […] zunehmend intensivere Kontakte zu einem Netz von Gönnern und Geldgebern, nicht Parteigänger im eigentlichen Sinne, sondern Vertreter der begüterten bürgerlichen Gesellschaft“[1] fand. Kontakt zu diesen erreichte die NSDAP durch ihre Zusammenarbeit mit den „klassischen“ Rechtsradikalen um Ludendorff, mit denen Hitler den Putsch ja auch ausführte und die Starikov in seiner ahistorischen Betrachtungsweise völlig ignoriert. In diesen Zusammenhang fallen auch „tschechische, skandinavische und vor allem schweizerische Finanzkreise“[2], die der Partei Geld liehen. Es ging um Unterstützung der Rechten im weiteren Sinne – und schlicht um Kredite.
Wir müssen zugeben, das ist eine ziemlich unerwartete Behauptung. […]
„Zugeben“, als ob Starikov damit widerwillig ein Zugeständnis macht – ein rhetorischer Trick, um Neutralität und Ausgewogenheit vorzuspielen.
Wozu sollten die Tschechen ihr Geld dem angehenden Fanatiker Adolf Hitler geben?
Das ist eine rhetorische Frage. Starikov will natürlich darauf hinaus, dass das keinen Sinn macht. Aber „die Tschechen“ geben ja auch kein Geld, sondern einzelne Bankiers; siehe unten.
Nichts, außer laute Auftritte in Bierkneipen und Zirkuszelten hatte der Führer bis zu diesem Zeitpunkt geleistet. Ja, seine Auftritte sind gut, ja, er ist talentiert, ja, er ist eine Bestie. Aber er ist gegenwärtig nur eine von vielen Figuren in der regionalen bayerischen politischen Szene! Ja, was ist er? Die Nationalsozialisten sind vorläufig nur eine winzige politische Gruppierung. Das schreiben die „großen Kenner“ des Dritten Reiches sogar selbst. „Bis zum Jahre 1930 waren die Nazis nur eine unbedeutende Partei, die sich an der Peripherie des politischen Lebens in Deutschland tummelte“. [29]
An diesem Absatz gibt es inhaltlich nichts auszusetzen. Natürlich waren die Nazis nur eine unbedeutende Splittergruppe. Starikov tut aber so, als hätte er damit einen Beweis für irgendetwas geliefert: „sogar“ große Kenner des Dritten Reiches schrieben das. Natürlich tun sie das; das ist ja auch ein unbestreitbares Fakt. Aber Starikov hebt es in den Bereich der Interpretation. Wenn alles unklar und unbelegt ist, wenn eine Interpretation so gut wie die andere ist, dann werden seine Behauptungen gleichberechtigt mit der wissenschaftlichen Forschung.
Welches Interesse hatten die Tschechen an den Nazis? Welchen Grund haben die Skandinavier, Hitler zu finanzieren? Wozu brauchen die Schweizer die Nationalsozialisten?
Erneut Rhetorische Fragen. Antworten werden nicht wirklich erwartet, noch gegeben. Stattdessen suggerieren sie, dass jemand ernsthaft diese Positionen vertritt. Auffällig ist die Pauschalisierung: Individuen aus den entsprechenden Ländern mögen Wahlspenden gegeben haben. Aber von hier springt Starikov direkt zu „die Tschechen“ und „die Skandinavier“, als ob die gesamten Bevölkerungen beziehungsweise ihre politischen Vertretungen einen unbedeutenden Radikalen unterstützt hätten. Dabei fällt gar nicht mehr auf, dass noch eine Seite vorher genau das von Starikov als absurd dargestellt wurde, weil „sogar große Kenner“ einsehen, dass Hitler damals unbedeutend war. Besonders albern im Falle Skandinaviens, das aus vier unabhängigen Nationen besteht, die sich hier scheinbar auch perfekt koordiniert haben sollen. Verschwörungen allerorten!
In der Regel werden wir auf diese Fragen keine Antworten von den Historikern erhalten. Es ist schwierig, sich dafür plausible Gründe auszudenken. […]
Nein, der Grund dafür ist, dass die Fragen sinnlos sind. Kein*e Historiker*in stellt solche Fragen, entsprechend gibt es auch keine Antworten.
Natürlich gibt es Wissenschaftler, die Bücher schreiben, sie in millionenfachen Auflagen verlegen und verkaufen, gut davon leben, aber die von ihnen untersuchten Probleme und Fragen nicht verstehen. Ich habe nichts dagegen, wenn Schriftsteller und Forscher gut leben. Aber ich möchte, dass sie zumindest ihre Leser respektieren! […]
Hier wird den Historiker*innen direkt unterstellt, aus monetären Motiven zu arbeiten. Derselbe Vorwurf, mit dem hier begonnen wurde – mächtige Geldgebende steuern Hitler als Marionette – wird nun gegen die Historiker*innen selbst gewandt, die ebenfalls Marionetten des Kapitals seien. Der Einzige, der noch unabhängig agiert, ist in dieser Lesart Starikov selbst, dem wir vertrauen sollen und der nichts als Respekt für seine Lesenden empfindet (die Implikation seiner Forderung nach Respekt).
Einen realen Sinn, Hitler und seine Partei zu finanzieren, sehe ich bei keinem der o. g. „Geldgeber“. Worin besteht das „Geschäft“, worin der Gewinn? Worin besteht der geopolitische Nutzen? Welchen Nutzen haben die Tschechoslowakei, Norwegen oder die Schweiz von der Wiedergeburt eines starken deutschen Staates? Überhaupt keinen! […]
Hier haben wir erneut Rhetorische Fragen; Lesende können kaum anders, als die Vorstellung zusammen mit Starikov absurd zu finden. Nur, natürlich macht das keinen Sinn; „die Tschechoslowakei“, „Norwegen“ oder „die Schweiz“ unterstützten Hitler ja auch nicht, und schon gar nicht die „Wiedergeburt eines starken deutschen Staates“, die durch Hitlers Aufstieg übrigens keinesfalls garantiert war. Das ist auch ein Kern von Starikovs argumentativem Problem, selbst wenn man seine ganzen propagandistischen Absichten weglässt: er argumentiert post facto, im Rückblick. Wir wissen heute, dass Hitler zu einem aggressiven Deutschland führte, das einen Weltkrieg begann. Das war – wie er vorher noch selbst feststellte! – aber 1923 keinesfalls absehbar! Eine Unterstützung Hitlers wäre eher eine Schwächung des bestehenden deutschen Staates, der Weimarer Republik. Starikov ignoriert entweder die Umstände des Hitler-Putsches oder er kennt sie nicht, aber Bayern war damals im Griff von Separatisten, mit denen Hitler gemeinsame Sache machte. Aber auch diese anders gelagerte Theorie wäre nichts weiter als unbelegte Vermutung; es gibt keine Hinweise auf signifikante ausländische Einflussnahme auf Hitler oder eine erfolgte Beeinflussung. Daran ändert auch das erneute Suggerieren staatlicher Verwicklung („die Schweiz“) nichts.
In seinem Buch schreibt Joachim Fest „Im Herbst 1923 ist Hitler nach Zürich gereist und kehrte von dort, wie man sagte, mit einer Kiste, gefüllt mit Schweizer Franken und Dollarscheinen, zurück“. [31] D. h., am Vorabend des Putschversuches in München hat irgendjemand dem künftigen Führer eine solide Geldsumme bereitgestellt.
Auch hier wird wieder impliziert, jemand habe Hitler gesteuert. Dabei ist aus dem Kontext des Fest-Zitats völlig offensichtlich, was hier passiert ist: die Partei brauchte zur Finanzierung ihrer politischen Arbeit Geld und lieh sich dieses (auch) bei Banken im Ausland. Dass am Vorabend des geplanten Putsches besonders großer Finanzbedarf herrscht, sollte nicht überraschen. Auch dass es sich um Schweizer Franken und Dollar handelte, überrascht Kenner*innen des zeitgenössischen Kontexts nicht: im Herbst 1923 war die Hyperinflation auf dem Höhepunkt. Hätte Hitler sich in der Schweiz Reichsmark geliehen, wären diese bei seiner Rückkehr nach Deutschland bereits wertlos gewesen. Die Methode von „Ockhams Rasiermesser“ liefert wie so oft die beste Antwort.
Uns versuchen bestimmte Wissenschaftler davon zu überzeugen, dass dies die Schweizer waren! […]
Niemand versucht so etwas, Fest spricht von „Finanzkreisen“, also einzelnen Bankiers. Die Behauptung, dass „die Schweizer“ das tun würden, ist eine unzulässige Pauschalisierung von der möglichen (!) Spende einzelner Schweizer Staatsbürger*innen für Hitler. Der Vorwurf, der hier erhoben wird, diskreditiert aber einmal mehr sämtliche Geschichtswissenschaftler*innen und lässt Starikov als einzige seriöse Quelle dastehen.
Solang wir die Tschechen und die Schweizer für die Schatzmeister der Nationalsozialisten halten, werden wir die Geschichte des Aufstieges von Hitler an die Macht und die Geschichte der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges nicht verstehen.
Glücklicherweise tun „wir“ das ja nicht. Die „Schatzmeister“ der Nationalsozialisten waren „zweifellos“ (Fest) [3] Geldgebende aus dem rechtsextremen Spektrum und die zahlenden Parteimitglieder. Hitler bekam erst signifikante Unterstützung aus anderen Bereichen, vor allem der deutschen Industrie, als die NSDAP in den Wahlen stärkste Partei geworden war und war bis zur „Machtergreifung“ von Geldsorgen geplagt. Auch dieser Kontext fehlt Starikov entweder oder wird gezielt unterschlagen; da er von Fest aber auf derselben Seite erklärt wird, die Starikov zitiert, ist eher Letzteres anzunehmen.
Warum schreiben die Hitler-Biographen einen derartigen Unsinn? Verstehen sie tatsächlich nicht die Naivität ihrer Behauptungen? Sie verstehen dies sehr wohl. Deshalb werden wir mit nichtssagenden Antworten abgespeist. […]
Erneut werden sämtliche Geschichtswissenschaftler*innen über einen Kamm geschert und ihnen unterstellt, an einer gewaltigen Verschwörung zur Unterdrückung der Wahrheit beteiligt zu sein. Wohlgemerkt, alle Hitler-Biograph*innen über mehrere Generationen. Das ist ein Musterbeispiel für Verschwörungstheorien. Die erneute Verwendung der ersten Person Plural schafft zudem wiederum eine Gemeinschaft der Lesenden mit Starikov: wir sind erleuchtet, haben eine Information, die vom Rest der (schlafenden, ignoranten) Mehrheit nicht geteilt und von einer nefariösen[11] Minderheit unterdrückt wird. Dieses Gefühl ist es, was Verschwörungstheorien so attraktiv macht.
Es gibt eine weitere interessante Variante: Hitler wurde vom französischen Geheimdienst finanziert! [33] […]
„Interessant“ ist diese Variante sicherlich, aber frei erfunden. Die Fußnote verweist auf die „Unabhängigen Zeitung“ vom 29.04.2005, was ein Beispiel für das Simulieren wissenschaftlichen Arbeitens ist: weder ist diese Zeitung eine seriöse Quelle, noch ist sie überhaupt auffindbar, noch wäre für Lesende nachvollziehbar, auf was sich Starikov bezieht. Er nennt weder Autor*in noch spezifischen Artikel oder URL. In jedem Peer-Review-Prozess würde er gnadenlos durchfallen. Bei vorher zitierten Joachim Fest, den Starikov verzerrend als Kronzeugen präsentiert, findet sich folgendes: „Die von nur wenigen Zeitgenossen begriffene oder durchschaute Entscheidung Hitlers gegen die Beteiligung am Ruhrkampf ist auch die Ursache für die immer wieder auftauchenden Gerüchte gewesen, die NSDAP habe ihre sich ausdehnenden Organisation, ihre Propaganda, Uniformierung und Ausrüstung mit Hilfe französischer Gelder finanziert, doch haben sich niemals glaubwürdige Beweise dafür aufbringen lassen, wie denn überhaupt die Frage, welche politischen oder wirtschaftlichen Interessen auf die anwachsende Partei einzuwirken versuchten, bis heute nur ansatzweise geklärt ist.“[4] Oder auch: Starikov gibt hier Wahlpropaganda der 1920er Jahre wieder, mit der damals gegen die NSDAP agitiert wurde. Es ist nichts dran.
Quelle: Starikov, Nikolay: „Wer hat Hitler gezwungen Stalin zu überfallen?“, Frankfurt, 2017. Kapitel „Wer gab Hitler Geld?“, S. 22
Fazit
Dieser kurze Ausschnitt zeigt die Vorgehensweise von Verschwörungstheoretiker*innen exemplarisch auf.
- Durch Suggestivfragen wird der Eindruck erweckt, dass es ein ungeklärtes Geheimnis gibt, für das eine Propaganda-Erklärung geboten werde. Hier ist das die Idee, dass die Geldquellen der NSDAP ein ungelöstes Geheimnis seien, dessen Beantwortung von der Geschichtswissenschaft unterdrückt werde.
- Das Insinuieren, die Wahrheit werde unterdrückt, schafft eine Gemeinschaft zwischen Autor*in und Lesenden gegen den wissenschaftlichen Konsens.
- Bestimmte Fakten werden überinterpretiert. So führt die faktisch richtige Feststellung, dass die NSDAP Geldmittel aus dem Ausland erhielt, zu der faktisch nicht haltbaren Schlussfolgerung, sie sei vom Ausland gesteuert worden.
- Häufig beruht die Argumentation auf einer post-facto-Betrachtung: mit dem Wissen über den Verlauf historischer Ereignisse wird rückwirkend argumentiert. Wir wissen, dass Hitler die Macht übernahm und den Zweiten Weltkrieg auslöste. Das war 1923 aber nicht absehbar. Wer ihn 1923 unterstützte, wollte also nicht zwingend den Krieg auslösen.
- Der wissenschaftliche Konsens wird delegitimiert, indem er zu einer Meinung reduziert wird. Wenn wir nicht genau wissen können, was wahr ist und was nicht, dann ist jeder Erklärungsansatz gleichberechtigt. Das ist aber nicht der Fall. Während wissenschaftliche Ansätze belegbar und falsifizierbar sind, bieten die Verschwörungstheoretiker*innen zwar Möglichkeiten und Fragen, haben aber keine Belege, sondern bestenfalls Indizienbeweise, die sie dann zu Beweisen aufstufen.
- Die Wissenschaft wird weiter delegitimiert, indem ihr Motive unterstellt werden – also behauptet, dass nicht wissenschaftliche Erkenntnisse vorgebracht, sondern eine Agenda verfolgt wird. Das ist Projektion, denn Verschwörungstheoretiker*innen tun genau das. Dadurch, dass sie es der Wissenschaft vorwerfen, trüben sie einmal mehr die Gewässer: wenn alle eine Agenda verfolgen, ist alles nur Meinung, und dann kann ich mir aussuchen, was mich auf Basis meiner Vorannahmen mehr überzeugt.
- Sofern überhaupt Belege gebracht werden, sind diese häufig bewusst aus dem Zusammenhang gerissen. Genau dieser fehlende Kontext wird dann mit Suggestivfragen wieder gefüllt.
- Die Texte enthalten aber trotzdem eine große Menge Fußnoten, weil diese Wissenschaftlichkeit suggerieren. Dabei handelt es sich aber sehr häufig um eine reine Simulation von Wissenschaftlichkeit. Ein Beispiel dafür war die Fußnote 33 aus dem obigen Text, die keinerlei wissenschaftlichen Anspruch erfüllt. Die zitierten Quellen sind meist auch ihrerseits nicht seriös, sondern aus demselben verschwörungstheoretischen Umfeld und schaffen so einen tautologischen Zirkelbezug.
- Die Kritik der Wissenschaft an den Texten wird als Beleg dafür verstanden, dass man etwas auf der Spur ist, weil ja bereits vorher etabliert wurde, dass diese ihrerseits eine Verschwörung aufgebaut hat, um unliebsame Informationen zu verheimlichen und unbequeme Fragen zu unterdrücken.
- Das Fragen bleibt auch immer die Rückzugslinie der Verschwörungstheoretiker*innen: werden sie mit Belegen konfrontiert, können sie sich stets auf die Linie zurückziehen, nur Fragen zu stellen. Das ist aber nicht, wie wissenschaftlich gearbeitet wird.
Die Fähigkeit, echte geschichtswissenschaftliche Texte und Arbeitsweisen von solchen Machwerken zu unterscheiden, ist essenziell. Leider sind einige oder sogar alle der gezeigten Probleme, vor allem das Überbewerten einzelner Aspekte oder aus dem Kontext Reißen in der Populärwissenschaft weit verbreitet. Vorsicht ist daher geboten.
[1] Fest, Joachim: Hitler. 1973, S. 241
[2] Fest, Joachim: Hitler, 1973. S. 241
[3] Fest, Joachim: Hitler. 1973, S. 240f.
[4] Fest, Joachim. Hitler. 1973, S. 239
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