Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Ist »Longtermism« die Rettung – oder eine Gefahr?

Der Philosoph Phil Torres dagegen hat Longtermism in einem viel beachteten und diskutierten, durchaus polemischen Essay gerade als »üppig finanziert und zunehmend gefährlich« bezeichnet. Die Longermists seien technologiegläubig und, weil sie den Wert künftiger, noch ungelebter Leben ebenso hoch ansetzen wollten wie den heute lebender Menschen, teilweise zynisch und menschenverachtend. Longtermism sei eine »säkulare Religion«.  [...] Ein Mitglied der Szene schätzt, dass derzeit 46 Milliarden Dollar bereitstehen, um in Projekte des »effektiven Altruismus« investiert zu werden.  [...] Longtermism und effektiver Altruismus sind derzeit die bei vielen Reichen aus dem Silicon Valley wohl populärsten Denkschulen. Eng verknüpft sind sie wiederum mit Transhumanismus, also der Vorstellung, dass der Mensch sich technologisch selbst verbessern könnte und anderen Zukunftsvisionen, die sämtlich vor allem nach Science-Fiction klingen. Denkt man all das mit den Unsterblichkeitsfantasien von Leuten wie dem Milliardär und bekennenden Trump-Fan Peter Thiel und den Weltraumabenteuern von Superreichen wie Musk und Jeff Bezos zusammen, ergibt sich ein unangenehmes Gesamtbild: Kann es sein, dass die ultrareichen Finanziers der Longtermism-Idee daran vor allem eins mögen: dass sie eine gute Ausrede zu sein scheint, sich nicht mit dem Leid und den existenziellen Gefahren der Gegenwart beschäftigen zu müssen? Sondern lieber mit den eigenen Hobbys? Schließlich geht es doch um »das Potenzial der Menschheit«, nichts Geringeres? (Christian Stöcker, SpiegelOnline)

Eine weitere Folge in der beliebten Reihe, warum Milliardäre ein echtes Problem sind und wesentlich zu viel Einfluss besitzen. Radikale Ideen, gepaart mit viel zu viel unproduktivem Kapital, dazu ein gehöriger Schuss Hybris und Egomanie, und fertig sind die Organisationen, die die Welt in ihrem Sinne umzugestalten gedenken. Und im vorliegenden Fall haben wir es ja vor allem mit der cringe-würdigen Hobby-Philosophiererei von Leuten zu tun, die glauben, qua persönlichem Vermögen auch zur intellektuellen Elite zu zählen, und die damit Kollateralschäden anrichten. Viel schlimmer sind Leute wie die Koch-Brüder, die aktiv destruktive Agenden verfolgen und mit ihren Milliardenvermögen durchsetzen..

2) Few willing to change lifestyle to save the planet, climate survey finds

The survey found that 62% of people surveyed saw the climate crisis as the main environmental challenge the world was now facing, ahead of air pollution (39%), the impact of waste (38%) and new diseases (36%). [...] About 36% rated themselves “highly committed” to preserving the planet, while only 21% felt the same was true of the media and 19% of local government. A mere 18% felt their local community was equally committed, with national governments (17%) and big corporations (13%) seen as even less engaged. Respondents were also lukewarm about doing more themselves, citing a wide range of reasons. Most (76%) of those surveyed across the 10 countries said they would accept stricter environmental rules and regulations, but almost half (46%) felt that there was no real need for them to change their personal habits. [...] Asked which actions to preserve the planet should be prioritised, moreover, people attributed more importance to measures that were already established habits, required less individual effort, or for which they bore little direct responsibility. About 57%, for example, said that reducing waste and increasing recycling was “very important”. [...] Respondents viewed measures likely to affect their own lifestyles, however, as significantly less important: reducing people’s energy consumption was seen as a priority by only 32%, while favouring public transport over cars (25%) and radically changing our agricultural model (24%) were similarly unpopular. (Jon Henley, The Guardian)

Natürlich sind diese Ergebnisse eine Katastrophe. Wenn bereits jetzt eine große Mehrheit der Überzeugung ist, sie könne stolz auf ihre Leistungen zur CO2-Reduktion sein, spricht das für eine kollektive Selbsttäuschung von eklatantem Ausmaß, die gerade im Hinblick auf die kommenden Disruptionen - wir diskutierten jüngst die CO2-Steuer - nicht eben optimismusfördernd ist.

Mich erinnert das auch an die Selbsteinschätzung der eigenen Fähigkeiten hinterm Steuer, die von rund 90% der Autofahrenden als "überdurchschnittlich" eingestuft werden. Man geht davon aus, dass man selbst besser als die (nebulöse) Mehrheit ist und suhlt sich in einer selbstvergewissernden Überheblichkeit, die vor allem die Legitimation gibt, nichts am eigenen Verhalten zu ändern. Auch wenn man beständig andere Verkehrsteilnehmende schneidet oder gefährdet, da gibt es nichts zu ändern, weil man ja schon besser fährt als die meisten. Gleiches beim Klima: Man leistet ja schon mehr, jetzt sollen mal andere ran. Das funktioniert auf der individuellen Ebene genauso gut wie auf der staatlichen, wo das Narrativ von "Deutschland tut schon so viel für's Klima" erstaunliche Beharrungskräfte aufweist, obwohl es wenig mit der Realität zu tun hat.

Die Umfragen bestätigen auch, was ich in meinem Artikel zur CO2-Steuer geschrieben habe: die notwendigen Veränderungen werden von der Mehrheit abgelehnt und bekämpft. Man muss sich nur einmal die Zahlen anschauen. Eine knappe Mehrheit lässt sich für so minimalinvasive Maßnahmen wie Mülltrennung gewinnen, die zwar gut für die Umwelt, für den Klimaschutz aber weitgehend irrelevant sind. Bereits bei offensichtlichen, generisch-allgemeinen Maßnahmen wie der Reduzierung des Energieverbrauchs, die völlig offensichtlich notwendig sind und durch eine CO2-Steuer ja auch klar inzentiviert würden, stimmt nur noch ein knappes Drittel zu; common-sense-Maßnahmen wie einer Umgestaltung der industriellen Landwirtschaft oder dem motorisierten Individualverkehr nur noch jeder Vierte. Und das ist, bevor es tatsächlich konkret wird, und jeder konkrete Streit senkt üblicherweise die Zustimmungsraten noch einmal drastisch. Ein düsteres Bild.

3) Vollkommen losgelöst von der Realität

In Deutschland ist die Wahrnehmung von Kriminalität seit Jahren vollkommen entkoppelt von der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung. Während in der Befragung der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) fast zwei Drittel von einer starken bis sehr starken Zunahme der Kriminalität in den letzten fünf  Jahren ausgehen, schätzen nur sechs Prozent der Befragten die Kriminalitätsentwicklung realistisch ein. Diese Zahlen decken sich mit einer Umfrage aus dem Jahr 2016, in der mehr als zwei Drittel der Befragten von dieser Fehlannahme ausgingen. [...] Zwei Drittel der Befragten in der KAS-Studie gehen zudem davon aus, dass Kriminalität ein großes oder sehr großes Problem sei. Bei den über 65 Jahre alten Menschen sind es sogar mehr als drei Viertel, die das so sehen. Dabei ist diese Altersgruppe am wenigsten von Kriminalität betroffen, wie der Sicherheitsbericht feststellt. [...] Die Angst vor Kriminalität hat ein politisches Betätigungsfeld geschaffen, in dem Innenpolitiker „anpacken“ und Handlungsbereitschaft mit immer neuen Maßnahmen zeigen können. Denn da, wo Bürger:innen ein Problem sehen, können Politiker:innen etwas gegen das Problem tun. Auch wenn das Problem in der Realität immer kleiner und kleiner wird. In einem der sichersten Länder der Welt. (Markus Reuter, Netzpolitik.org)

Das ist kein neues Phänomen. Die Wahrnehmung von Kriminalität ist schon seit mindestens 20, eher 30 Jahren eine von gefühlten Wirklichkeiten. Ich würde für die Erklärung dieses Phänomens gar nicht so sehr das "cui bono" bemühen. Klar profitieren die Boulevard-Medien von den Horrorstories, klar profitieren Innenpolitiker*innen von dem Druck hinter ihren Forderungen. Aber letztlich ist das Narrativ einfach nur wahnsinnig attraktiv.

Genauso wie die im vorletzten Vermischten angesprochene "moral panic" über Squid Game ist die Erregung über angeblich steigende Kriminalität einfach nur ein super Gesprächsthema. Man kann sich ein bisschen gruseln, sich der eigenen Überlegenheit bestätigen, jeder und jede kann irgendwas dazu sagen, man kann über die Jugend von heute schimpfen und über Migrant*innen, und am Ende ist wie in eine warme Decke der Selbstsicherheit gehüllt, eine Bastion der Ruhe und Ordnung in einer chaotischen Welt zu sein.

4) Tweet

Wir beantwortet man diese Fragen „falsch“—abgesehen davon, dass der potentielle Arbeitgeber mindestens eine davon gar nicht stellen darf? https://t.co/on1PrrJeFm

— Marcel Lewandowsky (@mlewandowsky) November 8, 2021

Ein weiteres Lieblingsthema von mir ist das Betrachten des Arbeitsrechts als allenfalls grobe Richtlinien durch die Arbeitgebenden. Zahlreiche Gesetze zum Schutz der Arbeitnehmenden beziehungsweise zu ihrem Vorteil werden gerne ignoriert oder bewusst gebrochen, wenn es den eigenen Interessen dient, die gerne selbstherrlich mit denen der Gesellschaft gleichgesetzt werden. Ob es darum geht, dass Vorgesetzte im Bewerbungsgepräch oder im Betrieb Frauen nach ihrem Schwangerschaftsstatus fragen, ob die Bildung von Betriebsräten verhindert wird, ob Überstunden nicht (richtig) abgerechnet werden, ob Arbeitszeitregelungen gebrochen werden, ob Ansprüche auf Gesundheitsschutz nicht gewährt werden, an allen Ecken und Enden kommt dem Arbeitsrecht ungefähr der Status der Straßenverkehrsordnung zu.

Ein weiteres "hobby horse", das ich in dem Zusammenhang habe, ist die vollständige Unseriosität der Personalerbranche. Ich habe das immer wieder im Unterricht, wenn Schüler*innen um Hilfe für ihre Bewerbungen oder Bewerbungsgespräche bitten und fragen, ob dieses oder jenes gut oder schlecht ankommt. Meine Antwort ist, sofern es nicht um grobe Formverstöße geht, meist ein hilfloses Schulterzucken. Wer weiß das schon? Diese Entscheidungen sind grotesk intransparent, niemand weiß wirklich nach welchen Kriterien Bewerbungen gesichtet werden, und letztlich ist es ein willkürlicher, von Glück und Zufall bestimmter Prozess.

Nicht, dass Notengebung an der Schule viel anders wäre, nebenbei gesagt.

5) The New Puritans

And today we are not just hip and modern; we live in a land governed by the rule of law; we have procedures designed to prevent the meting-out of unfair punishment. Scarlet letters are a thing of the past. Except, of course, they aren’t. Right here in America, right now, it is possible to meet people who have lost everything—jobs, money, friends, colleagues—after violating no laws, and sometimes no workplace rules either. Instead, they have broken (or are accused of having broken) social codes having to do with race, sex, personal behavior, or even acceptable humor, which may not have existed five years ago or maybe five months ago. Some have made egregious errors of judgment. Some have done nothing at all. It is not always easy to tell. [...] Still, no one quoted here, anonymously or by name, has been charged with an actual crime, let alone convicted in an actual court. All of them dispute the public version of their story. Several say they have been falsely accused; others believe that their “sins” have been exaggerated or misinterpreted by people with hidden agendas. All of them, sinners or saints, have been handed drastic, life-altering, indefinite punishments, often without the ability to make a case in their own favor. [...] Here is the first thing that happens once you have been accused of breaking a social code, when you find yourself at the center of a social-media storm because of something you said or purportedly said. The phone stops ringing. People stop talking to you. You become toxic. [...] Here is the second thing that happens, closely related to the first: Even if you have not been suspended, punished, or found guilty of anything, you cannot function in your profession. (Anne Applebaum, The Atlantic)

Ich kann der Kritik an diesen Auswüchsen wenig entgegenstellen. Klar ist das scheiße. Klar sollte das nicht existieren. Mein Problem mit diesem Text und anderen Texten dieser Art ist ein anderes, das ich in meinem Artikel zur Cancel-Culture-Debatte aufgeworfen habe: Das war schon immer so, es trifft jetzt aber andere Gruppen. Schon immer wurden aggressiv bestimmte Normen eingehalten, schon immer wurden Menschen, die gegen Normen verstießen, durch soziale Ausgrenzung, berufliche Vernichtung und Schlimmeres bestraft. Die im Artikel geschilderten Probleme sind gegenüber Leuten, die etwa in den 1950er Jahren in den USA Sympathisanten des Sozialismus waren, in den 1940er Jahren eine Mischehe führen wollten oder sich in den 1930er Jahren gegen Lynchmorde aussprachen, völlig harmlos.

Das macht es natürlich keinen Deut besser, und entsprechend dem Konzept ideologischer Nachbarschaft ist es auch die Aufgabe der Progressiven, gegen Auswüchse in ihrem Lager entschieden vorzugehen und diese zu verurteilen, eine Verantwortung, an der ich in der Vergangenheit sicher auch oft genug gescheitert bin und in Zukunft scheitern werde. Aber zu glauben, das Phänomen wäre neu, besonders stark verbreitet oder gar spezifisch links ist ein Irrtum, der nur in ideologische Schützengräben führt und Lösungen verbaut.

Ich halte es, neben den ideologischen Dimensionen, weiterhin für ein Kernproblem, dass die Gesellschaft Fehler nicht ermöglicht und Entschuldigungen nicht akzeptiert. Auch die Neigung, das Arbeitsrecht zur politischen Hexenjagd zu missbrauchen, ist der relevante Fall. Ich finde es gut und richtig, dass Leute, die etwa rassistische Äußerungen tätigen, sich sexistisch verhalten oder Ähnliches, dafür kritisiert werden Ich finde es völlig falsch, diese dann als Rassisten oder Sexisten zu bezeichnen, ist doch Rassismus wie Brokkoli. Genauso falsch ist es, deren berufliche Existenz deswegen vernichten zu wollen. Das Ziel muss sein, dass sie ihren Fehler einsehen und ihn künftig vermeiden. Dazu muss ich Leute weder dauerhaft an den Pranger stellen noch für ihre Kündigung sorgen.

6) Wir befinden uns im Krieg

An der Seegrenze zwischen der Türkei und Griechenland versuchen Menschen in Schlauchbooten von der Türkei aus, die ägäischen Inseln zu erreichen und werden auf dem Wasser an der Weiterfahrt gehindert. Die griechische Küstenwache fängt die Schlauchboote ab, beschädigt sie und lässt die manvövrierunfähigen Boote in Richtung Türkei zurücktreiben. Vermehrt kommt es auch dazu, dass die Schutzsuchenden auf Rettungsinseln gesetzt werden, die dann orientierungs- und hilflos in der Nacht auf dem Wasser zurückgelassen werden. Im Oktober 2021 hat ein Team aus Investigativjournalistinen noch einmal klarer belegen können, dass hier eine Spezialeinheit der griechischen Küstenwache die Menschen unter Androhung von Gewalt daran hindert, einen Asylantrag in der Europäischen Union stellen zu können. Mittlerweile ist dieses Vorgehen zu einer solchen Routine geworden, dass die türkische Küstenwache alle durch die Pushbacks erzeugten Seenotrettungsfälle dieser Art auf einer eigens angelegten Website mit dem einschlägigen Titel „Pushback Incidents“ sammelt. [...] Auch auf dem Balkan, in den Grenzregionen rund um Bosnien, Kroatien und Ungarn kommt es immer wieder und immer häufiger zu Pushbacks. Menschen auf der Flucht versuchen dort über die sogenannte „grüne Grenze“ zu kommen und werden nach einigen Kilometern innerhalb der Europäischen Union aufgegriffen, brutal zusammengeschlagen und unter Androhung von Gewalt wieder zurück nach Bosnien gebracht. Die Zahlen und die Entwicklungen der letzten Jahre sind beeindruckend und schockierend. [...] Um zu verhindern, dass Menschen erfolgreich die lebensgefährliche Fluchtroute über das zentrale Mittelmeer nach Italien, Malta und Spanien hinter sich bringen können, finanziert die Europäische Union die libysche Küstenwache – die Fluchtroute beginnt meist in Libyen – die wiederum sogenannte „Pullbacks“ durchführt. (Michael Schneiß, Verfassungsblog)

Die massiven Rechtsbrüche an den EU-Außengrenzen sind, leider Gottes, keine Neuigkeit. Ich weiß nicht, ob ich von einem "Krieg" sprechen würde. Doch, ich weiß es, so gesehen, das war nur ein Stilmittel: Ich würde es nicht tun. Schließlich schießen die EU-Grenzschützenden nicht auf Flüchtende, schließlich findet kein Völkermord statt, schlussendlich sind Kriege eigentlich ohnehin nur zwischen Staaten möglich. Nein, was hier passiert ist banaler. Es ist ein kollektiver, massiver und völlig unsanktionierter Rechtsbruch, der durch die Politik aller Staaten bewusst herbeigeführt wird. Die deutsche Regierung ist genauso schuldig wie die EU-Kommission, die griechische Regierung genauso wie die belgische.

Es ist auch ein weiterer Beleg dafür, dass sonst mit solcher Verve vorgetragene Überzeugungen eben doch meist viel weniger wert sind, als man annehmen könnte. Dieselben Konservativen und Liberalen, die ob der Verletzungen des Maastricht-Vertrags oder den Maßnahmen der EZB in einen rechtschaffenden Moralfuror verfallen und ihren Kontrahenten (gerne auch hier im Blog) mangelnde Rechtsstaatlichkeit vorwerfen, haben sehr viel weniger Probleme mit den planmäßigen Rechtsbrüchen, solange diese die Zahlen der Geflüchteten in Europa niedrig halten.

7) The Right’s Total Loss of Proportion

After some House progressives refused to vote for the package, Speaker Nancy Pelosi relied on 13 Republicans to help eke the plan through. Suffice it to say that those 13 Republicans—mostly moderates or those representing swing districts—have not been hailed as exemplars of pragmatic policy making. Democrats have little incentive to praise their political opponents. Voters have sent them vitriolic and threatening messages, which is no less acceptable for the fact that it is utterly predictable. But all of that is relatively mild compared with the incensed backlash that has come from fellow Republicans in Congress and the conservative press. “Any Republican that votes yes to an infrastructure bill that helps Biden pass his agenda when bumbling Biden doesn’t even know what he’s doing, then that Republican is a traitor to our party, a traitor to their voters, and a traitor to our donors,” Representative Marjorie Taylor Greene said ahead of the vote. Afterward, she accused the 13 Republicans of backing “Joe Biden’s Communist takeover of America.” [...] Even as Republican members clamor for their colleagues to be stripped of their committee assignments, the only Republican member who has been formally punished by the caucus in the aftermath of January 6 is Liz Cheney, who committed the cardinal sin of joining Democrats’ select committee to investigate the attacks. When House Majority Leader Kevin McCarthy’s poison-pill appointments of pro-insurrection lawmakers to the panel were rejected, Cheney broke ranks. She was quickly removed as House GOP conference chair. (Cheney, for her part, voted against the infrastructure bill.) If you find it easier to know what you think about a spending bill than an attempt to overturn an election, or if the former makes you angrier than the latter, you’ve decided that party matters more than country. (David A. Graham, The Atlantic)

Ich bin mir nicht sicher, ob ich einen akuten "loss of proportion" sehe; diese Haltung eint die GOP bereits seit 2009. Komplette, destruktive Opposition mit der Erzwingung absoluter Disziplin in den eigenen Reihen wurde bereits durch die komplette Obama-Ära betrieben, da ist nichts Neues. Natürlich ist es immer wieder gut, wenn das in Mainstream-Medien wie dem Atlantic explizit festgestellt wird, und besonders, dass auch der Hinweis kommt dass das eben kein Fall von "both sides are doing it" ist, denn die Democrats waren unter Trump sehr gesprächsbereit und haben Abgeordnete, die wie Joe Manchin manchmal für Trump-Maßnahmen stimmten, nie derart angegangen.

8) North Carolina Republicans Passed A Heavily Skewed Congressional Map. How Will The Courts Respond?

North Carolina’s previous congressional map — which is to say, the one used in last year’s election — already gave Republicans eight seats and Democrats five seats in a state President Biden lost by just 1 percentage point, but the new map gives the GOP an even greater advantage. According to our analysis, it creates 10 Republican seats, three Democratic seats and one highly competitive seat. The approved map has an efficiency gap of R+20.1, up 11.6 points from the old map, which had an efficiency gap of R+8.5. (Efficiency gap is a measure of which party has more “wasted” votes, i.e., votes that don’t contribute toward a candidate winning. This means that the new map is more than twice as efficient for Republicans as the old map, which was already pretty efficient for them.) Under the new map, North Carolina’s median congressional district is also now 11.4 points redder than the state as a whole. In other words, Democrats would have to win North Carolina by 11.4 points just to win half its congressional seats. [...] This isn’t the first time North Carolina has drawn maps that favor one group over others. During the 2010s, the state had two maps thrown out in court due to racial and partisan gerrymandering. Following the initial map in 2011, the courts ruled in 2016 that the state’s map had been racially gerrymandered to disadvantage Black voters in the state, a decision that was upheld by the Supreme Court. Then, in 2019, a state court panel threw out North Carolina’s 2016 map because it was ruled a partisan gerrymander that gave Republicans an advantage. (Mackenzie Wilkes, 538)

Und wo wir gerade bei den Machenschaften der Republicans sind (Fundstück 7): Auch das aggressive Gerrymandering ist nichts Neues, und in North Carolina schon gar nicht. Der Staat ist bereits Jahren an der absoluten Vorfront der Wählendenunterückung, da können die Republicans noch so viele Niederlagen vor Gericht erleiden. Der Staat mag eine besonders krasse Variation dieses Problems sein, aber ein Problem ist es vielerorten. Und ja, in dem Fall machen es auch Democrats, wo sie die Macht dazu haben, wenngleich nicht auf diese heftige Art und Weise. Aber das gehört zu den vielen systemischen Problemen des amerikanischen Staatsaufbaus.

9) Democrats are learning a vintage lesson about inflation

Such thinking even had the imprimatur of the lodestar of center-left econ punditry: "Don't worry about inflation: Why fears of the return of 1970s-style inflation are overblown," directed a Vox headline from July. And Larry Summers, a Democratic-leaning economist who expressed inflation concerns about the Biden agenda, was roundly mocked by lefty pundits. Democrats are now learning the hard way, however, that economic analysis should never be confused with political analysis. Recent polls are suggesting inflation doesn't need to be "great" or long-lasting to sour voters on the economy, even a fast-growing economy in which unemployment is falling. [...] The psychology of rising prices is a strange one. Even if wages are rising as fast, or even faster, an inflation upturn can unnerve people. [...] No president or incumbent party likes it when the Fed starts a tightening cycle in an election year given the risks rising rates present to the stock market and economy. The recent gubernatorial elections in New Jersey and Virginia gave Democrats plenty to worry about next year. Inflation is now giving them even more. And those concerns are likely here to stay. (James Pethokoukis, The Week)

Ich habe wenig Zweifel daran, dass die Inflation, höflich ausgedrückt, kein Gewinnerthema für die regierende Partei ist, gleich welche der beiden. Meine Vermutung wäre, dass sich der Effekt in Grenzen hält, solange die Wirtschaft boomt (was aktuell der Fall ist), aber wenn das Wachstum sich abkühlt, wird die Unzufriedenheit ziemlich schnell ziemlich stark steigen. Und dann wird sich einmal mehr bewahrheiten, dass es "the economy, stupid" ist, die vor allem anderen Wahlentscheidungen treibt, und dass es den meisten Leuten dabei recht egal ist, was Ökonom*innen dazu sagen - die gefühlten Wirklichkeiten triumphieren.

10) "Ich hoffe, dass man nicht wieder Schulen schließt" (Interview mit Christian Drosten)

ZEIT: Finden Sie die Abwägung zwischen dem Infektionsrisiko und den Schäden von Kindern im Lockdown legitim?

Drosten: Natürlich. Aber wie die Abwägung ausfällt, kommt auf die Welle an, die man betrachtet. In der zweiten Welle war die Situation eine ganz andere. Wir hatten eine hohe Infektionsdichte, viele Menschen waren bereits gestorben. Die Schulschließungen haben die zweite Welle gestoppt. Die Schulen waren das Zünglein an der Waage.

ZEIT: Hätte es auch da Alternativen gegeben?

Drosten: Man hätte auch sagen können, die Schulen bleiben offen, aber wir setzen richtig harte Homeoffice-Kriterien im Dienstleistungsbereich durch. Wir nehmen die Wirtschaft in die Pflicht, nicht die Schulen. [...]

ZEIT: Und halten Sie das [eine Kampagne für Booster-Impfungen] noch für machbar?

Drosten: Ich halte das infektionsbiologisch für sinnvoll. Neben dem Schutz der Alten würde man wahrscheinlich den Übertragungsschutz wieder zurückerobern, dann wird die Inzidenz rapide sinken. Besser wäre es noch, wenn man beides machen würde: boostern und Impflücken schließen. Aber das ist Sache der Politik. Ich fordere hier wohlgemerkt gar nichts, und ich will auch nicht suggerieren, dass Boostern allein das Problem lösen könnte. Die Zeit ist dafür wahrscheinlich ohnehin zu knapp.

ZEIT: Aber Sie sagen, was jetzt geboten wäre: Boostert! Schließt die Impflücken! Da gibt es allerdings eine Bevölkerungsgruppe, die sich verweigert.

Drosten: Ja. Aber wir haben auch die meisten Menschen durch eine Anschnallpflicht dazu gebracht, sich beim Fahren vor dem Unfalltod zu schützen. Als die eingeführt wurde, haben sich auch viele aufgeregt.

ZEIT: Egal, mit welcher Partei wir sprechen, alle sagen, eine Impfpflicht sei politisch nicht durchsetzbar. Was dann?

Drosten: Immunitätslücken schließen ist ein mittelfristiges Ziel. Kurzfristig muss man die Zahl der Neuansteckungen verringern. Die derzeitigen Forderungen nach Testung finde ich problematisch. Damit suggeriert man der Politik wieder einmal eine vermeintliche Lösung, deren Umsetzung nicht realistisch ist. So wie letztes Jahr das "Abschirmen der Altersheime". Für einen spürbaren Testeffekt auf Bevölkerungsebene bräuchten wir wieder zehn Millionen Tests pro Woche wie im Frühjahr. Und eine PCR-Testung als Ausweg für die Impfunwilligen ist durch Logistik und Zeitverzug unrealistisch.

ZEIT: Wo ist der Ausweg?

Drosten: Mangels Alternativen wird man wegen der Ungeimpften wieder in kontakteinschränkende Maßnahmen gehen müssen. Ob das juristisch zu halten ist, weiß ich nicht. Übrig bleibt dann das 2G-Modell, also ein Lockdown für Ungeimpfte. Ob das noch im November die Inzidenz senkt – ich habe da meine Zweifel. In jedem Fall hoffe ich, dass man nicht wieder Schulen schließt. Das wäre eine verhältnismäßig leicht umsetzbare Maßnahme. Für die Politik ist das viel leichter, als zu sagen: Jetzt machen wir eine Homeoffice-Pflicht. Und die Folgen für Gastronomie und Handel, kurz vor Weihnachten, darüber möchte ich jetzt gar nicht nachdenken. ( /, ZEIT)

Ich habe aus diesem sechsseitigen (!) Interview nur zwei Aspekte herausgegriffen. Ich empfehle es zur kompletten Lektüre.

Aspekt Nummer 1 ist die Frage der Schulen. Der deutsche Staat macht seine komplette Verachtung gegenüber Kindern und Jugendlichen einerseits und Familien andererseits während der Pandemie immer wieder deutlich, und die konstante Weigerung, auch nur die zartesten Verpflichtungen gegenüber den Unternehmen auszusprechen, um umso drakonischer in das Leben der jungen Menschen einzugreifen, ist ebenso offensichtlich wie abstoßend.

Aspekt Nummer 2 ist das ständige Verzögern von Handlungen, deren Notwendigkeit völlig offensichtlich auf uns zukommt. Wie versetzungsgefährdete Schüler*innen handelt die Politik solange nicht, bis alles zu spät ist und die Verantwortung für das Geschehen aus den Händen genommen ist. Gerne verfällt man dann in hektische Betriebsamkeit und erfindet Ausreden, aber machen kann man ja, leider, leider, nichts. Auch das ist ebenso parteiübergreifend wie abstoßend.

11) Heavy Metal

Genau so soll, genau so muss es sein. Die ganz normalen Leute, die hart arbeiten, jeden Tag rackern, haben in den vergangenen Jahrzehnten kaum mehr Lohnzuwächse gesehen. Deswegen fühlt sich die Inflationsrate auch höher an als sie ist. Sie ist immer noch niedriger als in früheren Zeiten, als es für alle aufwärts ging – nur damals stiegen auch die Löhne stärker. Nun ist das mit den Metallern und ihrer Gewerkschaft so eine Sache: traditionell geben sie einmal ein Maß vor, einen Richtwert. Andererseits können viele Branchen nicht so viel Druck machen wie die Metaller: bei den Arbeitern und Angestellten in der Metallindustrie gibt es immer noch eine starke gewerkschaftliche Vertretung, die Beschäftigten arbeiten gemeinsam in einer Fabrik, oft hunderte, oft sogar tausende. Man kennt sich da, hält zusammen, bringt Kampfkraft auf die Waagschale und es gibt auch noch einen Facharbeitermangel, der sich gewaschen hat. [...] Es ist Zeit für mehr Solidarität. Denn wenn jeder und jede für sich alleine ums Überleben rennt, dann bleiben am Ende alle über. Wer gute Arbeit leistet, soll ordentlich bezahlt werden. Wer rackert, muss davon zumindest einigermaßen über die Runden kommen. Der Abschluss bei den Metallern ist prima, aber eigentlich ist noch viel wichtiger, dass in anderen Branchen, in denen die Einkommen kaum mehr zum Leben reichen, die Gewerkschaften ordentliche Abschlüsse hinkriegen. Dafür brauchen sie Rückenwind und damit „uns“ – also die öffentliche Meinung, ein Meinungsklima in der Bevölkerung, das sagt: Legt mal bei denen ordentlich drauf, die es am meisten brauchen. (Robert Misik)

In meinem Grundatzartikel zur Ungleichheit hatte ich seinerzeit bereits auf die Bedeutungen von Gewerkschaften hingewiesen. Wo Beschäftigte gut organisiert sind, ist auch ihre Verhandlungs- und Machtposition gegenüber den Arbeitgebenden wesentlich stärker als dort, wo der Organisationsgrad gering ist. Wenn es der Linken, vor allem aber der Sozialdemokratie, ernst ist mit dem Ziel, die Ungleichheit zu reduzieren, dann sollten sie darin ansetzen, den Organisationsgrad zu heben, wo sie nur können.

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