Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Komplett daneben

Als Burkard Dregger am Donnerstagvormittag vor die Berliner Abgeordneten tritt, mag seine Absicht eine gute sein. Und auch der Anlass ist gegeben: Im Plenum des Abgeordnetenhauses wird an diesem Donnerstag, dem ersten Jahrestag des rassistischen Terroranschlags im hessischen Hanau, der Opfer gedacht. Doch die Rede des Berliner CDU-Fraktionsvorsitzenden geht völlig daneben. Er leitet damit ein, dass er mit der „gleichen Abscheu“ auf die Hanauer Tat blicke wie auf islamistische Terroranschläge in Dresden, Paris, Nizza und Wien. Es erscheint fraglich, ob die Angehörigen und Freunde der Hanauer Opfer sich ernst genommen und angesprochen fühlen durften, als Dregger dann sagte, ihre Tränen flössen „genau so wie bei den Hinterbliebenen des Terroranschlages auf unseren Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche“. Was haben die deutschen Opfer des rechtsextremistischen Täters mit Islamismus zu tun? Ist es, weil ihre Namen für Dregger irgendwie ausländisch klingen? In der Hanauer Shishabar wurden vor einem Jahr Deutsche getötet, weil sie einem anderen Deutschen nicht deutsch genug aussahen, klangen, waren. Dreggers Vorschlag, um solche Spaltungsversuche zu verhindern? „Zeigen wir noch deutlicher als bisher die vielen guten Beispiele gelungener Integration, nicht nur die berühmten Erfinder des Impfstoffes von Biontech, sondern die vielen stillen Helden des Alltags.“ [...] Dass in Dreggers Rede zu einem rassistischen Anschlag auch der Verweis auf den Linksextremismus nicht fehlen durfte – in Form der bahnbrechenden Erkenntnis, dass jede Form des Extremismus „schlecht“ sei – war bei so viel taktloser Gleichmacherei fast schon egal. (Margharete Gallersdörfer, Tagesspiegel)

Die Obsession der CDU mit Linksextremismus ist echt merkwürdig. Nicht einmal wenn ihre eigenen Leute Opfer von rechtsradikalem Terrorismus werden kommen sie davon weg. Ich meine, der Mann sollte eine sehr spezifische Rede zu einem sehr spezifischen Ereignis halten. Das ist ein bisschen so, als würde Helmut Schmidt auf dem Begräbnis von Hanns Martin Schleyer über die Vorteile der betrieblichen Mitbestimmung reden und darüber, wie schade es ist, dass ehemalige SS-Offiziere Vorsitzende des Arbeitgeberverbands werden können. Das sind ja alles schon legitime Themen, über die man reden kann, aber vielleicht nicht immer und nicht zu einem solchen Anlass?!

2) Das bröckelnde Erbe des Liberalismus

Auch auf politischer Ebene kamen sich Liberale und Rechte immer wieder nah. Der FDP gelang es erst in den 1960er Jahren, sich von ihrem rechten Flügel zu emanzipieren. Ein halbes Jahrhundert später geriet sie wieder trübes Fahrwasser, als sich Thüringen-Spitzenkandidat Thomas Kemmerich mit Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten wählen ließ und die Wahl zum Entsetzen der Bundespartei auch noch annahm. Und auch die AfD ging als ein auch wirtschaftsliberales Projekt an den Start, bevor nationalistische und völkische Kräfte das Ruder an sich rissen. Von außen betrachtet, sind solche Allianzen absurd. Ausgerechnet die Liberalen, deren geistiges Fundament die Gleichheit und Freiheit aller Individuen ist, geraten immer wieder in den Dunstkreis derjenigen, die Freiheiten von Minderheiten, Frauen und Fremden unterdrücken wollen. Die Suche nach möglichen Ursachen führt erst einmal zu Hayek, Erhard, Eucken und anderen liberalen Vordenkern selbst. Finden Rechtspopulisten womöglichen Anknüpfungspunkte in deren Gesellschaftsentwürfen aus dem frühen 20. Jahrhundert? [...] Biebricher schreibt den Neoliberalen, zu denen ein ganzes Spektrum an Denkern aus der Zwischen- und Nachkriegszeit zählt, insgesamt eine skeptische Haltung gegenüber dem Volkswillen und demokratischen Verfahrensweisen zu – was immer wieder zu einer Offenheit gegenüber autoritären Lösungen geführt habe. [...] Egal, ob man in der Debatte eher Biebricher oder Horn und Feld folgt – eine klare Begründung für die immer wieder zu beobachtenden Verbrüderungen von Liberalen und Rechten liefert der historische Exkurs nicht. (Johannes Pennekamp, FAZ)

Ich halte das für kein spezifisch liberales Problem. Ja, die Liberalen sind in der Vergangenheit immer wieder autoritären Versuchungen erlegen (man denke nur an das unter Linken totgerittene Beispiel der Chicago-Boys und Chile). Aber dasselbe gilt offensichtlich für die Linken (man suche sich die Begeisterung für eine der vielen Ostblockdiktaturen oder Venzuela aus) und erst recht für Konservative. Demokratie ist nicht gleichbedeutend mit Liberalismus (wie gerade Liberale ja auch gerne betonen), und genauso wenig ist links Sein oder konservativ Sein automatisch eine Garantie für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Es scheint mir einfach generell, dass die Demokratie einfach ein sehr prekäres, ständig gefährdetes Projekt ist. Und die Versuchung, "für die gute Sache" fünfe grad sein zu lassen ist immer gegeben. Deswegen braucht es einerseits integre Amtsinhaber*innen - keine Garantie, dass man die bekommt - und andererseits starke soziale Normen, die entsprechende Abweichungen sofort sanktionieren. Die Kritik an der Hayek-Stiftung ist deswegen genauso wichtig wie die Kritik an der Luxemburg-Stiftung (pars pro toto). Demokrat*innen müssen sich stets untereinander kontrollieren und ehrlich halten - und das ganz besonders, wenn es sich um ideologische Nachbarn handelt, wo die Versuchung, es hinzunehmen und zu entschuldigen, am Größten ist.

3) Plädoyer für eine Gesellschaft des Respekts

Mein Leitbild ist eine Gesellschaft des Respekts. In unserer Sprache ist „Respekt“ ein schillernder Begriff. Kinder lernen, dass es „Respektspersonen“ gibt. Wenn jemand erwartet, „respektiert“ zu werden, will er, dass er als Individuum, als Gleicher unter Gleichen, angesehen wird. Und dass niemand auf ihn herabschaut, weil der sich womöglich für stärker, reicher oder kulturell fortgeschrittener hält. Respekt steht im Alltagsgebrauch in enger Verbindung zu Begriffen wie Anerkennung oder Würde. Der Begriff hat seinen Ursprung im Lateinischen und meint in etwa „zurücksehen, Rücksicht nehmen“. Dieser Doppelklang macht den Begriff so stark: Wir sollten zurücksehen, erkennen, was falsch gelaufen ist, und daraus Schlüsse ziehen. In einer Gesellschaft des Respekts ist eine Politik des Respekts erforderlich. Sie spielt Identitätsfragen, eine Antidiskriminierungspolitik und die soziale Frage nicht gegeneinander aus. Sie ist liberal und sozial. Sie ist konsequent gegen Rassismus und Sexismus. Und sie wendet sich gegen den „Klassismus“ in unserer Gesellschaft, die teils subtile, teils offen verhöhnende Verachtung vieler hart arbeitender Bürgerinnen und Bürger und ihrer Lebensweisen. Daher geht es für mich um Respekt und Anerkennung auf allen Ebenen. Der Respekt kann nur erwachsen aus dem Miteinander, aus Kontakten und Gesprächen, die uns in die Lage versetzen, einander zu verstehen. [...] Eine Politik des Respekts muss dort handeln, wo Diskriminierungen fortbestehen und gleiche Würde und gleiche Rechte nicht gewahrt sind. Sie zieht eine klare Grenze, wenn etwa die Familienehre oder reaktionäre Verschwörungsmythen über demokratische Werte und die Prinzipien unseres Grundgesetzes gestellt werden. Eine Gesellschaft des Respekts ist eine Gesellschaft, in der fragmentierte „Identitäten“ nicht an die Stelle eines Wir der Vielfältigkeit treten. Das lässt sich zwar nicht verordnen durch eine Politik des Respekts. Sie schafft aber die notwendigen Voraussetzungen für mehr Zusammenhalt und gegenseitige Anerkennung. Und darauf kommt es an. (Olaf Scholz, FAZ)

Olaf Scholz' Versuch, die Politik der SPD hier als eine "Politik des Respekts" zu framen, ist grundsätzlich ja schon ganz nett, vor allem, wenn er davon spricht, den marginalisierten Schichten (und denen, die davon bedroht sind) solchen Respekt entgegenzubringen und verschaffen zu wollen. Allein, ich höre zwar die Botschaft, aber der Glaube fehlt mir. Was heißt das denn konkret, wenn Scholz davon spricht, der Arbeit Wert zu geben, so dass hart arbeitende Menschen respektiert werden? Das ist eine solche Leerformel, da würde eh praktisch jeder zustimmen.

Scholz' Gastartikel hier in der FAZ ist letztlich ein textgewordenes Symptom der SPD-Probleme. Ernsthaft, klickt mal auf den Link. Dieser Artikel ist LANG. Neben seiner Botschaft vom Respekt spricht Scholz über seine eigene Vergangenheit, die Vergangenheit der SPD, die Außenpolitik, den Mindestlohn, Cancel Culture, Identitätspolitik, Extremismus und ich hab sicher noch irgendwas vergessen. Alle Sätze sind in der "auf der einen Seite, auf der anderen Seite"-Struktur aufgebaut und lesen sich wie von drei Ausschüssen abgesegnet. Eine zentrale Botschaft ist überhaupt nicht zu erkennen; es ist eine Kurzfassung des SPD-Programms - kurz im Sinne, dass es vielleicht drei DIN-A4-Seiten sind. So wird das nichts.

4) Trapped in Germany’s COVID nightmare

The reasons for Germany’s vaccination struggle are both structural and political. While the country’s leaders have sought to explain away the problems by pointing to structural hurdles, such as Germany’s decentralized federal structure or the involvement of the EU in procuring vaccines, the most glaring shortcomings are rooted in their own political failures. Take the fax machines. A technological dinosaur elsewhere in the West, fax machines remain a mainstay in many medical practices and government health offices. That has made coordination across Germany’s nearly 400 health offices particularly difficult. Health Minister Jens Spahn has spent millions trying to put German health care online, so far with only mixed results. The fax is merely a symptom of a deeper problem, however. Angela Merkel has talked for years of the necessity to “digitalize” German society, a goal that many other advanced economies have long made a reality. Indeed, the first thing many new arrivals in Germany notice is its lack of connectivity, from the dearth of free Wifi in cafes and restaurants to slow internet speeds. The fact that the German federal government itself still employs nearly 1,000 fax machines in its various ministries tells you everything you need to know about how successful Merkel’s digital revolution is. That said, the 1970s technology is comparatively modern to the pen and paper still in use across Germany’s medical profession. That a government can’t rely on antiquated communications tools to immunize Germany’s 83 million inhabitants quickly should be obvious. Yet it’s not, especially to those Germans (a majority of the population) worried about that holiest of all German rights – Datenschutz (data privacy). As part of its deal with BioNTech-Pfizer, Israel, which has immunized more than half its population of 9 million, agreed to provide the drugmaker with a wide swath of anonymous data on those receiving the vaccination, including age and gender. The data agreement was one reason Israel was at the front of the line for vaccine deliveries. In privacy-obsessed Germany, the idea of embracing such data collection meets a lot of resistance. (Matthew Karnitsching, Politico)

Ich denke, wir sind uns hier im Blog weitgehend einig, was das absolute Desaster der beknackten Datenschutz-Obsession in Deutschland angeht. Der Status Deutschlands als digitales Entwicklungsland sollte mittlerweile auch weitgehend bekannt und unkontrovers sein, ebenso wie Merkels herausragende Verantwortung dafür (garniert mit einer guten Portion Kohlismus mit fatalen Infrastrukturentscheidungen in den 1980er und 1990er Jahren und einer Prise UMTS-Lizenzversteigerung unter Schröder). Natürlich liegt darin nicht der einzige Grund für Deutschlands durchschnittliche Performance bei den Impfstoffen oder seine entschieden unterdurchschnittliche Reaktion auf die zweite Welle. Aber ein sehr guter Teil liegt darin begraben, und die Unfähigkeit Jens Spahns, die Gesundheitsämter zu digitialisieren, lässt im Kleinen nichts Gutes für die große Gesamtaufgabe erhoffen.

5) How our housing choices make adult friendships more difficult

Why do we form such strong friendships in high school and college and form comparatively fewer as the years go on? I read a study many years ago that I have thought about many times since, though hours of effort have failed to track it down. The gist was that the key ingredient for the formation of friendships is repeated spontaneous contact. That's why we make friends in school — because we are forced into regular contact with the same people. It is the natural soil out of which friendship grows. [...] This kind of spontaneous social mixing doesn't disappear in post-collegiate life. We bond with co-workers, especially in those scrappy early jobs, and the people who share our rented homes and apartments. But when we marry and start a family, we are pushed, by custom, policy, and expectation, to move into our own houses. And when we have kids, we find ourselves tied to those houses. Many if not most neighborhoods these days are not safe for unsupervised kid frolicking. In lower-income areas there are no sidewalks; in higher-income areas there are wide streets abutted by large garages. In both cases, the neighborhoods are made for cars, not kids. So kids stay inside playing Xbox, and families don't leave except to drive somewhere. Thus, seeing friends, even friends within "striking distance," requires planning. "We should really get together!" We say it, but we know it means calls and emails, finding an evening free of work, possibly babysitters. We know it would be fun. But it's very easy just to settle in for a little TV. Those of you who are married with kids: When was the last time you ran into a friend or "dropped by" a friend's house without planning it? When was the last time you had a unplanned encounter with anyone other than a clerk or a barista, someone serving you? [...] But I do not think we should just accept that when we marry and start families, we atomize, and our friendships, like our taste in music, freeze where they were when we were young and single. We shouldn't just accept a way of living that makes interactions with neighbors and friends a burden that requires special planning. (David Roberts, vox.com)

Ich möchte unbedingt auch auf den im eigentlichen Artikel verlinkten Beitrag über die Schwierigkeit von Freundschaften unter Erwachsenen aus dem Atlantic verweisen, zu dem Roberts hier eigentlich nur eine (wenn auch wertvolle) Ergänzung bietet. Es ist sehr bedauerlich, wie schwierig es im Erwachsenenalter ist, Freundschaften auch nur zu erhalten, geschweige denn, neue zu schließen. Ich sehe im Bekanntenkreis oft, dass Heirat, ganz besonders aber Kinder, implizit immer als eine Art Abschied von Freundschaften verstanden werden, weil soziale Kontakte alleine (also nur einer der Ehepartner/Eltern) plötzlich irgendwie nicht mehr akzeptabel sind. Was Roberts dabei mit den Wohnsituationen hinzufügt, ist absolut korrekt, und selbstverständlich gehört auch die ideologische Überhöhung der Kernfamilie mit in dieses Bild. Bedenkt man, dass zahlreiche Studien belegen, wie wichtig Freundschaften für das emotionale, psychologische Wohlbefinden sind, dann ist das ein Problem, das deutlich mehr Aufmerksamkeit verdient.

6) Tweet

Wahlkampf kann doch kein Argument für diesen irrsinnigen Öffnungswettlauf sein. Wie kann man die Wähler*innen mit überquellenden Intensivstationen überzeugen wollen?

— Mario Sixtus 🇭🇰 (@sixtus) March 3, 2021


Ich verstehe den Ärger ja grundsätzlich. Aber: Man sollte gelegentlich auch politische Realitäten zur Kenntnis nehmen. Ist es beknackt, die Pandemiepolitik von schlechter Wahlkampfstrategie abhängig zu machen? Ohne Zweifel. Aber wird der Wahlkampf einen Effekt auf die Pandemiepolitik haben? Auch ohne Zweifel. Da kam ja letztes Jahr schon eine Studie raus, in der nachgewiesen wurde, dass die Corona-Politik umso nachlässiger war (also weniger effektive Maßnahmen), je näher ein Wahltermin lag. Im letzten Frühjahr waren die Wahlen weit weg, die Maßnahmen deswegen auch durchgreifender und kohärenter. Jetzt ist Landtagswahl in Baden-Württemberg und im September Bundestagswahl, entsprechend traut sich keiner mehr, das Arschloch zu sein, das die Schulen zumacht oder dicht hält. Völlig egal, wie sinnvoll es pandemietechnisch wäre. Man kann sich da natürlich drüber aufregen, aber die andere Seite dieser Medaille ist halt wie immer das Verhalten der Wählenden. Wer nicht will, dass solche opportunistischen Überlegungen die Politik bestimmten, darf auch nicht so wählen. Das gilt für Ehrlichkeit im Wahlkampf (Grüße gehen raus an Angela Merkel 2005) genauso wie für die Pandemiebekämpfung. Politiker*innen tun, was ihnen Wählendenstimmen einbringt. Das ist Demokratie.

7) Tweet

Die meisten Menschen in D haben gar keine 250 Mbit/s. Sehr viele haben nur 16 Mbit/s, und erstaunlich viele nicht mal das, sondern leitungen mit 12, 8, 4 oder auch mal 2 Mbit/s. (Und davon müssten viele jetzt Home Office & Home Schooling machen.) https://t.co/bhNNSyhx93

— Martin Lindner (@martinlindner) February 27, 2021


Und wo wir gerade beim Entwicklungsland Deutschland sind. In meiner Kommune, immerhin nur 15km vor Stuttgart, ist von der Telekom immer noch nichts Schnelleres als 16 MBit verfügbar. Ich habe einen regionalen Anbieter, der "bis zu 100 MBit" verkauft; in der Realität bekomme ich davon 33 MBit (der Anbieter berechnet mir einen Tarif für 70 MBit, die sie in Fantasiemessungen mal gesehen haben wollen; ich habe nie mehr als 35 gehabt). Das ist das Maximum hier im Musterländle mit seiner brummenden Industrie. Pläne für einen Ausbau in die Breite auch nur in den höheren zweistelligen Bereich, geschweige denn den dreistelligen Bereich, gibt es nicht. Im Bundestagswahlkampf spielt das Thema weiterhin keine Rolle, und man darf sich darauf verlassen, dass die Schwarze Null auch weiterhin dafür sorgen wird, dass das so bleibt - zusammen mit den bereits erwähnten Altlasten und der jahrzehntelangen Misswirtschaft.

8) Sätze zum Ausflippen

Der amerikanische Schriftsteller Edward Estlin Cummings hat einen gloriosen Spruch geprägt: »There is some shit I will not eat«. Ich glaube, bei mir war dieser Punkt spätestens erreicht, als ich hörte, was Angela Merkel diese Woche in der Unionsfraktion gesagt hat: »Wir brauchen sicherlich den Monat März, um eine umfassende Teststrategie aufzubauen.« Es gab und gibt im Verlauf dieser Pandemie immer wieder Sätze zum Ausflippen, Flippsätze. Ein Jahr nach Beginn der Pandemie, fünf Monate nach Beginn der zweiten Welle, in dem Land, wo der weltweit erste Corona-Test entwickelt wurde, ist Merkels betulicher Satz mehr als eine Zumutung, mehr als eine Unverschämtheit, mehr als nur eine Katastrophe. Nicht im März 2020, sondern im März 2021 eine »umfassende Teststrategie aufzubauen« – das ist in meinen Augen nicht weniger als ein Ausweis von Staatsversagen. Mir ist inzwischen egal, ob eigentlich der kleinkleine Föderalismus, die bockige Ministerpräsidentenkonferenz, die bizarre Bürokratie, die kaputtgesparte Infrastruktur, die ständige Angst vor dem Geschrei Rechter und Rechtsextremer, die völlige Fehleinschätzung des Pandemieverlaufs, das parteipolitische Getöse zum allerfalschesten Zeitpunkt, der kreischende Schuldenbremsengeiz der GroKo oder das jahrzehntelange deutsche Digitalisierungsdebakel hinter diesem pandemischen Staatsversagen steckt. Es ist wahrscheinlich eine Mischung aus allem, ergänzt durch ein paar Überraschungsunfähigkeiten. [...] Nachdem Deutschland und die EU so unfassbar daneben gelegen haben mit ihrer Sparstrategie beim Impfstoffeinkauf, ist es in der letzten Woche im Corona-Kabinett der Bundeskanzlerin tatsächlich zu dieser vom SPIEGEL zitierten Situation gekommen: »... es ging um Geld für Schnell- und Selbsttests: alles zu teuer, so der Tenor. Am Ende stand die Erkenntnis: Spahns Versprechen, allen Deutschen kostenlose Tests zu ermöglichen, ist so kaum zu erfüllen, allein aus Kostengründen nicht.« Oh ja, mit dem Sparansatz hat das Land ja so unglaublich gute Erfahrungen gemacht, da spart man einfach weiter, hurra. Es gibt diesen Moment, in dem fortgesetzte Rechthaberei in geradezu bösartige Ignoranz kippt. (Sascha Lobo, SpiegelOnline)

Der Begriff vom Grollbürger, den Sascha Lobo in Abgrenzung zum Wutbürger verwendet, ist gut. Ich bin aber etwas unsicher, wie ich zu dem grundsätzlichen Gefühl stehen soll. Ich bin nicht wirklich ein Fan von Zorn in der Politik, aber gleichzeitig habe ich immer das nagende Gefühl, dass er manchmal doch produktiv ist. Es ist fürchte ich so ein Standpunt-Ding; man mag immer den "gerechten Zorn", der den eigenen Ansichten entspricht, und fürchtet den Zorn des ungezügelten Mobs oder der sonstwie bösartigen politischen Gegner*innen. Und ich will eigentlich versuchen, nicht diesem Schema zu verfallen. Ist da die richtige Reaktion, ihn komplett abzulehnen? Was denkt ihr?

Zum eigentlichen Thema gibt es unter dem Titel "Gefühl schlägt Verstand" beim Spiegel gleich eine weitere Generalkritik. Und das ist genau zutreffend: Gefühl ist alles, Verstand ist nichts. Als wären wir im Sturm und Drang. Ich glaube, das deckt sich auch mit Lobos Kritik weiter oben. Das Gefühl, dass irgendwie doof und böse ist, Schulden zu machen oder zu viel Geld auszugeben, hemmt die deutschen Reaktionen in der Corona-Debatte in lächerlichem Ausmaß. Als würde es uns als Volkswirtschaft günstiger kommen, denn Lockdown aufrechtzuerhalten, als Schnelltests für alle zu kaufen oder bei den Impfstoffen überzubezahlen! Da sind solche BWL-Kleingeister am Schalten, da wird einem echt mulmig. Dieses Gefühl mag ja noch seine Berechtigung haben, wo die Alternativen Kosten oder Nicht-Kosten sind. Aber in dieser Pandemie sind ALLE Optionen teuer. Und manche noch viel mehr als andere.

9) Soziale Ungleichheit in der Pandemie. Warum Deutsche weniger darüber wissen als Briten

Warum es so lange keinen etablierten Index dieser Art in Deutschland gab, erklärt sich durch die ganz andere Vorgeschichte. Während man im britischen urban programme der 1970er Jahre relative Deprivation kartographierte, ging es im westdeutschen Programm der „Stadterneuerung“ vor allem um Sanierung und Wiederaufbau. Die westdeutsche Stadtsoziologie beschäftigte sich zwar auch mit internationalen Ansätzen der Stadtökologie und Sozialraumanalyse, doch Armut war dabei höchstens am Rande ein Thema, so wie in der bundesdeutschen Soziologie insgesamt. Für sie blieb Deprivation noch lange ein Fremdwort und einen deutschen Peter Townsend brachte sie nicht hervor. Dies war symptomatisch für einen größeren geschichtlichen Kontext: Seit der frühen Nachkriegszeit wurden Fragen der Armut und ökonomischen Ungleichheit in Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik der Bundesrepublik zum Großteil ausgeblendet. Eine vergleichbare Wiederentdeckung der Armut wie in den USA oder dem Vereinigten Königreich in den 1960er Jahren fand hier nicht statt. Ebenso gingen die transnationalen Diskussionen über die Einkommens- und Vermögensungleichheit während der 1970er Jahre weitgehend an der Bundesrepublik vorbei. Stattdessen führte man 1975/76 nur eine kurze, auch wahlkampftaktisch motivierte Debatte um die „Neue Soziale Frage“, die sich um das Ausmaß der Armut drehte – eine Frage, die auf Grund ungenügender Statistiken nicht entschieden werden konnte. Erst in den 1980er Jahren lebte die Debatte über die „Neue Armut“ in der Bundesrepublik auf, und es dauerte bis in die 2000er Jahre, bis auch die Einkommens- und Vermögensverteilung zu einem größeren gesellschaftlichen Thema wurde. Bekannte Gründe dafür lagen in dem tief verwurzelten Selbstbild der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ und dem Kontext des Kalten Krieges, der die Beschäftigung mit solchen Themen erschwerte. Wichtig war außerdem die sichtbare Wohlstandsentwicklung und das Narrativ des „Wirtschaftswunders“. (Felix Römer, Geschichte der Gegenwart)

Der Artikel weist auf ein reales Problem hin. Wenn ich etwas nicht weiß, weiß ich auch nicht, ob es ein Problem ist. Effektiv ist es Donald Rumsfelds "unknown unknown". Das Selbstbild Deutschlands als die berühmte "nivellierte Mittelstandsgesellschaft", die aus "sozialer Marktwirtschaft" und "Wirtschaftswunder" hervorging (das bekanntlich eh ein Mythos ist), ließ eine Diskussion über Armut und Ungleichheit lange nicht zu. Die Debatten, die es dann um das Thema gab, waren alle reichlich schief. Dazu gehört etwa die Fixierung auf "Bildung" als Lösung aller Probleme ("Chancengleichheit"), die glaube ich aus der nostalgisch verklärten Bildungsexpansion der 1960er und 1970er Jahre kommt, und die merkwürdige Gespensterdebatte um "Soziale Unruhen", die in den späten 2000er Jahren für einige Zeit lang die Republik beschäftigte. Da wäre mehr realistische, empirische Forschung echt hilfreich (nicht, dass sie eine hinreichende Bedingung wäre; die Briten mögen besser darüber Bescheid wissen, wie viel Arme sie haben, aber sie sind schlechter, dagegen vorzugehen).

10) Wo geht's zur Mitte, bitte?

Ohne zu verstehen, was da jahrzehntelang so unglaublich gut funktioniert hat, lässt sich kaum sagen, warum die Union jetzt in einer ernsten Krise sein sollte. Was also war ihr Erfolgsgeheimnis? In der CDU sammeln sich vorzugsweise Menschen, die mit den Verhältnissen im Großen und Ganzen zufrieden sind, die hier und da etwas verbessern möchten, nur bitte nicht zu viel. Die CDU ist die Partei der Etablierten und Zufriedenen. Was sich heute banal anhört, war es im Nachkriegsdeutschland keineswegs. Denn nach dem totalen moralischen Desaster ein deutsches Selbstwertgefühl wiederherzustellen, vor dem nicht alle anderen schreiend davonlaufen oder dessentwegen andere ihre Armeen vorsichtshalber in Bereitschaft versetzen, das war seinerzeit vielleicht die schwierigste Aufgabe. Und als dann der neu geschaffene Laden namens Bundesrepublik lief und lief und lief, wurde daraus Selbstzufriedenheit, das Land ruhte in sich und in der CDU, die auf ihren Parteitagen zumeist im Sud ihrer selbst badete. Bis vor Kurzem jedenfalls. [...] SPD und Grüne haben ein Programm, sie haben sogar hehre Ziele – beide plagt ständig ein schlechtes Gewissen, weil sie beim gelegentlichen Regieren diese Ziele oft verfehlen. Derartiges kennt die CDU nicht. Die Kluft zwischen dem, was die Union will, und dem, was sie erreicht, ist per definitionem minimal, meistens ist Politik einfach das, "was hinten rauskommt" (Kohl) oder "was möglich ist" (Merkel). Das Erreichte muss sich nicht vor dem Möglichen rechtfertigen, vielmehr ist das Erreichte der Beweis, dass mehr nicht möglich war – die Macht der Tautologie. [...] Man muss das verstehen: Die Union kann nicht zu spät kommen, nur die anderen zu früh; Konservatismus ist keine Ideologie, Konservatismus ist später. Eine gefährliche Idee der SPD wird zu einer guten eben dadurch, dass die CDU sie übernimmt. Mitte ist kein Ort, Mitte ist ein Zeitpunkt; Prävention ist Prätention; Avantgarde ist ein Irrweg, in der Nachhut liegt die Macht. Das ist – oder besser: war – die CDU. [...] Nun endlich zurück zu der Frage: Was ist denn da wohl in der Krise bei dieser CDU? Die Antwort ist beunruhigend: ungefähr alles. Plötzlich geschieht Extremes. Andauernd. Der große Rahmen, der dem Land und der Union Halt gegeben hat, von der Nato über die EU bis zur heiligen Autoindustrie, bedarf nun selbst der Stabilisierung, all das wird fluide, manches ist morsch. Die Krisen sind so zahlreich, so schnell und so tief, dass es nicht mehr genügt, sich von ihnen antreiben zu lassen, man muss tatsächlich in die Prävention, die Programmatik, die Vorhut, wenn man nicht getrieben sein will, und getrieben sein, das steht der CDU nun gar nicht. Die existenzielle Krise im Mensch-Natur-Verhältnis wiederum wird nicht durch extremes Reden bewirkt, sondern passiert auch ganz ohne Reden, und beikommen wird man ihr auch nicht, ohne den Leuten etwas zuzumuten und zuzutrauen. Weil die CDU das bisher nicht will, hat die "Partei der Schöpfung" mehr Natur zerstört als irgendjemand anderes in diesem Land. Auch die Digitalisierung kann man nicht erst mal die anderen machen lassen, um hinterher seine TÜV-Plakette draufzukleben. (Bernd Ulrich, ZEIT)

Ich teile die Analyse, aber nicht die Vorstellung, das sei das Ende der CDU. Der Tonfall ist mir zu alarmistisch. Ähnliche voreilige Totenreden gab es schließlich auch schon vorher. Zu Kohls Zeiten haben sich Konservative auch schon darüber geärgert, dass die CDU beliebig geworden und sich zu sehr am Zeitgeist orientiere (genauso, wie Linke auch der SPD der 1970er Jahre den Ausverkauf der eigenen Ideale vorwarfen). Solche Schwanengesänge scheinen mir zum Standardrepertoire jeder Zeit zu gehören; sie sind auch nicht Deutschland-spezifisch.

Was aber sicherlich korrekt ist, ist die Ursache des CDU-Erfolgs, nämlich die Identifizierung der Partei mit der Bundesrepublik. Die Union ist die "natürliche Regierungspartei"; jede SPD-Kanzlerschaft bisher wurde eher als Betriebsunfall betrachtet. Auch, dass die CDU sehr gut darin ist, die Positionen anderer zu übernehmen, wenn sie den richtigen Zeitpunkt gekommen sieht, ist nichts Neues. Es ist vielmehr das Erfolgsrezept der Partei, die das doppelte Kunststück vollbringt, das erstens aus der Regierung heraus zu schaffen und zweitens in relativ kurzer Zeit. Wie lange hat die SPD gebraucht, um die Westbindung zu erreichen? Wie viele Wahlen haben sozialdemokratische Parteien weltweit verloren, bevor sie die Wende von New Labour, It's the economy stupid und Innovation&Gerechtigkeit geschafft haben? Man braucht sich nicht zu wundern, dass die CDU so lange an der Macht ist.

11) Ron Johnson's lazy obstruction exposes the reality of the filibuster

That brings me to the filibuster, which is often misunderstood. It does not take 40 senators to mount a filibuster — it only takes one senate staffer to reply to an email. If that happens, it then takes 60 votes on the floor and a ton of time to move the bill forward. This literally one-click filibuster is the biggest reason why virtually every Senate bill is filibustered these days, which has created all manner of toxic political side effects. To be clear, the pandemic relief bill is going through the reconciliation process, which can't be filibustered. What Johnson's stunt shows is that if it were much more costly in time and effort to mount a filibuster, they would not happen nearly so often. Senators are, as a rule, lazy, easily bored, and tend to like getting out of D.C. as often as possible. Many are also very old. For instance, if we changed the filibuster to the way people tend to assume it works, and required 40 senators to be present on the Senate floor at all times to carry one out (as suggested by Norman Ornstein at The Washington Post), it would instantly become incredibly burdensome for the obstructive minority. Republicans only have 50 votes, so four-fifths of their caucus would have to be present around the clock — requiring careful coordination of even bathroom breaks, and basically ruling out trips back home. The Republican caucus could not realistically keep that up for more than a few days, and likely would try it only occasionally. If Johnson couldn't stay up past 2 a.m. on one night to make sure Democrats didn't sneak something through, he's likely not ready to do that for weeks straight. There are other ways of reforming the filibuster, but this 40-vote standard might be the one that appeals most to people like Manchin and Arizona Sen. Kyrsten Sinema. Both have advanced completely preposterous arguments that the filibuster was designed to encourage debate and compromise. "I believe the Senate has a responsibility to put politics aside and fully consider, debate, and reach compromise on legislative issues that will affect all Americans," wrote Sinema in an email to Arizonans defending her stance. "Our job is to find common and cooling ground, if you will, to make something work that makes sense," Manchin has said. (Ryan Cooper, The Week)

Dem ist wenig hinzuzufügen. Der filibuster ist nicht per se das Problem, denn wenn die Senator*innen tatsächlich ununterbrochen reden müssten, dann würde das wesentlich seltener vorkommen und auch in der Wirkung überschaubar sein. Eine solche Reform wäre vielleicht auch für die konservativen Democrats im Senat erträglich. Viel relevanter an der Episode scheint mir ein anderer Gezeitenwechsel zu sein: die ruchlose Effizienz, mit der die Democrats die Senatsregeln selbst nutzten und wie ein Judoka die Energie des GOP-Stunts nutzten, um die Verabschiedung des Gesetzes zu beschleunigen, deutet daraufhin, dass sie verstanden haben, dass sie mit harten Bandagen spielen müssen, um zu gewinnen. Angesichts des Ergebnisses kann man nur sagen: Hut ab.

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