In den US-Medien wird in letzter Zeit immer öfter betont, wie unerwartet Joe Bidens Linksschwenk ist. Nicht zu Unrecht. Niemand hat erwartet, dass ausgerechnet Joe Biden - der von Obama als Vizepräsident ausgewählt worden war, um dessen rechte Flanke zu decken, und unermüdlich durch die gesamte Regierungszeit versuchte, überparteiliche Kompromisse mit John Boehner, Paul Ryan und Mitch McConnell abzuschließen - die progressivste Regierungsagenda seit Franklin D. Roosevelt fahren würde. Das Ausmaß dieser Agenda kann eigentlich kaum überschätzt werden, und doch ist es gerade in Deutschland immer noch kurios unterdiskutiert. Nachdem ich im letzten Artikel zum Thema erklärt habe, was Biden und der Kongress tun und warum es so bedeutsam ist, möchte ich heute zu erklären versuchen, warum sie es tun. Etwas metaphorisch ausgedrückt: Der Esel steht auf den Schultern von Elefanten.
Das Rätsel um die Vorgänge in der amerikanischen Politik ist zweigesichtig. Einerseits ist die Frage, warum die Democrats so ambitioniert, geeint und entschlossen vorgehen, ganz anders als 2008, als sie eine wesentlich durchschlagendere Mehrheit gewonnen hatten, wo aber eine nennenswerte Splittergruppe von sich selbst als moderat begreifenden Abgeordneten die meisten Pläne der Obama-Regierung deutlich zusammenstrich - so Obama das nicht selbst bereits in vorauseilender Gehorsam selbst erledigte. Und andererseits steht die Frage, warum die Republicans nicht in der Lage sind, eine wirkungsvolle Opposition dagegen zu organisieren, wo sie Obamas Agenda zehn Jahre zuvor praktisch zum Stillstand gebracht hatten. Die Democrats haben sich seit der Obama-Ära neu erfunden. Die Republicans verharren trotz Trumps Abwahl an Ort und Stelle. Warum?
Die Merkwürdigkeit
Befassen wir uns zuerst mit den Republicans. Als deren Kandidat Mitt Romney die Wahl 2012 verlor, führte die Partei eine "Obduktion" durch und benannte mehrere Gebiete, auf denen die Partei nicht mehrheitsfähig war und dringend Änderungen durchführen musste. Zentral war die Migrationsproblematik. Aus ihr erwuchs der Versuch 2013, mit der so genannten "Gang of Eight" einen überparteilichen Reformkompromiss vorzulegen. Als die rechtsradikale Basis diesen Kompromiss trotz seiner Unterstützung durch Schwergewichte wie John McCain, Marco Rubio und Paul Ryan zerschoss, erstarrten die Republicans wie das Kaninchen vor der Schlange und fassten das heiße Eisen nicht mehr an.
Während die Democrats nach der Niederlage 2016 intensive Debatten über die Ursachen führten und praktisch die gesamte involvierte Führungsspitze abservierte, die seither trotz medialer Scheindebatten auch keine Rolle mehr spielt, und sogar nach ihrem überzeugenden Sieg 2018 und dem Sieg 2020 in einer ständigen, zermartenden Selbstreflexion gefangen waren (zu der auch die absurde Befeuerung derselben durch auswärtige Beobachtende kommt, die wir ja auch hier und hier im Blog beobachten konnten), gab es seitens der Republicans keinerlei Neuauflage des Obduktionsberichts. Weder stellten sie sich - anders als die Progressiven, wie ich ja auch, es die nächsten vier Jahre in Dauerschleife taten - die Frage, woher der unerwartete, knappe Wahlausgang kam. Noch fragten sie sich jemals, warum sie 2018 eine so harsche Niederlage erlitten hatten. Oder warum sie 2020 zwei Senatswahlen in Georgia (!) verloren.
Dieser Mangel an Selbstreflexion wird kaum diskutiert, genauso wenig wie die absurde Selbstkasteiung auf der anderen Seite des Spektrums. Es wird einfach akzeptiert, aber nie offen ausgesprochen, dass die Republicans ein radikaler Haufen sind. Oder es wird einfach angenommen, dass sie die natürliche Regierungspartei seien und dass alle Siege der Democrats letztlich Abweichungen von der Norm sind. Keine der beiden Varianten ist für die Beobachtenden sonderlich schmeichelhaft.
Stattdessen machen die Republicans unbeirrt weiter. Sie halten zu Trump, wo die Democrats Hillary fallen ließen wie eine heiße Kartoffel, obwohl der 45. Präsident noch unbeliebter ist als seine Gegnerin von 2016. Sie versuchen kontinuierlich, das Wählen zu erschweren. Sowohl im Bund als auch in den Einzelstaaten verhindern die Republicans einfach durch die Bank alles, was Democrats unternehmen - selbst wenn sie es vorher selbst gefordert haben. Sie äußern sich kontinuierlich in abstoßendem, extremistischem Vokabular, ob sie nun gegnerische Politikerinnen als "Hexen" bezeichnen oder auf ethnischen Minderheiten herumhacken. Dazu kommen die aus der Trump-Ära bekannten Bürgerkriegs-Manöver wie das "Bestrafen" demokratisch kontrollierter Städte dafür, dass sie etwas gegen Covid-19 unternehmen. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass sie etwas tun um Zuspruch in den Bevölkerungsschichten zu erhalten, in denen sie diesen seit 2008 rapide verlieren - erneut in deutlichem Kontrast zu den Democrats.
Warum also sorgen sich die Elefanten nicht um den Grund ihres Stolperns?
Die Schultern
Ein gewichtiger Grund hierfür ist in der Person Donald Trumps selbst zu suchen. Anders als Hillary Clinton 2016, Mitt Romney 2012, John McCain 2008, John Kerry 2004 oder Al Gore 2000 ist der Wahlverlierer nicht weitgehend von der politischen Bühne verschwunden. Trump hat quasi am Tag der Abwahl seine Kandidatur für 2024 angekündigt, und anders als dies bei den (immer stupiden) Gerüchten um eine Kandidatur Clintons 2020 der Fall war, ist die Vorstellung, dass er die Vorwahlen erneut gewinnt und dann wieder ins Weiße Haus einzieht nicht völlig absurd. Sie ist sogar durchaus glaubhaft.
Der Wandel der republikanischen Partei zwischen 2016 und 2020 wird vielfach unterschätzt. Die GOP hatte sich bereits in den Obama-Jahren radikalisiert, aber erst unter Trump wurde zu dem Modell einer autokratischen Partei, das sie mittlerweile ist. "This is Trump's party now" ist mehr als nur eine Phrase. Der Mann hat die Partei auf sich zugeschnitten, hat sie seinem Willen unterworfen - und die Partei hat es mit sich machen lassen. Sämtliche Ebenen der GOP wie auch des mit ihr verbandelten Propaganda-Netzwerks haben einen vollständigen Kautau vor Trump hingelegt. Die Dynamik, dass große Teile der Parteibasis dem Mann willentlich ergeben sind und dass es deswegen politischer Selbstmord ist, auch nur ein Jota von der von ihm vorgegeben Linie abzuweichen, hat nicht über Nacht aufgehört - auch wenn sie das in den kommenden Monaten durchaus noch tun mag. Aktuell aber ist die Schockstarre der Parteieliten vor der radikalisierten Basis noch voll da.
Überhaupt, die Basis. Während die demokratische Basis Hillary Clinton nie geliebt hat und es deswegen kein Problem war, sie noch im November 2016 wie eine heiße Kartoffel fallen zu lassen und seither allenfalls mit der Kneifzange anzufassen, am besten aber komplett zu ignorieren, liebt die republikanische Basis ihr Idol Trump immer noch. Da sie ohnehin überzeugt ist, dass die ganze Wahl gestohlen war, gibt es auch keinen Grund, davon ernsthaft abzuweichen. Es ist ein bisschen, als wenn Al Gore nie das Ergebnis von 2000 akzeptiert hätte und sich dann an die Spitze der von Michael Moore entfachten Protestbewegung gesetzt hätte, nur wesentlich größer. (Als Seitenbemerkung: irgendwann muss ich einmal einen Artikel darüber schreiben, dass wenn die Democrats je einen Trump hätten, es wohl Michael Moore wäre.)
Diese anhaltende Loyalität der Basis, die zwar keine Wahlen entscheidet, aber sehr wohl die Vorwahlen, und damit das Schicksal aller republikanischen Politiker*innen direkt in Händen hält, korrespondiert zudem mit einerm mangelnden Wechselstimmung innerhalb der Partei. Bereits nach den Obamajahren gab es bei den Democrats einen Durst nach Wandel - anders hätte Bernie Sanders kaum seine glaubhafte Herausforderung gegen Clintons Kandidatur aufrechterhalten können. Wie wir später noch sehen werden, gewann diese Wechselstimmung in weiten Teilen der demokratischen Partei den innerparteilichen Machtkampf bis zu den Vorwahlen 2019/2020 weitgehend.
Nur gab es in der demokratischen Partei eben auch Spitzenpolitiker*innen und, vor allem, Führungskräfte, die diesen Wandel wollten (dazu später mehr). Wer in der republikanischen Partei eine Abkehr vom bisherigen Kurs will, ist von allem Zugang zur Macht abgeschnitten. Entweder man hat als Funktionär*in oder Wahlkampfmanager*in die Seiten gewechselt und ist Trump-Loyalist geworden, oder man ist mittlerweile persona non grata. Die Teilnehmenden des Lincoln Project lassen grüßen.
Nein, in der republikanischen Partei gibt es weder Machtkampf noch Wechselstimmung. Stattdessen geht es bestenfalls um die Frage, wer Trump beerben könnte; aktuell werden die Füße hier still gehalten, bis absehbar ist, ob der Mann selbst noch ein Faktor bleiben wird oder nicht. Ich will nicht feige sein und ein ständiges "wir weden sehen" als Analyse verkaufen, aber das ist aktuell schlicht nicht absehbar. Es ist möglich, dass Trump die Partei auch aus der Opposition im Griff hält; es ist möglich, dass er weitgehend verschwinden und sein Erbe von jemand anderem weitergeführt wird; es ist auch möglich, dass sich kein Erbe findet und stattdessen überraschend das unterdrückte, aber noch nicht beseitigte Partei-Establishment sein Comeback startet. Wir werden sehen.
Die Republicans haben aber noch mehr Gründe, keinerlei Obduktionsbericht zu schreiben oder irgendetwas verändern zu wollen. Denn wie Leser*innen dieses Blogs ja bereits wissen, war die Wahl 2020 ungeheuer knapp. Nur einige zehntausend Stimmen in einigen wenigen Staaten entschieden sie. Letztlich war das Resultat ein Münzwurf. Warum also sollte man irgendetwas ändern? Besonders, wenn zudem wenigstens die öffentliche Version ist, dass die Wahl ohnehin gestohlen war?
Schatten früherer Wahlen
Eine befriedigende Erklärung ist das für sich genommen nicht. Denn auch die Wahl 2016 war ungeheuer knapp. Zwar gewann Trump mit sogar etwas mehr Vorsprung vor Clinton als Biden vor Trump (in den relevanten Staaten, nicht im popular vote; die Republicans sind eine Minderheitenpartei und können keine demokratische Mehrheit erringen), aber das Ergebnis von 2016 war insgesamt unwahrscheinlicher als das von 2020. Das ist alles etwas gegen-intuitiv, was es so vielen Beobachtenden schwer macht, es richtig einzuordnen. Aber wenn wir eine klarsichtige Analyse der zugrundeliegenden Dynamiken wollen, dürfen wir nicht in dieselbe Falle gehen.
Warum aber nenne ich die Erklärung unbefriedigend? Weil gerade die Knappheit der Wahl 2016 die Democrats ja eigentlich hätte dazu verleiten können, sich auf genau denselben Standpunkt zu stellen wie die Republicans jetzt und trotzig nichts verändern zu wollen. Sogar die Begründungen ähneln sich: Trump führte 2016 einen Kulturkampf, und er führte 2018 einen, und er führte 2020 einen. Einmal gewann er zufällig, zweimal verlor er. Die Auto-Suggestion der Republicans scheint zu sein, dass ihnen die Kombination aus Wahlunterdrückung und Kulturkampf ausreicht, um in einem stimmverzerrenden System wie dem amerikanischen die Regierungsmacht zu behalten.
Es gibt gute Gründe, das anzunehmen. Besonders optimistisch dürfte republikanische Strateg*innen das Stimmverhalten der Hispanic voters stimmen, eine Gruppe, in der Trump 2020 deutliche Gewinne zu verbuchen hatte. Diese sind definitiv ein blinder Fleck der demokratischen Partei und einer der größten strategischen Erfolge der GOP und ihres Kulturkamps. Denn diesem ist zu verdanken, dass die Democrats eine radikale Position, die nahe am "open borders" liegt, eingenommen haben - die aber, anders als der "path to citizenship" und Rechte für undokumentierte Einwander*innen, auch und gerade bei den Hispanics extrem unpopulär ist.
Damit hat Trump alle Verluste in dieser Wählendengruppe von seinen extrem rassistischen Wahlkämpfen 2016 ("build the wall") und 2018 ("MS-13/migrant caravan") wieder gutgemacht; der Elefant stand auf den Schultern des Esels. Zusammen mit dem geradezu absurd selbstbeschädigenden Slogan von "Defund the Police" waren dies zwei Wahlkampfgeschenke der Democrats an die Republicans, die wie kaum etwas anderes dazu beitrugen, den identitätspolitischen Ansatz der GOP zu bestätigen.
Nur, auf die Blödheit der politischen Gegner zu hoffen, ist keine sonderlich solide Strategie. Und die Partei des amerikanischen Esels hat insgesamt in den vergangenen Jahren deutlich mehr solide Entscheidungen getroffen als ihre elefantösen Gegenparts.
Der Esel
Die Probleme der demokratischen Partei sind legendär, schon alleine deswegen, weil es der Linken liebstes Pläsier zu sein scheint, sich geradezu sado-masochistisch mit den Gründen für die eigene Unzulänglichkeit zu beschäftigen, ob sie nun echt oder eingebildet sind. Eine besonders "beliebte" Schwäche ist dabei der parteiinterne Konflikt. Im medialen Klischee wird das dann gerne in den Worten "Democrats in disarray" gepackt, eine Phrase, die so lächerlich häufig benutzt wurde, dass sie inzwischen kaum mehr als ein müder Gag ist.
(Eine weitere Seitenbemerkung: Die Angewohnheit zahlreicher Journalist*innen, den politischen Wettbewerb als Problem der jeweiligen Partei darzustellen, ist schrecklich genug und in allen Demokratien und Parteien verbreitet. Warum das besonders bei progressiven Parteien allerdings dermaßen ausgetreten wird, ist mir unklar; ich vermute das üblicherweise bessere Messaging der konservativen Parteien.)
Aber in den Wahlkampf 2020 gingen die Democrats wesentlich geeinter als in den von 2016. Bereits bei den Midterm-Elections 2018 zeigte sich deutlich, dass die Partei ein möglichst breites Zelt aufgebaut und eine disparate Koalition zusammengebaut hat; diese Koalition auch noch bei Stange und auf eine kohärente Botschaft fokussiert zu halten, ist eine nicht geringzuschätzende Leistung.
Noch wichtiger ist aber sicher, dass sich auch bei den letzten Abgeordneten der Democrats die Einsicht durchgesetzt hat, dass mit der GOP kein Staat zu machen ist. Durch die komplette Regierungszeit Obamas hindurch musste der 44. Präsident sich mit Mitgliedern des eigenen caucus herumschlagen, die permanent den Kompromiss mit den Republicans suchten, obwohl diese überaus deutlich gemacht hatten, eine rein destruktive Kraft zu sein. Warum gerade einer der profiliertesten Vertreter dieser Richtung, Obamas eigener Vizepräsident, nicht nur die Nominierung der Partei errang sondern als Präsident dann eine 180°-Kehrtwende hinlegte, wird im Folgenden noch zu klären sein.
Was genau die Democrats davon überzeugt hat, die Republicans links liegen zu lassen, ist natürlich schwer zu sagen. Ein bestimmender Faktor war mit Sicherheit die Nominierung Merrick Garlands 2016 und der Diebstahl des SCOTUS-Sitzes durch Mitch McConnell, der dann durch das Verhalten desselben bei der Nominierung Neill Gorsuchs, Brett Kavanaughs und besonders Amy Coney Barretts bekräftigt wurde.
Das Resultat allerdings ist einschneidend. Denn die Democrats verhandeln nun nicht mehr mit einer imaginären konservativen Partei, die zu staatstragenden Kompromissen bereit ist, sondern nur noch innerhalb des eigenen caucus - trotz der gerade haarscharfen Mehrheit von gerade sechs Stimmen im Repräsentantenhaus und gerade einmal einer Stimme im Senat. Anstatt also Rücksicht auf die "moderaten Republicans" zu nehmen, die sich eins ums andere Mal als Mirage erwiesen und Trump die nötigen Stimmen für noch den verabscheuungswürdigsten Mist zu verschaffen, müssen sie nur noch Rücksicht auf den rechtesten Democrat nehmen (das wäre aktuell Joe Manchin aus West Virginia, der seine Stellung auch weidlich ausnutzt).
Der Spielraum für mögliche Politik hat sich damit gegenüber der Obama-Regierung deutlich vergrößert, obwohl Obama anfangs mit einer deutlich breiteren Mehrheit hantieren konnte. Aber der demokratische caucus in beiden Häusern des Kongresses ist so geeint wie nie zuvor - eine Spiegelung der Entwicklung, die die GOP eine Dekade früher durchgemacht hat.
Interessanterweise haben die Democrats aber, anders als die Republicans, die Sprache der überparteilichen Kompromisse nicht aufgegeben. Sie haben nur verstanden, was ihre Substanz ist: In Umfragen geben die Wählenden zuverlässig an, dass sie überparteiliche Kompromisse wollen. Gleichzeitig hassen Wählende nichts mehr als überparteiliche Kompromisse und bestrafen die Partei, die sie schließt. Die Republicans haben das bereits vor anderthalb Jahrzehnten verstanden und mit gnadenlosem Zynismus zur destruktiven Spitze getrieben. Die Democrats machen es ihnen nun nach. In einer taktisch versierten Kommunikationsentscheidung haben sie subtil das Narrativ geändert: Anstatt, wie die Republicans, etwas als bipartisan zu deklarieren, wenn es Stimmen aus beiden Parteien bekommt - was seit 2009 nicht mehr vorkommt - erklären die Democrats einfach alles als bipartisan, was in der amerikanischen Öffentlichkeit Zustimmungsraten jenseits der zwei Drittel beherrscht, vom Mindestlohn zu Erleichterungen für das Wählen hin zur Staatswerdung von Washington, D.C. Aktuell geht diese Strategie voll auf und drängt die GOP in die Defensive.
Der Preis dafür ist, dass Herzensangelegenheiten der demokratischen Basis von der Agenda der Parteiführung verschwinden. Das betrifft vor allem die üblicherweise unter "Identitätspolitik" gefassten emanzipatorischen Maßnahmen. Geht aber die Strategie auf, so könnte Biden jenes Einhorn der amerikanischen Politik gelingen, das in der modernen Präsidentschaft bisher erst dreimal gesichtet wurde: Gewinne der regierenden Partei in den Midterms. Das jedenfalls ist klar das Desiderat der Partei, und bisher ist sie bereit, sich diesem Ziel unterzuordnen - anders als die Republicans, wo krasse Minderheitspositionen die Agenda bestimmen, die die Wählenden der Mitte vergraulen, wo auch in den 2020er Jahren noch Wahlen gewonnen werden, um ein weiteres Klischee der Wahlkampfberichterstattung auszurollen.
Ein weiterer Grund für den aktuellen Höhenflug der Partei und ihre überraschend progressiv-ausgreifende Agenda hat mit einem Generationenwechsel in den Führungsstäben zu tun. Wo in Clintons Kandidatur noch Personal aus der Obama-Administration und sogar aus den Berater*innenstäben ihres Ehemanns dominierte, hat Biden den meisten Stimmen jener Zeit eine klare Absage erteilt. Er selbst repräsentiert zwar eine gewisse Kontinuität, aber das stellt sich mehr und mehr als Mirage heraus.
Dieser Generationenwechsel ist nicht zu unterschätzen. Denn die bisherigen bestimmenden Stimmen der US-Politik wurden politisch in der Stagflation der 1970er Jahre und der Reagan-Ära der 1980er Jahre geprägt, einige auch noch von den "the era of big government is over"- und "it's the economy, stupid"-Mantras der Clinton-Zeit und ihres dritten Weges. Das ist vorbei. Statt den Boomern und der satten Generation X sind jetzt Generation Y und Millenials alt genug, um führende Positionen in den Thinktanks, Agenturen und Behörden zu übernehmen. Und sie sind durch die deutlich schlechteren Chancen ihrer Generation - sinkende Reallöhne, Streichung von Besitzständen, hohe Schulden, Finanzkrise, etc. - gezeichnet und haben ein weniger rosiges Bild.
Dazu passt, dass Biden den Ökonom*innen insgesamt wesentlich weniger Einfluss zugesteht, als diese in der Obama-Administration oder in Clintons Wahlkampfteam hatten. Als Biden im November gewann, wurden die Namen von Larry Summers und Timothy Geithner, zwei Technokraten der Ökonomie, als heiße Kandidaten gehandelt, die wie kaum jemand anderes für die unzureichende Reaktion auf die Finanzkrise 2009 stehen. Biden ignorierte sie. Die einzige Ökonomin von Rang, die sein Ohr zu haben scheint, ist Janet Yallen, und ihre Ansichten sind alles andere als dem alten Mainstream entsprechend, der zunehmend (endlich!) an Boden verliert.
Dementsprechend finden sich auf Bidens Schreibtisch Vorschläge und Projekte, die von dem abweichen, was bislang als Standard firmierte. Man denkt "outside the box", und angesichts der großen Bedrohungen unserer Zeit ist das auch bitter notwendig. Dieser Umschwung korreliert auf fruchtbare Weise mit der Einigkeit der demokratischen Partei, die den Gedanken an den Kompromiss mit den Kräften der Reaktion aufgegeben hat.
Warum aber ist ausgerechnet Joe Biden, ein Politiker, der seit den 1970er Jahren an der Spitze Politik betrieben hat und wie kaum ein anderer für den alten Konsens stand, der Bannerträger dieses Wandels geworden? Es ist eine Entwicklung, die praktisch alle Beobachtenden überrascht hat. Der Grund dafür, neben der scheinbaren Einsicht in die wahre Natur der GOP, der er sich bis zuletzt zu verschließen versuchte, scheint in seiner Natur zu liegen. Biden ist ein zoon politicon, ein Berufspolitiker im Weber'schen Sinne, wie es sein ehemaliger Chef Obama nie war. Obama besaß zwar eine gewisse Begabung für Wahlkämpfe, aber er hasste politics mit Inbrunst. Das wheeling and dealing des alltäglichen parlamentarischen Kuhhandels war ihm ein Gräuel; wieder und wieder versuchte er, mit Rationalität seine Kontrahenten von der Qualität seiner wohl durchdachten und abgestimmten policies zu überzeugen.
Biden gibt wenig auf rationale, wohl durchdachte policies. Anstatt mit den very serious people der großen Tageszeitungen und Expert*innengremien die Corona-Hilfen fein abzustimmen, tat er das politisch Weise: Er setzte sich dafür ein, dass alle Bürger*innen einen Scheck über 1400$ erhielten. Das war populär und damit bipartisan. Es ging durch den geeinten demokratischen caucus und half den Menschen direkt und sichtbar - anders als die wohl durchdachten, zielgerichteten und letztlich unsichtbaren Hilfen der Obama-Regierung 2009.
Wird der Esel abgeschüttelt?
Das alles erklärt den aktuellen Erfolg der Democrats relativ zu den Republicans. Was es nicht tut, ist eine Prognose für die Zukunft erstellen. Aktuell sind wir im vierten Monat der Biden-Präsidentschaft. Die bisherigen Maßnahmen sind mit dem so genannten "budget reconciliation"-Prozess durch den Kongress gegangen; damit ist bis 2022 keine weitere legislative Aktion mehr möglich, weil der filibuster, die Weigerung zweier moderater Democrats und die destruktive Verhinderungshaltung der Republicans es nicht erlauben.
Ob die era of good feelings, die angesichts des Erfolgs der Impfkampagne und den Erfolgen der Biden-Regierung derzeit herrscht, anhalten wird, ist daher mehr als ungewiss. Es ist durchaus vorstellbar, dass die Basis bald wieder unruhig wird und mit unpopulären Minderheitenpositionen in die Schlagzeilen drängt, die keine Mehrheit finden können, aber allem den Sauerstoff abwürgen. Es ist vorstellbar, dass das passiert, was meistens passiert, und die Bevölkerung sich der Oppositionspartei zuwendet. Es ist vorstellbar, dass die Einigkeit des demokratischen caucus zerbricht und Abgeordnete wie Alexandria Ocasio-Cortez öffentlichkeitswirksam ihr Pfund Fleisch verlangen und damit gegen Mauern rennen.
Viel Wasser wird den Potomac hinunterfließen, bis im November 2022 das Repräsentantenhaus und ein Drittel des Senats neu gewählt werden. Die Democrats jedenfalls gehen als Underdogs in diese Wahl, und sie wissen es. Dieses Wissen diszipliniert sie, anders als 2010, deutlich. Was auch immer die Regierung erledigen will, sie muss es in den kommenden Monaten tun. Denn in der Zwischenzeit könnte der Elefant erwachen und den Esel wieder abschütteln, der es sich gerade triumphierend auf seinem Rücken bequem gemacht hat. Es ist ein Gefühl, das die Republicans noch gut aus dem Jahr 2018 kennen.
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