Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Fundstücke

1) MAGA Is Ripping Itself Apart

It is a lesson nearly as old as time itself: Those whose passions are inflamed—and Trump supporters are nothing if not perennially inflamed—are drawn to destruction. “Rage and phrenzy will pull down more in a half an hour, than prudence, deliberation, and foresight can build up in a hundred years,” the 18th-century conservative statesman and philosopher Edmund Burke warned. [...] But it goes even beyond this. MAGA world directs its ridicule at those who exercise temperance, who embrace restraint, and who ask themselves what they should do rather than what they can get away with. Those who reject the ethic of Thrasymachus—the cynical Sophist in Plato’s Republic who believes might makes right and injustice is better than justice—are dismissed as weak and delicate. The denizens of MAGA world not only relish discarding guardrails; they scorn those who abide by them. (Peter Wehner, The Atlantic)

An dem Text zeigt sich mal wieder schön, dass die Bezeichnung "konservativ" für die Republicans längst keinen Sinn mehr macht (genausowenig übrigens wie für die AfD). Konservative wollen per Definition etwas bewahren, nicht eine Revolution. Diese Leute sind Reaktionäre. Inwiefern die "reine Lehre" in einem mythischen "früher" wirklich gegolten hat, sei einmal dahingestellt; Nixon war sicherlich nicht unbedingt ein Referenzpunkt für den von Wehner in seinem Artikel gefeierten "restraint", und Barry Goldwater wusste das eine oder andere über "inflamed passion". Aber das ist letztlich in jedem Lager so; es gibt immer einen Unterschied zwischen dem verkündeten Ideal und der Realität des politischen Alltags.

Zum eigentlichen Thema: ich bin sehr unsicher, ob MAGA sich wirklich selbst zerstört. Diese Vorhersagen höre ich aus dem konservativen Spektrum schon lange, und sie lagen bislang immer falsch. Wenn meine Erinnerung nicht trügt, gab es solche Vorhersagen historisch bei anderen extremistischen Bewegungen auch. Aber es gibt keine Schmerzgrenze für Radikalisierung, die irgendwie automatisch eingezogen ist und bei der die Revolution dann ihre eigenen Kinder zu fressen beginnt. Ja, die Jakobiner fielen irgendwann, aber der Rote Terror etwa ging durch zig Iterationen und war genauso stabil wie der der DDR oder der Nazis. Nie gab es einen Punkt, an dem die Radikalisierung sich selbst fraß; das Ganze ging weiter, bis es von außen gestoppt wurde.

2) Text von Klimaaktivistin Neubauer in Abi-Prüfung: CDU vermutet Einflussnahme // Jura-Professor hält Neubauer-Prüfung für rechtswidrig

Ein veröffentlichter Gastbeitrag von Klimaaktivistin Luisa Neubauer ist Materialgrundlage für eine Aufgabe in einer Abiturprüfung in Niedersachsen geworden  und sorgt nun für Aufregung. Die CDU vermutet Einflussnahme durch die grüne Kultusministerin. [...] Der Gastbeitrag wurde laut Ministerium im Juni vergangenen Jahres von einem Medium veröffentlicht. Bei der Abiturprüfung standen demnach mehrere Aufgaben zur Auswahl für die Schüler – bei einer war der Text von Neubauer Grundlage. Schüler müssen sich für eine Aufgabe entscheiden. Dabei handelte es sich um die schriftliche Prüfung im Fach Politik-Wirtschaft, wie das Kultusministerium in Hannover am Mittwoch mitteilte. Die Prüfung war am Montag. (News4Teachers)

„Prüfungsaufgaben müssen so gestellt werden, dass die Schüler sie weitgehend emotionsfrei und unbefangen bearbeiten können“, erklärt Lindner die Problematik. Genau das sei bei einem Text von Neubauer, Klima-Aktivistin und das deutsche Gesicht der „Fridays for Future“-Bewegung, nicht der Fall. [...] „Auch wenn sie es vielleicht anders sehen, könnten Schüler sich nicht getraut haben, den Text auch kritisch zu bewerten“, mahnt Lindner. „Das heißt, der Schüler kann die Aufgaben nicht unvoreingenommen bearbeiten, sondern ist innerlich befangen, er verspürt einen Erwartungsdruck – und kann so möglicherweise nicht seine ganze Leistung abrufen.“ [...] Das sei aber gerade bei einer Prüfung wie dem Abitur, die entscheidend für das weitere Leben ist, problematisch. In der Folge können Schüler, die sich durch eine Prüfung unfair behandelt fühlen, gegen die Bewertung klagen. (BILD)

Irgendetwas sagt mir, dass die Befürchtungen der CDU parteipolitisch motiviert sein könnten. In unserem eigenen Abitur hier in Baden-Württemberg war die Deutsch-Erörterungsaufgabe ein Text, der emphatisch gegen das Gendern argumentierte. Irgendwie war das kein Problem. - Das ist ein so unglaublicher Haufen diskursiver Mist. Seit wann um Gottes Willen müssen Abiturmaterialien "emotionsfrei und unbefangen" bearbeitet werden können? Das war noch nie so. Und ich wüsste nicht, warum Neubauers Text jetzt die Emotionen höher kochen lassen sollte als einer von Alexander Kissler aus der NZZ, der in Bausch und Bogen das Gendern verdammt. Es geht einfach nur um die Durchsetzung der eigenen Linie in der Schule.

Das ist doppelt ärgerlich, weil es gleich drei massive Denkfehler macht.

Da eine ist einer, den Konservative sonst so bei Progressiven bejammern: dass diese safe spaces schaffen wöllten, in denen offene Debatte unter vorgeblichem Schutz der zarten Gemüter nicht möglich, eine Auseinandersetzung mit kontroversen Themen nicht möglich sei. Solange es ums N-Wort geht, darf keinesfalls etwas aus der Schule gehalten werden, aber bei LUISA NEUBAUER ziehen wir die Grenze? Fuck you all. Wenn die Jugendlichen Kissler analysieren können, können sie das auch bei Neubauer. Ansonsten hätten wir Lehrkräfte auch echt versagt, und die ganze Gesellschaft gleich mit.

Der andere ist die Annahme, dass die Schüler*innen derart empfänglich für die geringsten Einflüsse seien, dass sie quasi nur im Abi einen Neubauer-Text lesen müssten, um sofort entweder zu Klimaklebern zu werden oder zumindest emotional tief erschüttert zu sein. Die dahinterstehende Annahme ist der übliche Denkfehler, dass immer ANDERE total empfänglich für alle möglichen Einflüsse seien, während man selbst davon befreit ist - wir hatten im Podcast darüber gesprochen.

Und das dritte ist die doppelte Annahme, dass Klimaschutz einerseits ein "grünes Thema" sei und die FFF-Bewegung identisch mit der Partei "Die Grünen" sei, was schlicht nicht korrekt ist, und andererseits, dass hier ein "Druck" entstünde. Dieses Geraune von Josef Franz Lindner, dass das Besondere an Neubauer sei, dass die Schüler*innen "unter Druck" stünden, deutet an (natürlich feige ohne es offen zu sagen), dass die Lehrkräfte a) alle FFF-Sympathisant*innen seien und b) deswegen bei der Korrektur auf Linientreue achten würden. Und dazu auch nur: FUCK YOU.

3) Mercedes-Benz chief says cutting China ties would be ‘unthinkable’

Cutting ties with China would be “unthinkable for almost all of German industry”, the chief executive of automaker Mercedes-Benz has said, as Europe’s largest economy grapples with its deep reliance on Beijing. [...] “The major players in the global economy — Europe, the USA and China — are so closely intertwined that disengaging from China makes no sense,” Källenius told the German newspaper Bild am Sonntag. “It’s about win-win on growth and climate protection, not conflict.” [...] Concerns about the threat posed by China to Germany’s critical infrastructure have prompted recent re-evaluations of the role of Chinese telecoms company Huawei in the country’s communications networks. The government is also being forced to re-examine a contentious decision to sell a stake in a Hamburg port terminal to the Chinese shipping conglomerate Cosco. Many of Germany’s largest companies, meanwhile, are not wavering in their commitments to the world’s biggest and most important destination for consumer goods. [...] “Of course, we see the political differences and tensions,” he said. “The [coronavirus pandemic] showed how fragile supply chains are. We have to become more resilient here and more independent of individual states in the case of lithium batteries, for example.” He added, however, that “decoupling from China is an illusion, and also not desirable”. (Financial Times)

Natürlich hat Källenius vollkommen Recht. Aber es fordert ja auch niemand ein "cutting of ties" mit China. Die Idee des "decoupling" ist ja nicht ein Verzicht auf jegliche wirtschaftliche Betätigung, sondern genau das, wovon Källenius am Ende spricht: Lieferketten resilienter zu gestalten, indem man diversifiziert und auf Globalisierung setzt, indem man mehrere Anbieter kultiviert - gerade für seltene Produkte, die wir nicht selbst herzustellen in der Lage sind. Wie auch bei der Wärmepumpengeschichte ist der wirtschaftspolitische Diskurs auf einem völlig verblödeten Niveau, auf dem hauptsächlich Strohmänner attackiert und dann mit großem Getöse niedergerissen werden. Es ist nur noch ermüdend. Weder wollen die Grünen die deutsche Wirtschaft deindustrialisieren, noch will die FDP das Klima für fossile Profite zerstören. Ein bisschen Good Faith in diesen Debatten wäre echt hilfreich, wie ich auch im Podcast mit Benedikt Becker diskutiert habe.

4) Mathe-Therapeuten: Dyskalkulie ist keine Krankheit und Rechnen für fast jeden erlernbar

Leidet ein Kind an einer Rechenschwäche, bedeutet das aus Sicht der Pädagogen und Therapeuten vor allem: Ihm fehlt ein bestimmter Schritt in der langen Reihe von Erkenntnissen, die die Fähigkeit zum Rechnen und zur Mathematik eben ausmachen. Die Schulen aber scheitern oft dabei, diese Lücken bei ihren Schülern zu füllen. Denn Lehrpläne geben vor, dass im Unterricht ständig neue Themen drankommen müssen, egal ob alle Schüler die Grundlagen dafür haben oder nicht. "Der beste Unterricht wird nicht ausreichen, solange man an dem Grundsatz festhält, dass alle Kinder in einer bestimmten Zeit einen bestimmten Lernfortschritt machen sollen", sagt Mathematikpädagoge Gaidoschik.  [...] Hinzu kommt, dass im Schulsystem mit seinen Zensuren noch oft erwartet wird, dass bei den Tests am Ende eine Art Normalverteilung der Zensuren herauskommt. Eine Arbeit gilt dann als ausreichend schwer, wenn wenige Schüler sehr gute Noten bekommen, die meisten eine Drei oder Vier schreiben und ein paar wenige ein schlechtes Ergebnis erzielen. Doch Letzteres bedeutet häufig, dass bestimmte Inhalte  nicht verstanden wurden – welche das sind, und ob es sich möglicherweise um kumulierte handelt, ermittelt die Schule nicht. Kann diese Lücke danach nicht geschlossen haben, verliert das Kind den Anschluss. Bei Rechenschwäche passiert das bereits im Anfangsunterricht der ersten Klassen. (Clemens Haug, MDR)

Zu der Frage aus dem Titel kann ich wenig sagen - ich weiß auch nicht, wie das bei Legasthenie aussieht, ich bin da echt kein Experte. Aber die zitierten Ausschnitte kommen ohnehin auf zwei viel bedeutendere Probleme zu sprechen. Es ist das Grunddilemma des Mathe- und Sprachenunterrichts: alles baut aufeinander auf, weswegen Versäumnisse kumulativ wirken und Schüler*innen schnell abgehängt werden. Weder Lehrkräftewechsel noch Wiederholungen verändern da noch irgendetwas. Das liegt in der Struktur dieser Bereiche begründet und lässt sich nicht ohne Weiteres umgehen. Deswegen kann der Unterricht im Klassenverband, der wissenschaftlich schon längst als ineffizient belegt ist, hier auch besonders schlecht greifen. Die seit mittlerweile Jahrzehnten geforderte Individualisierung lässt natürlich gleichwohl weiter auf sich warten.

Das zweite Thema ist die Gauss'sche Normalverteilung, die für Klausurenergebnisse gefordert wird. Es ist ein völlig irrwitziger, aber weitgehend unhinterfragt akzeptierter Maßstab, dass die Qualität einer Klausur (und des Unterrichts) darin besteht, dass es wenige gute und wenige schlechte Leistungen gibt und sich alles im Mittelfeld bewegt. Abweichungen davon müssen gerechtfertigt werden, nicht aber diese völlig arbiträr-bescheuerte Festlegung. Noten sind einfach so beknackt und gehören abgeschafft; sie stehen Lernen und Lernerfolg nur im Weg.

5) Maybe Becoming President Takes More Than Just Being a Dick

The success of Donald Trump, an asshole who became president, created a fallacy: Americans want an asshole as their president. This misapprehension greatly appeals, of course, to assholes, especially those in public office, who seem happy to drop their traditional practice of pretending to be nicer than they really are in favor of doubling down on being dicks. In truth, Trump’s appeal is, or was, probably based less on just being an asshole than in getting America’s large share of angry, aging, conservative, mostly white people to feel “this asshole is on my side,” plus occasionally being funny. (Dan Friedman, Mother Jones)

Das ist in der Tat kein irrelevanter Trugschluss, dem diverse Leute gerade aufsitzen. Man sollte ja auch nicht aus Bidens Präsidentschaft die Lehre ziehen, dass die Wählenden unbedingt einen Greis als Präsidenten wollen. Sowohl John F. Kennedy als auch Barack Obama können da als Gegenbeispiel dienen. Das letzte offizielle "Arschloch im Oval Office", Richard Nixon, war auch nicht eben ohne elektorale Fähigkeiten; Nixon gewann die Wahl 1972 immerhin als einziger Aspirant neben Ronald Reagan mit 49 von 50 Staaten. Aber allzu oft sind solche Wahlen "trotz" Wahlen, nicht "wegen" Wahlen. Und wer solche Faktoren durcheinanderbringt, wird dafür bestraft, ganz besonders, wenn er oder sie es einfach nur faked.

Resterampe

a) Einige gute Gedanken zur Politisierung der Pandemie.

b) Why Won’t Powerful Men Learn? Warum scheißt der Bär in den Wald?

c) Academic Ranks Explained Or What On Earth Is an Adjunct? Sieht bei uns ja ähnlich aus, die Lage.

d) Has the Fed affected inflation yet?

e) Überraschend (nicht): kaum Lehrkräfte nehmen das Angebot zu bezahlter Mehrarbeit an.

f) Auch so eine super-nervige Debatte, die völlig überzogen ist, ist die um Jugendoffiziere. Da steckt so viel von dieser Prämisse drin, dass die Jugendlichen hyperbeeinflussbar seien, die ich einfach nur zum Kotzen finde.

g) Und mal wieder was zur Korruption am SCOTUS. Und noch was.

h) Der Verfassungsblog hat was zum französischen Verfassungsrecht anlässlich der Rentenreformen. Spannend, welche institutionellen Unterschiede es da zu uns und den USA gibt.

i) Ich hoffe so, dass Drum Recht hat, was selbstfahrende Autos angeht.

j) In meinem Artikel zur Koeppen-Debatte hatte ich vorhergesagt, dass das Kultusministerium sich für dieses Jahr hart geben und dann das Abiformat auf freiwillige Lektüre umstellen wird, ähnlich dem allgemeinbildenden Gymnasium. Ihr ratet nicht, was das KuMi gerade verkündet hat.

k) Guter Thread zur Selbstreferenzialität deutscher Talkshows.

l) Was Bernd Ulrich sagt.

m) Wer kürzte Staatsausgaben mehr, Republicans oder Democrats?

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