In russlandfreundlichen Kreisen ist das Wort von der "Finnlandisierung" der Ukraine ein geläufiges. Dahinter verbirgt sich der Status Finnlands als "neutrale" Nation nach dem Zweiten Weltkrieg: die Sowjetunion verzichtete darauf, das Land mit Gewalt in seine Blockstruktur zu integrieren; dafür verzichtete Finnland seinerseits auf den Beitritt zu westlichen Bündnissen (NATO und EG) und nahm keine Marshallplanhilfe in Anspruch. Mit dem Untergang der Sowjetunion war diese Regelung dann passé. Als Folge dieser "Finnlandisierung" (ein pejorativ gebrauchter Begriff, den vor allem Franz Josef Strauß als Kritik an der Ostpolitik verwendete und der erst später eine positivere Konnotation annahm) war Finnland bis in die 1980er Jahre hinein im Vergleich zu Europa deutlich unterentwickeltes Land, das erst mit der weitgehenden Aufgabe der Neutralitätspolitik ab 1986 und eine folgende engere Anbindung an die EG (und dann den Beitritt in die EU 1995) wirtschaftlich erfolgreich wurde. Vorher zeichnete sich die finnische Volkswirtschaft auch durch eine große Abhängigkeit von der Sowjetunion und ihre Innenpolitik durch eine große Interventionsfurcht aus, die der UdSSR große Mitspracherechte einräumte. Allein das zeigt schon, dass "Finnlandisierung" für die Ukraine keine sonderlich attraktive Option ist.
Trotzdem bietet Finnland für das Land einen guten Vergleichspunkt und in gewisser Weise ein Vorbild, wenngleich nicht so, wie die Putinversteher-Fraktion das üblicherweise fasst. Die Neutralisierung des Landes (die de facto ein Fall in die russische Einflusssphäre darstellen würde) ist aus offensichtlichen Gründen für Kiew unattraktiv, und die Bevölkerung des Landes hat spätestens seit dem Februar 2022 keinerlei Interesse mehr daran. NATO- und EU-Beitritt sind, ungeachtet ihrer Realisierungschancen, die Fluchtpunkte ukrainer Außenpolitik und ukrainischer Wünsche. Der Vergleichspunkt ist daher weniger Finnland im Kalten Krieg als Finnland 1918-1940.
Bis 1918 gehörte das heutige Finnland zum russischen Imperium. Es waren die russische Niederlage im Ersten Weltkrieg und ein taktisch geschicktes Bündnis mit den kurzfristig siegreichen Deutschen, mit denen im Bürgerkrieg die Sozialisten brutal niedergeschlagen wurden, die dem Land die länger ersehnte Unabhängigkeit brachten, die es auch über den Zusammenbruch des kurzlebigen Brest-Litowsk-Systems hinaus bewahren konnte. Dieses System ließ Russland - respektive die innerhalb seiner Grenzen entstehende Sowjetunion - als grundsätzlich revisionistische Macht in die Außenpolitik der 1920er und 1930er Jahre eintreten, neben Deutschland, Japan und Italien.
Für Russland war die Unabhängigkeit Finnlands wie die der osteuropäischen Staaten kein hinnehmbarer Zustand. Lenin hatte diese Unabhängigkeiten alle akzeptiert und anerkannt, weil er fälschlicherweise (und aus profunder außenpolitischer Naivität und Traumtänzerei) davon ausgegangen war, dass ohnehin die Weltrevolution vor der Tür stand und so bürgerliche Konzepte wie Grenzen und Nationalstaaten bald der Vergangenheit angehören würden. Andere Staaten wie die Ukraine wurden militärisch geschlagen und annektiert. Die Niederlage der Roten Armee von Warschau (das "Wunder von der Weichsel") und die Niederlage der Sozialisten im finnischen Bürgerkrieg, die Niederschlagung der roten Aufstände in Deutschland und anderswo aber machten diese Hoffnungen zunichte. Unter Stalin wandte sich die Sowjetunion erst nach innen und stabilisierte sein Regime durch den Doppelschlag der Industrialisierung (mit den berühmt-berüchtigten Fünfjahresplänen) und des Holodomors, der Millionen Tote verursachenden Hungersnot.
Solcherart die eigene Macht abgesichert machte sich Stalin daran, einen expansionistischen Kurs zu fahren und die alten Kolonialgebiete wieder zu erringen. Profunde Spannungen mit Japan (wegen der Gebietsverluste aus dem russisch-japanischen Krieg 1905) und den osteuropäischen Staaten waren die Folge. Aber erst der Aufstieg der anderen großen revisionistischen Macht, Deutschland, gab Stalin den außenpolitischen Spielraum, den er brauchte: der sich abzeichnende Krieg mit Frankreich und Großbritannien machte expansionistische Forderungen plötzlich möglich, und im Windschatten des Krieges fiel Stalin erst in Polen ein, dessen Ostteil er sich 1939 einverleibte, annektierte Bessarabien und 1940 die drei baltischen Staaten. Das nächste Opfer des Annexionshungers war Finnland.
Doch die Finnen wehrten sich gegen die sowjetischen Forderungen, die einer Aufgabe ihrer Unabhängigkeit gleichkamen. Das war Stalin natürlich nur Recht: er schickte die vorher an den Grenzen mobilisierte Rote Armee nach Finnland, um das Land zu unterwerfen, weitreichende Annexionen durchzusetzen und es in einen Satellitenstaat zu verwandeln. Das Manöver misslang gründlich. Der Winter erwies sich als wesentlich problematischer für die unzureichende sowjetische Logistik und die Finnen wehrten sich wesentlich verbissener als angenommen. Die Sowjets verloren Unmengen an Menschen und Material. Westliche Unterstützung für Finnland hielt sich in engen Grenzen: die USA waren durch die Neutralitätsgesetze und Frankreich und Großbritannien durch den Krieg mit Deutschland gehemmt. Angesichts der Kräfteverhältnisse schloss Finnland im Frühjahr 1940 nach einem halben Jahr erbitterter Kämpfe und absehbaren sowjetischen Durchbrüchen Frieden. (Ich habe mit dem amerikanischen Militärexperten Jim McGeehin einen Podcast zum Thema aufgenommen.)
In diesem Frieden annektierte die Sowjetunion rund 10% des finnischen Gebiets, aber die eigentlichen Kriegsziele wurden nicht erreicht. Anstatt wie in Polen, dem Baltikum, der Ukraine oder am Schwarzen Meer eine Wiederherstellung des Imperiums zu erreichen und der ehemaligen Kolonie seinen Willen aufzuzwingen, blieb Finnland unabhängig - und wandte sich nur ein Jahr später in einem Revanchekrieg gegen die Sowjetunion, den es 1944 zwar verlor, der aber der sowjetischen Bedrängnis gegen Nazi-Deutschland nicht eben zupass kam.
Einige Leser*innen mögen etwas verwirrt sein, dass ich hier von "Imperium" und "Kolonien" spreche. Russland aber ist in seinem Wesenskern ein imperialer Staat, der sich koloniale Gebiete unterworfen hat - nur dass anders als bei den europäischen Kolonialmächten diese Kolonien nicht in Afrika oder in Übersee lagen, sondern direkt angrenzen. Das ändert aber wenig daran, dass Sibirien, die Kaukasusregion, Polen, Finnland, die Ukraine, Kasachstan und so weiter letztlich Kolonien des Moskauer Zentrums waren und sind. Genauso wie Frankreich und Großbritannien lange an einer malaise d'empire litten, überwand auch Moskau seine imperialen Phantomschmerzen bis heute nicht. Der Ukrainekrieg wird daher am besten als ein revisionistischer, revanchistischer Kolonialkrieg begriffen.
Die Parallelen zum Winterkrieg wurden schon oft bemerkt. Man sollte sie nicht überstrapazieren, aber die massive Überlegenheit der imperialen Seite gegenüber ihrer ehemaligen Kolonie und eine völlige Unterschätzung ihrer Widerstandskraft, die unzureichende Vorbereitung des Krieges, die mangelhafte Logistik, die miserable Moral der Truppe, der wesentlich höhere Widerstandswille des Gegners - all diese Faktoren gleichen sich durchaus frappant.
Für die Zwecke dieser Abhandlung aber ist vor allem das Resultat interessant. Finnland hatte 1940 trotz aller unerwarter Erfolge und Zähigkeit keine Chance, die Sowjetunion militärisch zu schlagen. Zwar bezahlte die Rote Armee jeden Meter finnischen Bodens mit Blut. Aber sie hatte genug Blut in Reserve und keinerlei Hemmungen, es auszugeben. Zwar eroberten die finnischen Widerstandskämpfer die Herzen der "freien Welt" im Sturm, wurden Molotow-Cocktails und Sniper ikonisch. Aber letztlich konnte wenig Zweifel bestehen, dass die Sowjets am Ende die finnische Armee schlagen würden - allein, der Preis war angesichts der dräuenden Konfrontation mit anderen Mächten zu hoch. Also gab sich Stalin mit Gebietsgewinnen zufrieden und wandte sich - vorerst - anderen Schauplätzen zu.
Eine ähnliche Situation sehen wir auch in der Ukraine. Zwar sind deren Kräfte relativ zu Russland wesentlich umfangreicher als die Finnlands gegenüber der UdSSR; zwar stehen der Ukraine unendlich viel mehr Hilfen der "freien Welt" zur Verfügung als dem skandinavischen Underdog im Winterkrieg; zwar ist der Widerstandswille der ukrainischen Armee ungebrochen; zwar fährt die russische Armee gewaltige Verluste ein und bezahlt jeden Meter Boden mit Blut. Aber die russische Armee entrichtet den Preis, und sie konsolidiert ihre Gewinne, blutigen Meter um blutigen Meter.
Nichts davon entspricht Putins Plan, so wenig wie das blutige Ringen im Winter 1939/40 Stalins Plan entsprochen hatte. Das eigentliche Kriegsziel, die Wiederherstellung imperialer Macht, ist in weite Ferne gerückt. Längst geht es nur noch darum, auf welchen Gebieten die imperiale Flagge einst wehen wird. Dass der Rest dem Zugriff entzogen ist, steht außer Frage. Wie Finnland 1940 hat die Ukraine ihre Unabhängigkeit und Souveränität verteidigt und damit ihr größtes Kriegsziel erreicht. Wie Finnland 1940 hat die Ukraine aber auch nur wenig Aussicht auf einen militärischen Sieg.
Ob man diesen nun wie Kiew als eine komplette Vertreibung aller russischen Soldaten von ukrainischem Staatsgebiet in den Grenzen von 2013 versteht, in den Begriffen des Westens als Wiederherstellung des Status Quo vor Februar 2022 oder in Maximalideen wie einer blau-gelben Siegesparade auf dem Roten Platz, aktuell scheint keines dieser Szenarien sonderlich realistisch. Genauso wenig steht allerdings, glücklicherweise, ein russischer Durchbruch zu erwarten.
Meine Vermutung ist daher, dass das Ende dieses Konflikts ein Szenario ähnlich des Winterkriegs bereithält: Gebietsverluste für die Ukraine, aber die Sicherung der eigenen Souveränität und eine emphatische Ablehnung jeglicher Rückkehr in die kolonialen Strukturen des imperialistischen Moskau. Anders als Finnland aber dürfte die Ukraine eine Einbindung in das westliche System erwarten können - ob nun mit offizieller NATO- und EU-Mitgliedschaft oder ohne.
Bei den Salonkolumnisten wurde zudem noch eine weitere mögliche Folge des Krieges ins Spiel gebracht: eine Art Israelisierung. Gemeint war hier eine bleibende hervorgehobene Rolle der ukrainischen Streitkräfte. Der ständige Überlebenskampf des Staates gegen missgünstige Nachbarn hat ein sehr spezielles Verhältnis der israelischen Gesellschaft zu ihren Streitkräften bedingt, die für das Land eine treibende Rolle in seiner Modernisierung einnahmen, weil nur die Modernität und technische Überlegenheit der IDF und ihre hohe Effizienz das Überleben garantieren. Diese Rolle, so die These, könnten die ukrainischen Streitkräfte auch für die Ukraine übernehmen, die durchaus einen gewissen Bedarf an Modernisierung und Effizienz hat. Die Notwendigkeit, gegenüber weiteren russischen Revancheversuchen und Einflussnahme wehrhaft zu bleiben, könnte hier diesen Effekt hervorrufen.
All das kommt mit den üblichen Caveats, dass Voraussagen besonders dann schwierig sind, wenn sie die Zukunft betreffen, und dass jede historische Analogie nur soweit trägt, bis man zu genau hinschaut. Tiefere Analyse enthüllt grundsätzlich mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten, aber als Denkmodell hilft eine solche Analogie, Grunddynamiken zu veranschaulichen. In diesem Fall wäre das die de facto Niederlage der Russischen Föderation in der Ukraine, die ihre ursprünglichen Kriegsziele nicht mehr erreichen kann. Gleichzeitig aber ist ein Zusammenbruch ihrer Armee und eine komplette Niederlage auf dem Schlachtfeld sehr unwahrscheinlich. Es bleibt die Frage, welche Seite zuerst ermüdet und das Blutvergießen beenden will. Man sollte, auch mit Blick auf die Geschichte, hier nicht auf Wunder aus russischer Richtung hoffen.
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