Eine Justizdramödie
Frau S. schien nicht sonderlich überrascht, als sie die beiden jungen Polizisten freundlich begrüßte, die gerade ihre Haustür, mittels Einsatz ihrer körperlichen Fülle, eingetreten hatten. Sie stand da, die Lockenwickler im schütteren Haar und gehüllt in einen durchsichtig schimmernden Hauch von Morgenrock. Das war ihre ganze Bekleidung. In der Hand hielt sie eine Kaffeetasse. Ungerührt ob des plötzlichen Besuchs, rührte sie mit einem Löffel in der Tasse, dass dem Kaffee ganz schwindlig werden konnte. Auch schien Frau S. die beiden Pistolen nicht weiter zu beunruhigen, die auf sie gerichtet waren.
„Entschuldigen Sie bitte meinen nicht gesellschaftlichen Aufzug, aber ich bin noch nicht auf Besuch eingerichtet.“, begrüßte sie die beiden Polizisten.
„Wir müssen uns ebenfalls entschuldigen für die aufgebrochene Tür. Aber uns wurden Hilfeschreie gemeldet.“, erklärte ihr einer der beiden korpulenten Beamten.
„Aber ich bitte Sie. So etwas kann doch vorkommen.“
Frau S. lächelte freundlich. Die beiden übereifrigen Polizisten lächelten erleichtert zurück. Wohlwissend, das ohnehin schon interne Ermittlungen gegen sie liefen, wegen unberechtigten Waffengebrauchs gegen eine Kindergärtnerin, was deren Ableben zur Folge hatte. Im Nachhinein stellte es sich jedoch als den Scherzanruf eines ihrer Schützlinge heraus. In der Gruppe „Erdbeeren“ kam es zu einer Kontroverse, wegen eines wetterbedingten Sandkastenspielverbots, seitens der Gruppenleiterin. Diese Entscheidung wollte der vierjährige Tim-Oliver nicht hinnehmen und meldete eine Bombendrohung bei den Behörden. Krause und Krause, die beiden eineiigen Polizistengeschwister rückten aus und schossen versehentlich die Gruppenleiterin nieder. Versehentlich, wie sie in ihrem Bericht vermerkten, hatten sich siebzehn Schüsse aus den beiden Dienstwaffen gelöst. Die Gruppenleiterin Frau Petzold fiel, ungeachtet welchen Eindruck dies auf ihre Gruppe machte, in sich zusammen und auf den gerade frisch geputzten Boden. Im Kreise der ihr anvertrauten Kinder verschied Frau Petzold. Bis auf die kleine Cheyenne-Sioux, die neu in der Gruppe war, die einen Schluckauf bekam, was man ihr angesichts der Tragödie nicht zum Vorwurf machen konnte. Aus gründen von Personalmangel mussten die übergewichtigen Krausezwillinge die Gruppe übernehmen, ehe sie am Nachmittag die Kinder an die Eltern übergeben konnten. Soweit zu dem Vorleben der adipösen Geschwister, denn noch handelt es sich um ein schwebendes Verfahren. Eine Vorverurteilung wäre daher zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht angebracht. Noch steht Aussage gegen Aussage, da die beiden Krauses sich gegenseitig widersprechen, was den Tathergang betrifft. Doch nun standen sie einer neuen Herausforderung Auge in Auge gegenüber. Diesmal hatten sie sich jedoch in einem Zweiaugengespräch fest vorgenommen, es zu keiner Eskalation kommen zu lassen. Vorsichtshalber hatten sie die Munition aus ihren Waffen bereits vorab entfernt, damit kein unberechtigter Schuss sich lösen konnte.
„Sie sind Frau S., Haus- und Ehefrau ihres Gatten Herrn S.?“, fragte der eine Minute jüngerer der beiden Krauses.
„Verwitwete Frau S.“, korrigierte höflichst Frau S.
„Oh. Dann müssen wir von Amtswegen herzliche Anteilnahme bekunden.“, beteuerte der ältere der Krausezwillinge mit Passendem und angemessen betroffenem Gesichtsausdruck.
„Vielen Dank. Das ist sehr aufmerksam von ihnen.“, freute sich Frau S., über das ihr entgegengebrachte Mitgefühl.
„Ich darf, kann und muss mich meinem vorredenerischen Bruder anschließen.“, beeilte sich sein Bruder, zu versichern, der nicht zurückstecken wollte und ließ seinen Worten Taten folgen, indem er ihr die Hand reichte. Es war eine rührende Geste, die in der Dienstvorschrift nicht vorgesehen war. Er tat es aus einem unbewussten Gefühl heraus, ohne dabei auf etwaige Repressionen Rücksicht zu nehmen.
„Wie reizend von ihnen. Körperliche Wärme und Nähe tut ja so gut.“, seufzte Frau S. dankbar und eine gewisse Rührung war ihr nicht abzusprechen, besonders da ihre Augäpfel feucht glänzten.
Dann entstand eine gefühlvolle Pause, die in einer Stille endete, die kaum zu ertragen war. Drei Menschen und eine aus den Angeln gebrochene Wohnungstür, in gemeinsamen stillen Verharren, die sie einander näher brachte. Hier die Vertreter der exekutiven Staatsmacht, dort eine kleine zierliche unschuldige Bürgerin und am Boden liegend, das wahre Opfer, die aus Sperrholz gepresste Wohnungstür.
Doch dieser schöne Moment des Gedenkens währte nicht lange. Die beiden aufgeschwemmten Zwillinge erinnerten sich wieder ihrer Mission, die sie hierher verschlagen hatte.
„Verehrte Frau S., auch wenn sie von Trauer überfraut sind, so muss ich dennoch einige dienstliche Fragen stellen, damit wir unseren Bericht wahrheitsgemäß verfassen können und sie von aller Schuld freisprechen.“, begann der fette Jüngere, unter beipflichtendem Kopfnicken seines Bruders.
Der nutzte eine planmäßige Atempause seines gleichfalls unsportlichen Geschwisters und holte einen Fragebogen hervor, den sie selbst entwickelt hatten.
„Ihr Name Frau S.?“
„Frau S.“, antwortete Frau S. wahrheitsgemäß.
„Frau S.“, notierte er akribisch in Druckbuchstaben und in halblautem Ton.
„Beziehungsstatus?“
„Verwitwet. Vormals verheiratet.“
„Kinder?“
„Da bin ich noch unentschlossen. Erst konnte mein Mann nicht, jetzt kann er nicht mehr.“, erklärte sie und man konnte bemerken, wie sie darunter litt.
Mit vielsagenden Blicken sahen die beiden Pfundskerle sich an, denen weder Frau noch Kinder vergönnt waren und gemeinsam alleinstehend ihr altes Elternhaus bevölkerten, die in einer Nacht- und Nebelaktion unbekannt verzogen waren. Sie konnten und wollten dem ungezügelten Aufbau von Fettreserven ihrer Kinder nicht länger zusehen. Zu deren vierzigsten Geburtstag entschlossen die Eltern sich zu diesem drastischen Schritt, da sie der Ansicht waren, diese seien nun aus dem Gröbsten raus. Sie hinterließen eine frische Lasagne und einen Zettel. Darauf hatten sie handschriftlich vermerkt: „Wir sind weg.“
Aus diesen klaren Worten entnahmen die nun Vollwaisen Brüder, dass sie wohl zukünftig auf eigenen Beinen stehen müssten. Als Erstes belegten sie einen Kochkurs, der sich als Lebensversicherung für sie herausstellen sollte. Besonders das zweiwöchige Seminar: „Sahnesoßen über alles“ und der darauf aufbauende Workshop: „Fette, dein Freund und Helfer“, fand viel Anklang bei ihnen. Einzige Neuanschaffung in dieser Zeit, war ein Kühlschrank für ihr Kinderzimmer, welches sie sich schon seit Kindertagen teilten und nicht beabsichtigten, an dieser Tradition etwas zu ändern. Ihre Unzertrennlichkeit brachte ihnen schließlich auch den Spitznamen „Dick & Dickie“ ein.
„Darf ich den Herren vielleicht einen Kaffee oder ein Likörchen anbieten?“, unterbrach Frau S. die Fragebogenabfrage, da sie sich wieder auf ihre gastgeberische Selbstverpflichtung besann.
„Sehr zuvorkommend, aber Kaffee ist nicht gut für unsere Herzen und bevorzugen daher Milchshakes, jedoch nur aus frischer Sahne der Doppelrahmstufe.“,
gaben die Krausejungs unisono von sich.
„Oh, da werde ich wohl improvisieren müssen. Wenn die Herren mich in die Küche begleiten würden. Lieder ist das Wohnzimmer noch in Unordnung.“, entschuldigte sich die ansonsten perfekte Hausfrau und vollendete Gastgeberin.
„Aber nur wenn es keine Umstände macht.“, rief der jüngere Krause ihr hinterher, denn längst war Frau S. in der Küche und suchte in Kühlschrank und Vorratsraum nach dem, was ihren Gästen munden könnte.
„Ich habe ja noch eine Dose Vanilleeis.“, rief sie aufgeregt, „in zwei bis drei Stunden ist das aufgetaut, dann kann ich daraus einen köstlichen Vanilleeisshake zaubern.“
„Würde es nicht schneller gehen, wenn sie das eis aufkochen und dann abkühlen im Kühlschrank?“, bot der Ältere der Krausekinder einen Alternativvorschlag an.
„Was für eine reizende Idee. So individuell. So inspirierend und geradezu revolutionär!“, rief sie entzückt.
Der Jüngerer sah den Älteren voller Stolz an und schlug ihm brüderlich anerkennend auf den Bauch, der sofort die entstandene Delle wieder zurückdrückte und so den vormaligen Zustand wieder herstellte.
„Aber nehmen sie doch bitte Platz.“, bot Frau S. an und deutete mit einer eleganten Handbewegung auf die Eckbank.
Dankbar nahmen die beiden Schwergewichte das Angebot an und versuchten, ohne den davor stehenden Küchentisch groß zu verstellen, sich dahinter zu quetschen. Es gestaltete sich zu einer Mission impossible. Frau S. erkannte sofort das Problem und erklärte elegant, ohne ihre Gefühle zu verletzen, denn ihr war das massive Übergewicht der beiden nicht entgangen: „Wer hat denn den Tisch wieder so eng an die Eckbank gestellt. Ich mag ihn ja mehr in der Mitte des Raumes oder er steht im Flur, falls mal die Tür nicht eingetreten ist.“, flötete sie fröhlich in gespielter Entrüstung.
In einer gemeinschaftlichen und brüderlichen Spontanhilfe schoben die beiden den Tisch in die Mitte des Zimmers und konnten nun die Eckbank in Besitz nehmen, die zwar gefährlich knarrte und sich bog unter dem Gewicht, aber standhielt. Unterdessen kochte Frau S. das Vanilleeis in einem Topf auf.
„Fragen Sie nur. Fragen Sie!“, ermunterte sie die Männer, damit der Smalltalk nicht zum erliegen kam.
„Wir wollen Sie aber nicht in der Konzentration des Kochens stören.“, erklärte einer der beiden höflich.
„Das ist sehr zuvorkommend, aber eine gute Hausfrau muss heute multitaskfähig sein.“, lobte sie sich und ihre Fähigkeiten.
Die beiden Kolosse sahen betreten zu Boden, wohlwissend, dass ihnen diese Eigenschaft nicht gegeben ist.
„Ich werde etwas von meinem selbstgemachten Eierlikörchen einrühren.“, sagte Frau S. zu sich selbst, ganz in die Aufwertung ihres Rezepts vertieft.
„Wenn wir dann noch einmal auf die Hilferufe zurückkommen dürften. Wer tätigte die und warum?“
„Die tätigte zweifelsohne mein Mann. Mögen Sie Schlagsahne obenauf als Haube, verziert mit Zimt und selbstgemachten Amarettinis?“
„Nur wenn es keine Umstände macht.“, freuten sich die beiden und entwickelten bereits leichten Speichelfluss in froher Erwartung.
„Für meine Gäste nur das Beste!“, entgegnete Frau S. und bewies damit auch ihre Fähigkeit dichterischer Lyrik.
„Jetzt bin ich, nein jetzt sind wir doch einwenig irritiert. Sagten Sie nicht sie seien Witwe? Und dennoch trägt ihr Mann für die Hilferufe die Verantwortung. Selbst als medizinischer Laie sehe ich da einen gewissen Widerspruch.“, warf der kleine Krause ein.
„Natürlich rief er Hilfe zu seinen Lebzeiten. Danach war es ihm ja nicht mehr möglich.“, verteidigte Frau S. ihre Aussage.
„Ja das macht Sinn. Wir hätten sie auch sonst wegen Irreführung von Polizeibehörden belangen müssen. Aber mit ihrer präzisierten Aussage konnten sie den Sachverhalt ja aufklären.“
„Heiße Kirschen! Die würden doch wunderbar dazu passen.“
Frau S. war wieder ganz im Aufpeppen ihres Rezepts gefangen. Ob es nur ein hinterhältiges Ablenkungsmanöver war, lässt sich im Nachhinein nicht mehr sagen, aber es verfing sofort.
Die Augen der beiden Eckbankbesetzer strahlten. Sie schnalzten mit den Zungen und rieben sich vorausschauend ihre Bäuche. Diese dezenten optischen Hinweise wurden noch verstärkt durch ein rhythmisches Klatschen und einer verbalen Äußerung, die keinerlei Zweifel an ihrer Zustimmung aufkommen ließ.
„Heiße Kirschen? -- Jaaaa!“, jubelten die gefräßigen Ordnungshüter euphorisch.
Dies wertete Frau S. als Zustimmung und sofort wurde ein Glas Sauerkirschen in Kirschwasser getränkt, angedickt und erhitzt. Parallel dazu schlug sie Sahne steif. Die Beantwortung der sogenannten „Hilfe- Frage“, geriet dabei in vorübergehende Vergessenheit. Die Priorität aller Beteiligten lag nun eindeutig auf den Vorbereitungen für einen kulinarischen Hochgenuss, der zweifelsfrei am Entstehen war.
Für eiserne Kalorienzähler natürlich ein Armageddon. Jedoch für jeden Gourmet eine paradiesische Offenbarung. Schweigend und andächtig saßen die zukünftigen Begünstigten dieses Schlemmerbechers da und ließen der Hausfrau ihrer Kreativität und Raffinesse freien Lauf. Die Minuten bis zur Vollendung, vergingen im honigzähen Stundentakt. Endlich war es soweit. Musikalisch wären Fanfaren als Untermalung angebracht gewesen, doch bot das Radio nicht die erhoffte symphonische Begleitung. Mit zwei ausdekorierten ehemaligen Suppenterrinen, denn nur die konnten die Kalorienbombe in sich aufnehmen, trat Frau S. an die wartenden und darbenden Polizisten, die ihrerseits ihr strahlendstes Sonntagslächeln aufgesetzt hatten. Mit einem großen „Hallo“ wurde die Köstlichkeit begrüßt und dankbar entgegengenommen. Zwei frischpolierte Suppenlöffel, wurden ihnen als Werkzeug mit an die Hand gegeben. Hyänengleich stürzten sich die beiden Leckermäuler sofort auf ihre Beute. Zufrieden, wie es wohl auch jede andere Hausfrau, die ihren Beruf ernst nimmt, sah Frau S. ihren Gästen zu. Sie selbst gesellte sich mit einer Selleriestange dazu, denn sie war achtsam hinsichtlich dem Bewusstsein der eigenen Figur. Doch etwas betrübte sie einwenig. So zeitaufwändig und mühevoll die Zubereitung auch war, so schnell leerten sich die Terrinen. Bald waren sie bis auf den Grund ausgelöffelt und nur noch einige Spuren in den Polizistengesichtern erinnerten an die Schlemmerorgie.
Doch nun war die Schlacht geschlagen, die Bäuche zum Bersten gefüllt und Trägheit machte sich breit.
„Ach, jetzt ein Nickerchen.“, seufzten die Krauses im Kollektiv.
Und Frau S. wäre nicht Frau S. gewesen, wenn sie nicht den diskreten Hinweis verstanden hätte. Niemand sollte ihr nachsagen können, eine schlechte Gastgeberin zu sein und so bot sie rasch ihr Gästezimmer als Rückzugsort an, wo die beiden Männer ihren Verdauungsschlaf verrichten konnten. Waren die beiden Polizisten auch noch im Dienst, unhöflich wollten sie keinesfalls erscheinen und so nahmen sie dankbar an. In den anschließenden zwei Stunden, die für gewöhnlich ein Mittagsschlaf beansprucht, nutzte Frau S. die Zeit der Überbrückung und brachte die Küche wieder auf Vordermann. Denn bereits in wenigen Stunden würde ein Abendessen erwartet, wie sie hoffte. Auch dort wollte und würde sie ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen dürfen. Denn noch war das Verhör ja nicht beendet, sondern nur aufgeschoben. Im Wohnzimmer schaltete sie den Fernseher an, um sich bei Kochsendungen Anregungen zu holen. Erst das Geräusch der laufenden Dusche erinnerte sie wieder an ihren Besuch und ging flugs in die Küche, wo sie einige Kanapees vorbereitete, als Amüsgöll vor dem abendlichen Buffet.
Lendenbeschürzt mit jeweils zwei Bettlaken erschienen ihre Gäste, wohlriechend und gesichtsbereinigt.
Höflichst erkundigten sie sich, ob wohl die Möglichkeit bestehe, leihweise zwei Zahnbürsten zu bekommen. Auch diesem Wunsche kam Frau S. sofort nach.
Nach geraumer Zeit, wo nur ein zartes Gurgelgeräusch aus dem Bad zu vernehmen war, kehrten sie wieder. Die Bettlaken getauscht gegen ihre Uniformen.
„Wenn Sie dann noch Fragen hätten ...“, bot Frau S. ihnen ihre Mithilfe an und reichte die Kanapees herum.
„Ja.“, erklärte der jüngere Bruder, doch der ältere, mit blick auf seine Uhr widersprach.
„Bruder, wir haben Dienstschluss. Überstunden werden nicht bezahlt. Somit sind wir derzeit Privatpersonen in Uniform, was ein Verhör verfassungswidrig machen würde. Sie waren in einem Dilemma, wozu auch Frau S. nicht aufzulösen im Stande war. Hilflose Verzweiflung und die Suche nach Auswegen, fand Einzug in ihrer aller Gesichter. Nach reiflicher mehrstündiger Überlegung einigte man sich darauf, das Verhör auf den nächsten Tag zu verschieben. Nach dem Abendessen verließen die Polizisten die Wohnung und boten noch schnell, allerdings als Privatpersonen, an, die Tür wieder notbehelfsmäßig in die Angeln zu heben. Für diese menschliche Geste erhielten sie jeweils zehn Euro Trinkgeld, denn Frau S. wollte sich nicht nachsagen lassen, sie nütze die Gutmütigkeit der Menschen aus.
Zufrieden mit sich und der Welt, legte sich Frau S. zu Bett und freute sich auf den morgendlichen Besuch der beiden reizenden Herren.
*
Der morgen brach an und Frau S. brach auf, ungeachtet dessen, dass die Stadt noch in Dunkelheit gehüllt war. Selbst wenn es in der Stadt einen Hahn gegeben hätte, so würde er wohl noch auf seinem Misthaufen von willigen Hennen geträumt haben und nicht im Traum daran denken, zu dieser unchristlichen Zeit bereits zu krähen. Wohlwissend sein Schicksal in einem Suppentopf zu wähnen. Einzig der Hahn auf dem Kirchturm war schon höchst aktiv und drehte sich, ausgelöst durch das unbarmherzige Gebläse des Windes.
In der einzig verbliebenen Bäckerei am Ort, wurde unterdessen bereits der Brötchenteig geknetet und geschlagen, ja regelrecht verprügelt. Nach einer anonymen Anzeige wegen Teigmissbrauchs, konnte Bäckermeister Brodbeck, ja so hieß er wirklich, was ihm beruflich keine andere Alternative ließ, als seinem Namen alle Ehre zu machen. Jedoch konnte er glaubwürdig nachweisen, dass Brötchenteig malträtiert werden muss, um ihn luftiger zu machen. Vor Ort ließ sich das Geschworenengericht die Methodik erklären und zeigen. So verköstigten sie eine schlagende Teigvariante, als auch eine ungeschlagene. Wobei sie attestieren mussten, die geschlagene variante wäre unschlagbar im Geschmack.
Frau S. klingelte an der Bäckerei, deren Lichter sich jedoch noch nicht im Betrieb befanden. Eine Tatsache, die Frau S. jedoch nicht gelten ließ, denn schließlich ist, war und wird für alle Zeit, der Kunde König sein. Jedenfalls war sie festentschlossen, diesen alten Grundsatz durchzusetzen und zu verteidigen. Und so hämmerte sie energisch gegen die Schaufensterscheibe. Denn da sie damals in Physik gut aufgepasst hatte, was an dem attraktiven Lehrer lag, war sie bezüglich Schallwellen bestens aufgestellt. Die Vibration, die sie ausgelöst hatte, erreichten auch tatsächlich die Backstube und der mehlverzierte Herr Brodbeck erschien hochroten Kopfes und öffnete leicht verschnupft die Ladentür.
„Natürlich die Frau S.“, grüßte er sauerteigmäßig.
„Sind denn die Brötchen schon fertig?“, fragte diese scharf, als Reaktion auf seinen schroffen Ton.
„Wer mir keinen respektvollen guten Morgen wünscht, dem erwidere ich in gleicher Münze.“, dachte sie nicht nur, sondern setzte dies auch in die Tat um.
„Wir öffnen erst um sechs Uhr, wie eh und je.“, knurrte der Bäckermeister und schloss die Tür wieder hinter sich.
Diese ungehörige Strafaktion gegen sich, wollte Frau S. keinesfalls akzeptieren. Sofort organisierte sie eine spontane Sitzblockade, mit sich als erster und noch einzigen Teilnehmerin. Im Schneidersitz blockierte sie die Eingangstür der Bäckerei und lauthals verkündete sie eine eilig entstandene Protestparole, die den Bäcker in die Knie zwingen sollte.
„Brötchen, Brötchen! Gebt uns unsre Brötchen.“, skandierte sie laut und vernehmlich, was auch der gesamten Nachbarschaft nicht verborgen blieb. Überall gingen Rollladen hoch und wurden Fenster geöffnet. Müde, aber auch aufgeweckte Köpfe reckten sich hinaus und nicht alle waren mit der Aktion einverstanden, wie unterschiedlichstes Wurfmaterial vermuten ließ, was Richtung Frau S. flog. Doch was eine richtige Aktivistin, mit der Tendenz zum Extremismus neigend ist, die lässt sich von Gegenprotest nicht von ihrer Mission abbringen. Ein ausgedienter Berliner, Backwerk ihres erklärten Feindes, traf sie in voller Wucht am Kopf, platzte auf und die klebrige Marmeladenfüllung lief die Schläfe hinab. Wie Frau S. jedoch feststellen musste, der Geschmack konnte mit ihrer selbstgemachten Konfitüre nicht schritthalten. Irgendwo, verschanzt in einer der angrenzenden gutbürgerlichen Wohneinheiten, musste ein schmieriger Denunziant zum Telefonhörer gegriffen haben, die Polizei alarmiert und so sich gegen das im Grundgesetz verbriefte Recht auf Meinungsfreiheit, zu unterhöhlen versucht zu haben. Beleg für diese These war das Erscheinen eines Streifenwagens, der gerade unter Zuhilfenahme seines Blaulichtsignals und Sirenengeheuls vorfuhr. Die Lage spitzte sich dadurch mehr zu, als sie deeskalierend gewirkt hätte.
Doch Frau S. war fest entschlossen für ihre gute Sache zu kämpfen, selbst wenn sie dazu persönliche Opfer in Kauf nehmen musste. Denn längst hatte sich eine bedrohliche Traube von diversen Schlafanzügen, Morgenmänteln und einigen durchsichtigen Nachthemden versammelt, die versuchten die unangemeldete Demonstration im Keim zu ersticken, indem sie unverhohlen mit ihren Pantoffeln drohten. Aus dem Streifenwagen entstiegen zwei schwergewichtige ernst dreinblickende Polizeibeamte, die Frau S. nicht ganz unbekannt waren.
„Ach die Gebrüder Krause sind wieder im Einsatz.“, begrüßte sie freundlich die Beamten, die auf sie, scheinbar gezielt, zusteuerten.
Völlig überraschend wurde ihr Gruß nicht in gleicher Weise erwidert. Vielmehr schlug ihr eine mürrische und geradezu ungehaltene Frage entgegen, die sie auf ein Frühstücksdefizit zurückführte.
„Was ist denn hier los?“, knurrte der ältere der Krausebrüderpolizisten, ohne die freundliche Begrüßung seitens Frau S. angemessen zu erwidern.
Dies ließ Argwohn bei ihr aufkommen und sie bedauerte etwas ihre gestrige Gastfreundschaft.
„Ich demonstriere!“, erklärte sie, scharf im Ton.
„Wofür oder wogegen?“, mischte sich nun der jüngere Krause ein.
„Kollege, ich führe die Befragung. Beobachte und lerne.“, belehrte sein älterer Bruder.
„Jawohl Chef und großer Bruder.“, entschuldigte sich der Kleine kleinlaut.
„Ihr Name?“, forderte Krause der Ältere nun von Frau S. ein.
„Er hat sich seit gestern nicht geändert.“, gab diese schnippisch zurück.
„Das ist ein anderer Fall. Deshalb sind die gestrigen Personalien irrelevant. Ich wiederhole also, wie ist ihr Name?“
„Raten Sie doch mal.“, forderte Frau S. ihr Glück heraus.
„Hören Sie zu Frau S., das ist hier jetzt kein Spaß. Also noch einmal, ihr Name?“
„Antworten Sie ihm Bitte Frau S., sonst verzögern sie nur die Ermittlungen und mein Bruder wird ungehalten und ich muss es dann ausbaden.“, versuchte der Jüngere sich nun als Parlamentär, fing sich jedoch einen eiskalten Blick seines Bruders zu.
„Bitte. Ich weiche der Gewalt. Mein Name ist Frau S., antwortete Frau S. und schüttelte ob der absurden Situation ihren Kopf.
„Na also, geht ja doch mit etwas gutem Willen.“, freute sich der federführende Krause und notierte den Namen in seinem Notizblock.
„Danke Frau S.“, flüsterte der untergebene Krause ihr leise zu, denn damit war er vorläufig aus der Schusslinie seines Bruders.
Der Dienst- und Familienvorgesetzte setzte unverdrossen seine Ermittlungen fort, indem er weitere Fragen stellte, die für die Begründung des demonstrativen Menschenauflaufs unabdingbar waren.
„Frau S., wo wir aufeinandertreffen, herrscht Unruhe. Das muss wohl an einem von uns zweien liegen.“, versuchte er es mit einer gehörigen Portion Polizistenhumor, dessen Pointe sich wohl nur ihm selbst sich erschloss.
Jedenfalls amüsierte er sich königlich darüber. Mit diesem Gefühlsausbruch, der in einem Lachflash mündete, blieb er jedoch alleine. Selbst sein Bruder, der unter ihm Dienst tat, konnte nur ein müdes Augenrollen von sich geben. Bekanntermaßen sind Polizisten nicht für ihren Humor so beliebt, was sich hier auch eindrücklich zeigte. Es war der Beweis einer Fehleinschätzung sondersgleichen. Wenigstens gab es diesmal keine Buhrufe, wie sonst immer. Dies lag offensichtlich an der Übermüdung der Anwesenden, die vorzeitig aus dem Schlaf gerissen wurden.
Frau S. sah keinen Grund auf seine Feststellung einzugehen, da diese nicht in einer Frage mündete, auf die sie sonst gesetzlich verpflichtet gewesen wäre, wahrheitsgemäß zu antworten. Zudem war sie, wie alle anderen auch, noch von kläglichen Versuch sich als Spaßvogel zu inszenieren, tief erschüttert. Ja sie empfand sogar Abscheu.
„Als Komiker würden Sie aber recht schnell verhungern!“, gab sie eine kurze mündliche Rezension ab, die ihm zu Denken animieren sollte. Brutal und ehrlich, so wie es ihre Natur war, knallte sie es ihm, ohne Vorwarnung an den Kopf. In diesem Moment wechselte die Stimmung und die aufgeweckten Bürger solidarisierten sich mit ihr. Der kleine Krause spürte eine nahende Eskalation und sprang seinem Bruder zur Seite.
„Verurteilt ihn nicht vorschnell. Der Versuch, so kläglich er auch gescheitert sein mag, so war er doch aller Ehren wert. Verteufeln wir ihn nicht, nur weil er mutig uns Teil werden ließ an seiner Unzulänglichkeit, die er öffentlich zur Schau gestellt hat. Seht her, ich bekenne mich ganz freimütig zu ihm. Er ist und bleibt für alle Zeiten mein Bruder. Mögen seine Witze auch unterirdisch sein. So liebe ich ihn doch mit all seinen Fehlern. Mag es sein markerschütterndes Schnarchen in der Nacht, als auch sein gewöhnungsbedürftiges Essverhalten am Tage sein. Ich stehe treu zu ihm an seiner Seite. Zwar ist er nicht der Bruder, den man sich wünscht, aber ich habe Nuneinmal keinen anderen. Er war schon da, als ich geboren wurde und ich musste lernen, ihn so anzunehmen wie er eben war. Seien Sie doch einfach froh, dass er nicht der ihrige ist. Und nun danken sie Gott dafür.“
Damit beendete er seine Lobeshymne auf seinen Bruder und sah ihn strahlend an und freute sich auf das große verdiente Lob, was ihn erwarten würde. Die Überraschung war groß, denn mit einer schallenden Ohrfeige hatte er scheinbar nicht gerechnet.
„Sie kommt von Herzen, als dein Bruder, nicht als dein Vorgesetzter. Also versuch gar nicht erst eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen mich anzustreben.“, begründete der so Gelobte sein strategisches spontanes Vorgehen.
All jene, die dem drohenden Bruderkrieg unfreiwillig als Zeugen zugegen waren, sahen betroffen zu Boden, denn ein plötzlich losheulender Polizist ist wahrlich kein schöner Anblick.
Doch so schnell die brüderliche Eskalation begann, so rasch versandete sie auch wieder, indem der gelobt Gescholtene, sein Verhör einfach fortsetzte, als sei nichts Menschenverachtendes geschehen.
„Frau S., ignorieren Sie bitte einfach das eben Gesehene und konzentrieren Sie sich auf meine Fragen, die Grundlage des Verhörs bilden.“
„Ich bin ganz Ohr und ich versichere, nichts gesehen zu haben, was hier eben geschah.“, bot Frau S. ihm eine Brücke an, über die er unbesorgt gehen konnte.
Dankbar nahm er dieses Friedenszeichen an und wechselte den Ton. Vom flehentlich Larmoyanten, hin zu einer Schärfe, die jede Chilisoße in den Schatten stellte.
„Gestern noch unaufgeklärte Hilferufe und heute einen provozierten Aufstand ganzer Straßenzüge, mit Menschen, deren Kleidung nicht straßentauglich sind. Und nun frage ich Sie ganz direkt, konkret und in aller Klarheit: Was stimmt bei Ihnen nicht, Frau S.?“
Es waren Worte wie Nadelstiche, die sich hemmungslos in den Körper der Beschuldigten hineinbohrten.
Zitternd und wutentbrannt, so lässt sich deren Gefühlslage, aufgrund der mannigfaltigen Verfehlungen wohl am besten beschreiben, die Frau S. ungefragt an den Tag legte.
„Ich habe niemanden aufgefordert hier einen Auflauf zu bilden, geschweige in unziemlicher Aufmachung.“, verwahrte sich Frau S. gegen diesen massiven Angriff auf ihre Person.
„Dann schildern Sie augenblicklich den Sachverhalt, wie er sich ihrer Meinung nach abgespielt haben soll. Aber ohne Übertreibungen, Dazuerfundenes oder Ausschmückungen. Nur die puren nackten Tatsachen! Haben Sie mich verstanden?“, schrie der alte Krause sie an, wohl um seine Unsicherheit zu kaschieren.
„Nicht in dem Ton! Ich bin eine Dame.“, schrie Frau S. brüsk zurück.
Der Polizist wurde nachdenklich, worauf die Falten auf seiner Stirn Zeugnis ablegten. Still und von Betroffenheit gezeichnet ging er in sich. Dann antwortete er schmallippig und verhalten leise.
„Für meine ungedrosselte Lautstärke mache ich meinen ungefrühstückten Körper verantwortlich. Mir selbst ist dabei keinerlei Vorwurf zu machen. Deshalb fahre ich in gemäßigten Ton, aber denselben Fragen fort, deren Beantwortung ihrerseits noch aussteht.
„Na geht doch!“, lobte Frau S. die Bereitschaft ihres Kontrahenten, sich so formvollendet eine plausible Entschuldigung abgerungen zu haben.
Er nahm das ungetrübte Lob dankbar an, bestand dennoch auf die dringliche Beantwortung seiner Fragen. Ansonsten sah er sich gezwungen, die Fakten sich eigenverantwortlich zusammenzureimen.
Frau S. ahnte, dies hätte eine sofortige Verurteilung ihrerseits zur Folge und so folgte die seinem Appell und ließ sich dazu herab, ihre Sicht der Dinge zu erläutern, die zu der objektiv stattgefunden Bettenmassenflucht geführt hat.
„Hiermit erkläre ich an Eides statt ...“, begann sie bewusst melodramatisch.
Alle Augenpaare waren nun auf sie gerichtet, was sie sichtlich genoss, denn bisher litt Frau S. unter einem unerkanntem psychologisch attestierten Aufmerksamkeitsdefizit, seitens ihres verblichenen Ehemanns und angedachtem Vater, ihrer noch zu bekommenden Kinder.
Es sollte eine rührselige Lebensbeichte werden, die jedem der sie zu hören bekam, die Tränen in die Augen treiben wird oder er war ein herzloser Mensch, mit einem Herz aus Granitstein. Sie offenbarte eine rücksichtslose und selbstreflektierte Rede, ja man darf sagen eine Anklage und verschonte niemanden dabei. Selbst vor sich machte sie nicht halt. Je mehr sie sich in Rage redete, desto betroffener wurden die Gesichter der Umstehenden, die ihren Ausführungen in stiller Andacht folgten.
Eine der wohl bedeutungsvollsten Auftritte, die jemals stattfanden, hier und jetzt zum ersten Mal in voller Länge nachzulesen, mit freundlicher Genehmigung der ehrwürdigen Rednerin.(FN Aus Gründen und Verneigung vor dem großartigen Pamphlet an die Welt, wurde eigens eine neue Schriftart gewählt. Es Inder derselben zu schreiben, wie der Rest der Geschichte, würde dem Text nicht gerecht werden. Wir bitten die geneigte Leserschaft entsprechend zu würdigen und die rede mit der Würdigung zu lesen, der ihm zusteht. Eine Nichtbeachtung oder einfaches Umblättern, wird nicht geduldet und entsprechend sanktioniert. FN)
„Hoch zu verehrende Obrigkeit, namentlich ihre Vertreter, die Gebrüder Krause, sowie sämtliche anwesende Anwohner. Hier, wo Brot und Kuchen erwächst, die Bäckermeister Brodbeck uns täglich zur Gaumenfreude darreicht, gestattet man mir, das Wort an die Welt zu richten. Nehmen Sie es in ihren Herzen auf und handeln Sie danach, dann wird Frieden auf Erden einziehen. Mein frühmorgendliches Erscheinen wurde hier äußerst brutal kritisiert. Diesem Vorwurf werfe ich mein Gewicht entschieden dagegen. Nur aus purer Menschlichkeit, selbstlos wie es mein Wesen nun einmal ist, kam ich frohen Mutes hierher, um die frischesten der frischen Brötchen zu erstehen, die es in dieser Stadt gibt. Doch ich stieß auf eine Wand von Unverständnis, Bösartigkeit und unverhohlener Geschäftsverweigerung. Unwillig mir den geringsten Wunsch nach Backwerk, zu erfüllen, wurde mir von Bäckermeister Brodbeck willkürlich die Tür vor der Nase zugemacht. Ein ungeheuerlicher Vorgang, der wohl auch sie alle zurecht empört. Sich nun auf meine Seite zu schlagen, ist nichts anderes als reine Menschenliebe, die ich bei ihnen zu finden hoffe. Und sehen Sie hier, diese beiden treuen gutgenährten Polizisten, die der wohligen Wärme ihres Dienstwagens entsteigen mussten, hinaus in die Kälte des Morgens, nur weil es Denunzianten gibt, die gegen mich opponieren. Aber sie haben nicht den Schneid, sich hier öffentlich zu bekennen und sich für ihre schändliche Tat entschuldigen und Abbitte leisten. Denn diese Brötchen, die ich heute Morgen käuflich erwerben wollte, waren nicht für mich bestimmt. Sie sollten Zeugnis meiner Hochachtung für zwei jungen hungrige Menschen sein. Und hier stehen sie, diese tapferen Männer, die mich wegen eines anderen, völlig geringschätzigen Vorfalls, mich heute Morgen besuchen wollten, da noch die ein oder andere Frage ungeklärt ist. Diese beiden, die hier anwesenden Geschwister Krause, sind für mich vorbildliche Polizeibeamte, die mit Menschlichkeit operieren und den Mensch noch Mensch sein lassen. Ihnen beiden sollte das frische Backwerk aufgetischt werden. Und nun stehen sie da, beschämt von so viel Liebe, dass sie ihren Tränen freien Lauf lassen. Seht auf diese Männer! Sie verlangen so wenig und geben so viel. Sie sind Beschützer und Helfer in der Not. Vom Regeln des Verkehrs bei defekter Ampelschaltung, bis hin zum letzten Gruß an Mordopfer. Wo Sorgen, Not und Verzweiflung auftreten, da sind sie sofort zur Stelle. Wo ein Kind sich verirrt, ein Alter verwirrt, da ergreifen sie, ohne Rücksicht auf ihr eigenes bedrohtes Leben, die Initiative. Wahrlich man sieht es ihnen nicht an. Es sind nur einfache Leute. Zwei Brüder, die nur zufällig im Bauch der Frau heranwuchsen, die sie später, als ihr Sprachzentrum es zuließ, Mutter zuriefen. Optisch nichts Besonderes. Durchschnittsgesichter. Fettbeleibt und sicher auch keine Womanizer. Poröse Haut und ein Haarschnitt, der zu jeder Klage gegen de Friseur rechtfertigt. Arm an Geiste, Keine strahlenden Helden. Untrainiert und schwerfällig. Blass in der Ausstrahlung und wenig wortgewandt. Keine Männer zum Verlieben. Erotisch unbedarft und wahrlich keine Hingucker. Aber sie sind da und tun ihre Pflicht. Und das wiegt doch all die Unzulänglichkeiten auf. Wer, wenn nicht sie, haben ein anständiges und reichhaltiges Frühstück verdient. Deshalb und nur darum bin ich hier. Stellvertretend für alle die Menschen, die sich auf ihre Polizei verlassen können, um einmal Danke zu sagen. Danke, Danke und nochmals Danke. Dies alles zu sagen war mir ein inneres Bedürfnis. Und nun urteilen sie über mich. Ich lege mein Leben in ihrer aller Hände. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Minutenlanges Schweigen. Kein Atmen, kein Husten waren zu hören. Ergriffenheit und Bestürzung, soweit das Auge schweifen konnte. Frau S. hatte sie alle mit ihrer emotionalen Rede nicht nur gefesselt, sondern ihnen die Augen geöffnet. Jetzt sahen sie die Welt zwar noch mit denselben Augen, aber in einem anderen Licht. Doch der wahre Höhepunkt sollte noch folgen. Bedächtigen Schrittes, die Zerknirschung ins Gesicht gemeißelt, trat Bäckermeister Brodbeck vor die versammelte Gemeinde. In den Händen ein selbstgeflochtenes Weidenkörbchen und auf einem goldverzierten purpurnen Brokatdeckchen, mit dem das Körbchen ausgekleidet war, lagen die knusprigsten, krossesten und noch warmen Brötchen. Mit einer tiefen ehrfürchtigen Verbeugung trat er an Frau S. heran und übergab ihr die duftende Gabe als Geschenk. Es war ein heroischer Moment. Unvergessen für alle die dabei sein durften. Kindern und Enkelkindern wird man es überliefern, damit es nie in Vergessenheit gerät, wie eine standhafte Frau zur Ikone erhoben wurde. Was Wasser, Mehl und etwas Salz doch bewirken können, wo Waffen versagen.
Ruhig und gelassen, als wenn es nichts Besonderes sei, nahm Frau S. das Körbchen an und ging ganz bescheiden ihrer Wege. Und gerade diese einzigartige Bescheidenheit machte ihren Abgang so sehenswert. Unter dem Jubel sämtlicher Zeugen dieses einmaligen Schauspiels, entschwand sie schließlich. Die fröstelnden Nachthemden, Negligees und Schlafanzüge verschwanden schweigend in ihren Wohnungen. Sie hatten ihre Lektion gelernt. Auch die beiden Krausbrüder stiegen wieder in ihren Dienstwagen, an deren Frontscheibe ein Protokoll für falsches Parken hinter dem Scheibenwischer hing. Doch nach all dem, was sie gerade erlebt hatten, war das nur eine unbedeutende Petitesse.
*
Mit Martinshorn und Blaulicht, fuhren sie, die Straßenverkehrsordnung außen vor lassend, zu ihrem nächsten Einsatzort. Dann verkündeten quietschende Reifen, infolge einer Vollbremsung, das Erreichen ihres Bestimmungsortes an. Sie klingelten an einer Wohnungstür Sturm und als niemand öffnete, klopften die Krauses sacht gegen die Tür, die augenblicklich nachgab und vornüber fiel. Sie traten ein, gingen in die Küche und setzten sich auf ihren angestammten Platz, ihrer Eckbank und warteten auf das Eintreffen von Frau S.!
Die Vorfreude auf frische Brötchen wuchs minütlich. Um sich die Zeit zu vertreiben, begannen sie den Tisch zu decken. Nicht nur aus Eigennutz, sondern auch, um ihrer Gastgeberin eine kleine Freude zu bereiten. Es klingelte gerade in dem Moment, als der jüngere Krause die Butter auf den Tisch stellte. Sein marmeladentragender Bruder, der am Nächsten an der Tür stand, öffnete diese. Ein junger Mann, mit aufgesetzter Freundlichkeit, stand im Türrahmen und sah verwundert auf die am Boden liegende Tür. In seinen Händen hielt er einen Blumenstrauß.
„Ah die Blumen. Na endlich.“, meinte der ältere Krause und nahm dem Mann die Blumen ab, zahlte und ging wieder in die Küche. Es war als ein Geschenk für Frau S. gedacht. Die beiden Beamten hatten unterwegs über die Notrufzentrale die Bestellung in auftrag gegeben. Krause junior brachte bereits eine gefüllte Vase und stellte die Blumen auf den Tisch Eine Tulpe, umgeben von überproportional viel Schleierkraut bildeten das frühlingshafte Blumenarrangement.
„Frau S. wird entzückt sein.“
„Lasst Blumen sprechen.“, ergänzte der Ältere, auf den Jüngeren der Krauses.
„Warum liegst du denn schon wieder auf dem Boden?“, hörten sie eine Stimme.
Die beiden Polizisten erhoben sich von der Eckbank, um Frau S. anständig willkommen zu heißen.
„Oh, Sie sind schon da.“, meinte diese überrascht, als sie die Küche betrat.
„Die Tür fiel um, gerade als wir klingelten. Damit war ja Tür und Tor für Einbrecher und Diebesbanden geöffnet. Da sahen wir uns gezwungen, die Wohnung zu sichern.“, entschuldigte Kraussenior ihr eindringen in Frau S`s. Privatsphäre.
„Was seid ihr doch für zwei patente Kerle.“
Frau S. war voll des Lobes, auch hinsichtlich des üppig vorbereiteten Frühstückstisches.
„Nehmen Sie Platz Frau S., mein Bruder übernimmt die Bedienung.“, stellte der ältere Krause die Hierarchie fest.
Der Jüngere gehorchte ohne Murren, schenkte Kaffee ein, nahm die Eier aus dem Wasserbad und pellte für alle diese. Für jeden wurde ein Brötchen von ihm eigenhändig aufgeschnitten und dann durfte auch er sich an den Tisch setzen. Für die Belegung des Brötchens war jeder eigenverantwortlich zuständig.
Nachdem man ausgiebigst gefrühstückt hatte, kehrte der graue Alltag wieder ein. Jeder ging nun wieder seiner Arbeit nach. Frau S. begann abzuwaschen und die Krauses setzten ihr gestriges Verhör fort.
„Wegen der gestrigen Hilfeschreie gibt es noch einige Unklarheiten.“, begann der Ältere und versuchte dabei einen Marmeladenklecks an der Nase, mit seiner Zunge einzufangen.
Sein jüngerer Bruder schmunzelte über die ungenügende Zungenakrobatik seines Bruders, denn der Weg zur Nase, war mit der Länge der Zunge nicht in Einklang zu bringen. Schließlich nahm er ein Stück Küchenrolle und erlöste, durch eine gezieltes „Wisch und Weg Manöver“, die aufgetretene Unappetitlichkeit, ohne seinen Bruder in eine peinliche Situation zu bringen. Nach der Unterbrechung der Säuberungsaktion ging das Verhör in voller Härte und unerbittlich weiter. Man konnte deutlich feststellen, die Daumenschrauben wurden dabei kräftig angezogen. Vor allem der Ältere der Krauses schien auf diesem Gebiet eine Kapazität zu sein, während sein kleinerer Bruder eher von der weicheren Fraktion war und Mitleid mit Frau S. hatte, die sein Bruder versuchte in die enge zu treiben. Doch seine Stellung als brüderlich Jüngerer und dienstlich Untergeordneter, ließ ihm keinen Spielraum für eine Intervention. So hielt er sich zurück und litt nur heimlich wie ein Hund.
„Fassen wir zusammen, was wir bisher wissen!“, so das Opening des alten Krause.
„Ja bitte. Ich habe schon ganz vergessen, worum es eigentlich ging.“, meinte Frau S. und kratzte energisch mit Stahlwolle die Pfanne, in der noch vor kurzem der Speck sich anschickte, erfolgreich knusprig zu werden.
„Dem gedenke ich nun Abhilfe zu schaffen, Frau S. und daher fordere ich Sie auf, trotz der sicherlich wichtigen Hausarbeit, die sie absolvieren müssen, meinen Informationen zu folgen und Einspruch erheben, falls ich Fakenews verbreiten sollte.“
Nun war Frau S. ganz Ohr. Der kleine Krause, dem die Rolle des Protokoller zufiel, schrieb fleißig den Gesprächsverlauf gleich zweimal wortwörtlich mit. Einmal für die Polizeiakten, auf der sich eine eventuelle Strafe stützen könnte und zusätzlich ein zweites mal aus ganz privaten Gründen, denn er beabsichtigte, später einmal ein Enthüllungsbuch zu schreiben, was ihm weltweite Anerkennung und Geld einbringen sollte, damit er sich eine eigene Wohnung leisten konnte und nicht mehr mit seinem Bruder im gemeinsamen Kinderzimmer schlafen musste. Dies musste jedoch insgeheim stattfinden, denn der Ältere wusste nichts von den Abnabelungsversuchen seines kleinen Bruders, der sonst versuchen würde gegen ihn zu intrigieren.
„Fakt ist, es gab Hilferufe in diesem Haus. Wie eine eilig einberufene Mieterversammlung feststellte, drangen diese aus dieser Wohnung. Richtig?“
Frau S. nickte angestrengt, denn die Reinigung der Pfanne erwies sich als äußerst mühsam, da sich Frühstücksspeckteile eingebrannt hatten.
„Richtig?“, wiederholte der Krauseanführer, der auf eine verbale Bestätigung bestand.
„Ja richtig, wenn Sie das sagen.“, antwortete Frau S. leicht gereizt.
„Achten Sie auf ihren Ton. Lassen Sie ihre Pfannenwut nicht an einem Beamten im Dienst aus. Das könnte erhebliche und verschärfte Strafen nach sich ziehen. Das Gesetz ist da unerbittlich.“
„Jawohl Herr Wachhabender.“, knickte nun frau s. unter dem Druck der Obrigkeit ein.
Demonstrativ stellte sie die Pfanne zum Einweichen zur Seite und widmete sich leichterer zu reinigenden Spülgegenständen.
Exemplarisch sei an dieser Stelle Brötchenaufschneidemesser, Tomatenscheibenvorlegegabel und Frühstückseieierbecher genannt, deren Schmutzgrad für gewöhnlich sehr gering sind und so weniger Aufmerksamkeit bedürfen.
Zufrieden mit der angekündigten Bereitschaft zur uneingeschränkten Mitarbeit fuhr der Verhörspezialist weiter.
„Damit wäre der Ort der Hilfeschreie also lokalisiert. Jedoch behaupteten sie, nicht für die Lärmbelästigung verantwortlich zu sein. Ist dem so?“
„Das Rufen oder Schreien von Hilfe entspricht nicht meiner Natur. Ich genoss eine gute Erziehung, die diametral zu ihrer Anschuldigung steht. Schon aus diesem Grunde bin ich freizusprechen.“
„Nicht so schnell junge Frau. Bewiesen ist hier noch gar nichts. Haben Sie Zeugen, die bestätigen können, dass von ihnen keine Schreie nach Hilfe ausging?“
„Als zeuge benenne ich meinen Mann.“, entkräftete Frau S. jegliche Schuldzuweisung.
„Der ist jedoch tot und kann als Zeuge nicht mehr gehört werden. Sie manövrieren sich gerade in eine ausweglose Lage. Vielleicht sollten sie doch einen Anwalt zu Rate ziehen.“
„Anwälte sind kostenpflichtige Blutsauger und lügen, wenn es im Sinne ihrer Mandantschaft ist. So ein Gesindel unterstütze ich nicht. Auch wenn ich nur eine kleine Hausfrau bin, so bin ich doch noch Herr meiner Sinne.“
„Bravo Frau S., diese studierten Wucherer sind doch krimineller als ihre Mandanten.“, rief der Protokollant entzückt und warf sich verbal für Frau S. in die Bresche.
„Schweig still, du zur Neutralität verpflichteter. Du bist nicht die Schweiz.“, schnauzte der Familienältester ihn an.
„Ich fühle mich der Schweiz aber sehr nahe.“, pochte der Jungspund auf seine Meinung.
„Bruder, du gehst ohne Abendessen ins Bett, wenn du nicht augenblicklich deine Meinung meiner anpasst.“, drohte der Alte.
Und so gab ein Wort das andere. Aus dem anfänglich leichten verbalen Gefecht entwickelte sich eine körperliche Auseinandersetzung und erst als der Junge niedergerungen am Boden lag, beendete er den Kampf, indem er eine Demutsgeste einnahm.
Dem Bruderkrieg folgte eine Versöhnungsumarmung und diverse Brüderküsse, die sie aus Russland übernommen hatten und zu ihrer Familientradition erhoben hatten. Frau S. nutzte unterdessen die Zeit, die Küche wieder auf Vorfrühstücksniveau zu bringen.
Der Frieden war wieder hergestellt und der Kampf um die Wahrheit konnte wieder aufgenommen werden.
„Kehren wir nun wieder zurück.“, erklärte der Siegerkrause.
„Wenn Sie mich zuvor noch rasch die Küche kehren lassen, dann bin ich betriebsbereit für die Vorbereitung des Mittagessens.“
„Diesem Wunsche kann ich nicht stattgeben und falls es ein Versuch der Bestechung sein sollte, müsste ich rechtliche Schritte einleiten.“
„Ich plane lediglich ein Einpersonenmittagessen. Ihr Vorwurf ist also somit unbegründet.“
Mit diesen Worten hatte Frau S. eine advokatische Salve abgefeuert, wie es auch ein Staranwalt nicht hätte besser machen können.
Dem kleinen Krause jedoch missfiel die Entwicklung dieses Disputs, da er fest mit einem Mittagessen gerechnet hatte. Entsprechend verfiel sein Gesicht in tiefe Trauer.
„Was hätte es denn gegeben, wenn Sie diese feindselige Ausladung nicht ausgesprochen hätten?“, fragte er vorsichtig nach.
„Nur eine Kleinigkeit! Mit Pilzen gefüllte Truthahnschenkeln, an Parmesanrisotto und Zucciniblüten, gefüllt mit Leipziger Allerlei. Ausdekoriert mit handgepflückten Blütenblättern und zum Nachtisch einen Appelpie.“
Krause Junior wurde ganz schwummrig vor Augen und auch bei dem Großen sammelte sich reichlich Speichel im Munde zusammen.
„Oh!“, schluchzte der Kleine und auch der Große seufzte laut und vernehmlich.
Aber es half ja nichts. Dienst war eben Dienst.
Nachdem beide sich wieder einigermaßen im Griff hatten und die Tränen versiegt waren, begann das Verhör von Neuem.
„Wenn, Frau S., ich ihren Ausführungen Glauben schenken kann, dann hat in dieser Wohnung jemand Hilfe gerufen, der Sie nicht waren. Stimmen Sie mir diesbezüglich zu?“
„Wenn es dienlich für mich ist, dann stimme ich dem vollumfänglich zu.“
Frau S. war froh, dass man nun auf einen Nenner gekommen war. Jedenfalls hoffte sie dies nun. Dem war jedoch mitnichten der Fall, der sich komplexer entwickelte, als es dem Anschein nach war. Doch hier hatte sie die Hartnäckigkeit und das Misstrauen vom alten Krause vollkommen unterschätzt. Denn der gab sich noch nicht geschlagen.
„Wer hat denn nun Hilfe gerufen?“
„Offensichtlich wohl meine Nachbarn.“
„Nein ich meine, wer „Hilfe“ gerufen hat., präzisierte Herr Krause und verdeutlichte es dahingehend, dass er laut „Hilfe“ rief.
Eine deutliche Reaktion folgte auf dem Fuße. Klopfgeräusche an den Wänden und von der Decke herab, sprachen eine deutliche Sprache. Doch damit war es mit der Ruhestörung nicht genug. Langanhaltendes Sturmklingeln, vor der am Boden liegenden Wohnungstür, zeugte von einer aufgebrachten Menschenmenge, die sich aus der Nachbarschaft speiste. Um der Invasion Herr zu werden, eilten die Polizisten zum türbefreiten Türrahmen, um die Invasoren zurückzuschlagen.
„Einen Schritt über die Schwelle und wir machen von der Dienstwaffe gebraucht.“, drohte unverhohlen der Krause-Clan.
Da der deutsche Durchschnittsmieter grenzenloses Vertrauen in die Polizei hat, zog man sich wieder zurück. Zwar war ihrer aller Überraschung sehr groß, wie schnell die Polizei doch vor Ort war, doch nun wussten sie immerhin den Hilfe-Rufer gut aufgehoben. Im Bewusstsein, den drohenden Nachbarschaftskrieg mit humanen Mitteln verhindert zu haben, kehrten die Krauses zurück auf ihre Eckbank und wurden von Frau S. mit dem Hinweis begrüßt, sie mögen ihre Beine heben, damit es ihr möglich sei, den Staub unter der Eckbank aufzukehren. Dies war eine einfach zu lösende Aufgabe, wenn man nicht gerade einer der schwergewichtigen Krausebrüder ist.
Aus eigener Kraft war es ihnen unmöglich, diese für sie akrobatische Übung, auszuführen. Nur mit gegenseitiger brüderlicher Hilfe gelang es ihnen, in dem der eine dem anderen die Beine anhob. Unter Ächzen und Stöhnen, was Frau S. nicht weiter störte, solange sie nur an den Staub kam, vollbrachten die Krauses diese zirzensische Meisterleistung, der jedem Zirkus zur Ehre gereicht hätte. Da waren zwei bislang unentdeckte Talente, deren Körperbeherrschung und dem, was sie damit anzufangen wussten, eine Manege ihren Höhepunkt bescheren und Jubelstürme unter der Zirkuskuppel empfangen könnten. Doch leider zogen sie es vor, dem Polizeidienst beizutreten.
Und bescheiden wie sie nun einmal waren, sonnten sie sich nicht im ausbleibenden Applaus von Frau S., sondern gingen wieder dazu über, hart mit ihrer Gastgeberin ins Gericht zu gehen, um endlich den Fall restlos aufzuklären.
„Wenn, wie sie dreist behauptet haben, der oder die, denn das ist ja noch nicht geklärt, Hilfeschreie nicht von ihnen ausgestoßen wurden, wer tat es dann?“
Krausesenior kniff seine Augen zusammen, runzelte die Stirn und stemmte erschwerend auch noch die stämmigen schwabbeligen Arme in seine fülligen Seiten. Es war die höchste Bedrohungsstufe, zu der er imstande war.
„Mein Mann war es. So jetzt wissen sie es.“, sagte sie ganz lapidar, auch wenn das Bedrohungspotenzial sie wenig beeindruckte.
„Ich denke, er ist tot?“
„Da lebte er noch.“, sagte sie ganz ruhig und teilnahmslos.
„Und wann starb er?“
„Direkt im Anschluss.“
„Bitte etwas Ausführlicher. Lassen Sie sich doch nicht alles aus der Nase ziehen.“, kritisierte Krause die Aufklärungsbereitschaft der Beschuldigten S. und deren Hinhalte- und Salamitaktik.
„Er schrie „Hilfe“ und verschied daraufhin im direkten Anschluss.
„Es war einnatürlicher Tod?“
„Natürlich war er natürlich. Denken Sie etwa, ich lege Hand an den.“
Dieser von ihr unbedachter Satz, einfach in die Welt geschleudert, sollte ihr noch arge Probleme bereiten.
Auch dem alten Krausebruder entging der seltsam anmutende Satz nicht. Besonders der Subtext ließ ihn aufhorchen.
Mit geschickter Raffinesse ging er vorsichtig in seinem Verhör weiter, nicht ahnend, welche Abgründe sich noch auftun würden, sonst hätte er wahrscheinlich aus Rücksicht auf seine ohnehin schon vernarbte Seele, das Gespräch beendet.
„Wo befindet sich denn der Verblichene derzeit?“, stellte er ganz unverbindlich und so nebenbei, eine nicht ganz unberechtigte Frage.
„Im Wohnzimmer.“, antwortete Frau S. ganz ruhig.
„Im Wohnzimmer?“, wiederholte er die Worte, nur in eine Frage gekleidet.
„Dort befand er sich, als er den Schrei losließ und dort hauchte er auch sein Lebenslicht aus. Ich sah keinen rationalen Grund, an seinem Endpunkt etwas zu ändern. Im Bett wäre er ja jetzt genau so tot. Und auf der Eckbank würd er ja nur unnötig umfallen. Und dann hätten sie beide ja auch keinen Sitzplatz gehabt. Ergo war das Wohnzimmer optimal und es ist auch gemütlicher.“, erläuterte Frau S. ihre Entscheidung.
„Die Leiche liegt noch in der Wohnung.“, meinte der kleine Bruder und ihm schauderte.
Wenige bis gar keine Leichen pflasterten bislang seinen Weg. Bislang wurde er hauptsächlich als Verkehrspolizist auf einem Fahrradübungsplatz für ABC-Schüler eingesetzt, wo er direkt wenig mit dem Tod konfrontiert war. Doch jetzt hatte ihn die harte Realität eingeholt, denn nun galt es, den Fundort der Leiche aufzusuchen.
Sein Bruder war es, der mit drastischen Worten dazu aufrief.
„Wir müssen ins Wohnzimmer und die Leiche begutachten, ob sie tatsächlich ohne Fremdeinwirkung zu Tode kam. Wenn dem so ist, müssen wir nur ein Ordnungsgeld wegen Ruhestörung verhängen. Allerdings bezweifle ich, es von dem Toten noch eintreiben zu können. Höchstens wir führen eine legale Taschenpfändung durch. Kollege folge mir ins Wohnzimmer.“
Das plötzlich auftretende Zittern am ganzen Leib, seines brüderlichen Kollegen, ließ ihn erahnen, dass jener die Hose gestrichen voll hatte. Doch mitgefangen mitgehangen, wie es so schön im Volksmund lyrisch heißt, blieb der Ältere unerbittlich und schleifte den Kleinen hinter sich her. Frau S. brühte sich unterdessen einen Kaffee.
Die Tür zum Wohnzimmer, auch als Wohnzimmertür bekannt, war geschlossen. Sie lauschten, konnten jedoch nichts hören, was anhand der Aussage der Hausfrau auch nicht weiter verwunderlich war. Dennoch waren sie vorsichtig, um nicht in eine etwaige Falle zu geraten oder noch schlimmer, in einen Hinterhalt. Die Pistolen im Anschlag, öffneten sie vorsichtig die Tür. Zunächst blieben sie im Türrahmen stehen und sondierten die Lage. Jedoch nicht Verdächtiges schien sie zum Handeln zu zwingen. Hand in Hand, was ihnen Sicherheit und Stärke gab, traten die Gebrüder Krause ein. In einem übergroßen Ohrensessel entdeckten sie Herrn S., der dort scheinbar harmlos saß, den Kopf auf der Glastischplatte liegend. Man könnte denken, er schläft. Nur die kleine zierliche offene Wunde am Rücken und das ausgetretene Blut ließen vermuten, es könnte sich doch um eine Form der Fremdeinwirkung handeln. Zunächst stellten sie jedoch fest, ober der Tote auch wirklich tot war, indem sie ihn direkt mit Namen ansprachen.
„Herr S.?“
Keine Reaktion.
„Wie geht es denn so?“, traute sich der Jüngere nun auch, nachdem der erste Schock vorbei war.
Dieselbe Reaktion wie schon zuvor. Damit war die“ Sachlage klar und die Leiche tatsächlich, behördlich überprüft, tot.
„Frau S.“, rief der ältere Krause in Richtung Küche, „wir hätten da noch eine kleine unbedeutende Frage.“
„Ach kann man denn nicht einmal in Ruhe eine Tasse Kaffee genießen.“, rief diese unwirsch zurück.
Doch nach nochmaliger Aufforderung erschien sie im Türrahmen.
„Frau S., im Rücken ihres verstorbenen Mannes befindet sich eine blutende Wunde. Ich kombiniere nun, dass sich darin eine Art Werkzeug befunden haben muss, was eventuell den Tod beschleunigt haben könnte. Haben Sie hier vielleicht etwas an der Leiche entfernt?“
„Ach so ja. Da steckte noch das Brotmesser.“, gab sie unumwunden zu.
„Sie können doch nicht einfach etwas aus der Leiche entfernen.“, schimpfte Krause senior.
„Und wie hätte ich sonst ihre Brötchen aufschneiden sollen?“
*
Nach reiflicher Diskussion entschieden die beiden Polizisten, Frau S. vorläufig festzunehmen, was bei ihr jedoch auf Unverständnis und wenig Gegenliebe stieß. Doch Pflichterfüllung ging ihnen, vor verständlicher Menschenliebe, vor.
„Kann ich noch rasch meine Sonnenbrille holen?“, bettelte förmlich.
Doch die harschen Männer in Uniform verweigerten ihr dies, mit der durchschaubaren Begründung, es bestehe sonst Verdunklungsgefahr.
Sie geleiteten Frau S., nachdem sie ihr gestatteten, den Kaffee noch auszutrinken, zu ihrem Wagen und fuhren sie zur Wache, wo eine Wohlfühlzelle auf Frau S. bereits angewärmt war und sie freudig erwartete.
Damit hatten die beiden vorbildlichen Beamten ihre Pflicht erfüllt und verabschiedeten sich in den wohlverdienten Feierabend. Erst vor Gericht sollten sie Frau S. wiedersehen.
*
So beispielhaft sich Frau S. auch als Gastgeberin präsentiert hatte, so konnte sie als Zellengast hingegen nicht überzeugen. In den Wochen, wo sie auf den Prozess wartete, der eigens für sie organisiert wurde, hielt sie mit ihrem Unmut über die Verhältnisse nicht hinter dem Berg. Nichts konnte man ihr Recht machen. Mal war das Bett zu hart, mal das Frühstück indiskutabel. Die Vollzugsbeamten des Gefängnisses verzweifelten, denn täglich nahmen die Beschwerden zu. „Giftschlange“ war noch einer der freundlichsten Umschreibungen, die man Frau S. anheftete. Einige Beamte meldeten sich sogar mit Burnout wegen ihr krank. Mit ihrer kritischen Haltung zu der Gefängnishaltung dezimierte sie die Wachmannschaft sukzessive. Bald schon mussten Beamte aus anderen Gefängnissen angefordert werden, die nervenstark genug waren, die Bewachung zu übernehmen ohne längerfristige Schäden an Leib und Leben. In einem internen Memo hatte bereits der Justizminister, der kurz vor einer Wahl stand, darauf verwiesen, dass weitere dienstlich begründete Suizide ihn in ernstliche Gefahr bringen könnte und er deshalb zum freiwilligen Verzicht aufrief. Nur in begründeten Fällen sei er bereit ein Auge zuzudrücken. Daraufhin sank die Quote um 5%, dafür stieg die Bereitschaft, sich den anonymen Alkoholikern anzuschließen. Verlässliche Zahlen wurden jedoch nicht öffentlich, mit dem Hinweis auf die Anonymität.
Ihre Eingabe auf einen freien Netflix-Zugang, sowie Straferleichterung, in Form der Möglichkeit eines wöchentlichen Einkaufsbummels, wurden allesamt abgelehnt, was die Verärgerung über die Justizbehörden, bei Frau S. deutlich sichtbar wurde. Eine Petition, indem sie eine Tapezierung der Zelle forderte, fand wenig Unterstützerunterschriften. Es hätte ihr nur eine Weitere gefehlt und es wären zwei gewesen.
Doch von diesen Rückschlägen ließ sich Frau S. nicht aufhalten und sie unternahm alles, um es sich so gemütlich wie möglich zu machen. Ohnehin sah sie ihre Verhaftung als reine Willkür an. Sie war festentschlossen, als glorreiche Siegerin das Gerichtsgebäude verlassen, auf den Schultern ihres Anwalts. Inzwischen hatte bereits der dritte Pflichtverteidiger sein Mandat zurückgegeben. Der Vierte, gerade frisch von der Universität kommend, übernahm freudestrahlend sein erstes Mandat. Bereits beim ersten Zusammentreffen mit seiner Mandantin wünschte er sich bereits wieder zurück zur Uni, um ein anders Studium zu beginnen. Schon die Farbe seiner Krawatte missfiel Frau S. und der junge Anwalt musste erst einmal nach Hause, um sich schlipsmäßig umzuziehen. Noch vor Prozessauftakt war er ein nervliches Wrack.
*
Als Jasper Jörgensen, halb Däne, viertel Schweizer und ein viertel unbekannt, erwachte und aus dem Fenster des Schlafzimmers blickte, überkam ihn schlechte Laune. Die Ereignisse der Nacht konnten es nicht sein, denn die Erinnerung daran, war in ein großes schwarzes Loch gefallen und unumkehrbar ausgelöscht. Klimatisch war heute Sommeranfang, doch das, was das Wetter da präsentierte, erinnerte ihn an einen nebligen Tag im Londoner Westend. Er betrachtete die Frau, die neben ihm lag und schlief. An ihren Mundwinkeln hatten sich beidseitig kleine Speichelbläschen gebildet, die sich aufbliesen und wieder in sich zusammenfielen. Dieses Naturphänomen längere Zeit zu beobachten, hatte etwas Beruhigendes, ja geradezu etwas Meditatives. Doch sein Grundgefühl lag weniger an Entspannung, denn die hatte er in der Nacht genug, es zeichnete sich bei ihm vielmehr der Drang ab zu flüchten. Auch nach einer Grundsatzdiskussion mit der Dame war ihm nicht gelegen und so verhielt er sich still und leise, als er sich hastig anzog. Hinter sich schloss er geräuschlos die Haustür und ab da genoss er die so gewonnene Freiheit. Bis nach Hause war es nur ein Katzensprung. Wenige Minuten blieben ihm nur, um sich eine glaubwürdige Ausrede einfallen zu lassen, was sein nächtliches Fernbleiben im heimischen Ehebett, erklären würde. Seine Frau, mit aphroditischer Schönheit gesegnet, aber mit schlichtem Geist ausgestattet, empfing ihn, aufreizend und willig, ihm zu verzeihen, wenn seine Erklärung nur halbwegs glaubwürdig sein sollte.
Noch ehe sie mit bohrenden Fragen beginnen konnte, schob er seine Zunge zu der ihren und das verschaffte ihm wenige Minuten des Grübelns, denn noch hatte er sich keine Ausrede zurechtgelegt. Als sie schließlich erschöpft und nach Atemluft schnappend, voneinander abließen, stöhnte er bewusst laut auf.
„Du hast wieder die ganze Nacht über deinen Akten gesessen! Mein armer Schatz. Komm, leg dich ins Bett und hinterher kannst du ja noch etwas schlafen.“
Froh, dass seine Frau ihm seine zurechtgelegte schwache Begründung abgenommen hatte. Ihrem drängenden Wunsch folgend, zog er sich aus und legte sich zu seiner Frau, die bereits da lag und auf Bespielung wartete. Doch es kam anders, als es zu vermuten war. Denn am nächsten Tag hatte sie die Scheidung bereits eingereicht. Jasper Jörgensen hatte es sich selbst zuzuschreiben, wegen einer kleinen Unachtsamkeit seinerseits.
*
Tage vergingen und wurden zu Wochen. Frau S. zerknüllte wütend den Brief. Ihrer Eingabe auf Gardinen wurde abschlägig beschieden. Dabei hatte sie mit eindringlichen Worten ihre Forderung begründet. Langsam fand sie die Untersuchungshaft als eine Zumutung. Kein Entgegenkommen seitens des Staats wurde ihr gewährt. Dabei wollte sie doch nur ihre karge Zelle etwas wohnlicher gestalten. Sie bot auch an, Nachmietern ein schönes Zuhause zu hinterlassen. Auch ihr Argument, dieses grau in grau, würde sich ungünstig auf ihre Psyche auswirken, verfing nicht. Langsam beschlich sie das Gefühl, die Justiz würde an ihr ein Exempel statuieren. Doch Frau S. wäre nicht Frau S. gewesen, wenn sie sich von solchen Rückschlägen entmutigen ließ. Sofort setzte sie sich hin und schrieb einen geharnischten Widerspruch. Reichlich garniert mit Drohungen, Protest und verbalen Entgleisungen. Sie sah diesen Kampf, den sie ausfochte, nicht nur für sich, sondern auch für Generationen von zukünftigen unschuldig eingesperrten rechtschaffenen Bürgern. Sie sah sich in einer Linie stehend mit Robin Hood, Schinderhannes oder Jesse James.
Die Klappe, die in der Zellentür angebracht war, wurde heruntergelassen und ein paar blau-graue Augen spähten hinein.
„Frühstück!“, schallte es ihr entgegen.
Oh, wie sie diesen unfreundlichen Ton hasste, der dreimal am Tag ihr die Mahlzeiten vermieste, als sei das Essen nicht auch ohnehin kaum zu genießen gewesen.
Höflichkeit wurde hier nicht sehr groß geschrieben. Überhaupt ließ hier de Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sehr zu wünschen übrig.
„Ah, kein Ei, so wie jeden Tag.“, bemerkte sie lakonisch.
Längst hatte sie die Hoffnung darauf aufgegeben. Von frisch gepresstem Orangensaft ganz zu schweigen. Nachts in ihren Träumen lief sie durch Orangenhaine, aus denen der goldgelbe Saft direkt in ihren offenen Mund lief. Freilaufende Hühner boten ihr kostenfrei frisch gelegte Eier an. Und ein Toaster verfolgte sie regelmäßig und spuckte ihr warme geröstete Toastscheiben vor die Füße. Begierig genoss sie die Köstlichkeiten. Doch wenn sie erwachte, hatte Frau S. erstaunlicherweise großen Kohldampf. Sie musste erkennen, im Traum genossene Speisen haben nur einen sehr geringen Sättigungsgehalt.
Und so griff sie hungrig aber nicht freudig erregt nach dem Tablett, was man ihr durch die Luke anreichte.
Kein „Guten Appetit“ wurde ihr gewünscht, was ansonsten auch reiner Hohn gewesen wäre, angesichts dessen, was da so lieblos auf dem Teller lag. Selbst die traurige Tomate hatte das Grau der Zelle angenommen. Auch sonst bot das Tablett etwas, wo bei Frau S. Begeisterung aufgekommen wäre. Doch am schlimmsten war für sie die Ödnis. Den ganzen Tag alleine. Keine Zerstreuung. Gegen den offensiven lautstarken Widerstand hatte sie begonnen zu singen. Ihre Mitgefangenen empfanden dies als eine Folter, was gemäß der Genfer Konventionen ein Tabu darstellt. Daher wurde Frau S. das Absingen von Schlagern verboten. Worauf sie demonstrativ in einen zeitlich nicht begrenzten spontanen Schweigestreik trat, was allgemein begrüßt wurde. Dafür erhielt sie sogar eine Dankesurkunde der Gefängnisleitung.
Aber auch die schönste Zeit geht einmal vorüber und es stand ein Ausflug an. Unter starken Sicherheitsvorkehrungen, denn längst war sie eine Zeitbombe auf zwei Beinen, wurde Frau S. ins Gericht gebracht, wo ihr Prozess beginnen sollte.
*
Frau S. ließ ihren Blick schweifen. Entsetzt stellte fest, der Gerichtssaal war ähnlich karg wie ihre Zelle. Kein Blumengebilde auf dem Richtertisch. Wanddekoration Mangelware. Gemütliche Polstersessel fehlten ebenso, wie eine aufmunternde lebensbejahende Tapete. Dominierende Farben waren blassweiß und schlammbraun. Wahrlich kein Raum zum Wohlfühlen. Nun saß Frau S. da, neben ihr ein sehr aufgeregter Pflichtverteidiger, in seinem farblich den Gegebenheiten angepassten braunen Cordanzug. Darüber ein Talar in deprimierenden Schwarz.
„Der Richter ist zu spät.“, flüsterte sie ihrem Anwalt zu.
Der kramte in den Akten und nuschelte nur etwas Unverständliches.
„Nachher müssen Sie aber deutlicher sprechen.“, kritisierte sie weiter.
„Ich gebe mein Bestes.“
„Na wenn das mal reicht.“, meinte Frau S. skeptisch.
Der junge Anwalt, sah nur kurz, mit hochrotem Kopf, von seinen Akten auf und vergrub sich sogleich wieder darin.
„Haben Sie überhaupt schon einmal einen Fall gewonnen?“
„Sie sind mein erster Fall.“, beruhigte er sie.
„Na Halleluja!“, stieß sie laut aus, dass der ganze Saal lachte.
Der war brechend voll. Die ganze Nachbarschaft war vollzählig angetreten, um ihr beizustehen oder ihrer Verurteilung beizuwohnen, je nach dem wie man zu ihr stand. Der Hausmeister hatte eine Wettbörse eingerichtet und sammelte fleißig Gelder ein. Bei Verurteilung lag die Quote 10:1. Nur wer auf Freispruch setzte, konnte seinen Einsatz verdreifachen. Ein Gerichtsdiener erschien mit ernsthafter, ja fast feierlicher Miene und kündigte das Eintreffen des Gerichts an. Jasper Jörgensen erschien, gefolgt von zwei Laienrichtern und eröffnete die Sitzung.
„Er hat ja gar kein Hämmerchen.“
„Was?“, flüsterte der Junganwalt ihr zu.
„Im Fernsehen haben Richter doch einen Hammer, um sich Respekt zu verschaffen.“
„Psst. Sonst wird der Richter ungehalten.“, versuchte der Anwalt, seine Mandantin zum Schweigen zu bewegen.
Sein Anliegen stieß jedoch bei ihr auf taube Ohren.
„Der liest doch noch. Wahrscheinlich die Fußballergebnisse vom Wochenende.“, maulte Frau S., „und schlecht gelaunt wirkt er zudem. Keine guten Vorzeichen.“
Mit Letzterem hatte Frau S. durchaus recht. Richter Jörgensen hatte wirklich nicht seinen besten Tag. Er las auch nicht die Fußballergebnisse, sondern den Antrag auf Scheidung, den er zuvor von dem Anwalt seiner Frau eigenhändig zugestellt bekam. Anwalt Mcanally konnte so Portokosten sparen, was seiner schottischen Seele entsprach.
Frau Elsen, eine direkte Nachbarin von Frau S., drückte ihr diskret eine kleine Papiertüte zu, indem ein mit Erdbeermarmelade gefüllter Berliner sich befand. Im Hintergrund winkte ihr Bäckermeister Brodbeck zu, der sich nicht getraut hatte, ihr es persönlich zu überreichen. Der Gerichtsdiener, dem nichts entging, kam auf den Berliner zu und konfiszierte ihn.
„Das Essen im Gerichtssaal ist nicht gestattet.“
Er packte den Berliner zurück in die Papiertüte und diese wiederum in seine Uniformtasche. Der vorübergehend eingezogene Berliner fand auch nach der Urteilsverkündung den Weg nicht mehr zurück. Über sein weiteres Schicksal ist nichts bekannt, jedoch steht der Gerichtsdiener in dringendem Tatverdacht, ihn sich einverleibt zu haben. Restlos konnte die Sache nicht aufgeklärt werden, wohl auch, weil Frau S. keine Strafanzeige gegen unbekannt stellte.
„Wir verhandeln heute die Strafsache S.! Erschienen ist die Angeklagte Frau S., die derzeit sich in Untersuchungshaft befindet. Es stehen die Vorwürfe der bewussten Ruhestörung, Vorspiegelung einer Notlage durch unstatthaftes Hilfe-Rufen, sowie der Verdacht auf Tötung ohne verlangen, begangen an ihrem angetrauten Ehemann. Bekennt sich die Angeklagte in allen Punkten schuldig? Das würde das Verfahren beschleunigen.“
„Euer Ehren, meine Mandantin beteuert ihre Unschuld. Ferner sieht sie sich als Opfer der Justiz und beantragt Schmerzensgeld für das unbegründete Einsitzen in einer unkomfortablen Zelle.“, las der junge Anwalt nervös von einem Zettel ab.
„Herr Staatsanwalt, was ist ihre Forderung?“
Ein großer hagerer Mann, kahlköpfig und einem langen Vollbart, erhob sich.
„Die Staatsanwaltschaft fordert ein gerechtes Urteil und überlässt dem Gericht, eine marktübliche Strafe zu verhängen. Wir gehen von vorsätzlicher Irreführung der Nachbarschaft und Tötung eines Schutzbefohlenen als erwiesen an.“
„Dann ziehen wir uns nun zur Beratung zurück.“, verkündete Richter Jörgensen, sehr zur Überraschung aller Anwesenden.
So ganz schien er nicht ei der Sache zu sein, was angesichts der dramatischen Ereignisse in seinem privaten Umfeld nicht weiter verwunderlich waren. Doch davon hatte niemand außer ihm Kenntnis und wenn es nach Richter Jörgensen ging, sollte es auch dabei bleiben. Für die Entscheidung seiner Frau, sich von ihm zu trennen, konnte er niemand anderen, als sich selbst die Schuld zu geben. Dessen war er sich bewusst und dementsprechend verärgeret über seine kleine Unachtsamkeit, die zu dem Eklat im Ehebett führte. Gerade als er sich an den ehelichen Pflichten abarbeiten sollte, um dann ein stressfreies Wochenende genießen zu können, bemerkte seine aufmerksame Frau ein Detail an ihrem ansonsten nackten Mann, was zu der Eskalation führte, an deren Ende ein schmutziger Scheidungskrieg seinen Anfang nahm.
Nach der Unterbrechung des Prozesses hatte er sich in sein Richterzimmer zurückgezogen, wo er auf die Scheidungspapiere starrte.
„Scheiß Safer Sex!“, fluchte er vor sich hin.
Dieses kleine durchsichtige Detail wurde ihm zum Verhängnis. Denn als er von der einen zur anderen Frau wechselte, vergaß er dieses Utensil zu entfernen. Seiner Frau konnte er schließlich auch keine schlüssige Erklärung dafür geben, da sie, einem dringenden Kinderwunsch nachgehend, auf die Verwendung der Plastiktülle, ihn anhielt, zu verzichten. Damit kam die, für ihn unbedeutende kleine Zwischenmahlzeit, heraus, die seine Frau allerdings als sehr bedeutend empfand.
Noch mitten in seinen Gedanken verhaftet, klopfte es an der Tür. Sie wurde daraufhin, ohne auf eine entsprechende Aufforderung zu warten, geöffnet und der marmeladen- und puderzuckerverzierte Kopf des Gerichtsdieners wurde sichtbar.
„Euer Ehren. Sowohl Staatsanwaltschaft, als auch die Verteidigung lassen anfragen, wann der Prozess fortgesetzt wird. Auch die Presse lässt nachfragen, da ihnen der Redaktionsschluss im Nacken sitzt. Und die Angeklagte bemängelt die fehlende Verpflegung.
Richter Jörgensen sah zu ihm auf und seine rot unterlaufenen und angefeuchteten Augen, gaben Zeugnis für seine Verfassung ab.
„Ich komme gleich.“, schluchzte er leise.
Der Gerichtsdiener schloss leise wieder die Tür und verkündete im Gerichtssaal die baldige Ankunft des Richters, samt der beiden Schöffen, die im Flur warteten, da ihnen als Laien kein eigenes Büro zustand.
Unter dem krisengeschüttelten Eindruck seiner zerrüttenden Ehe erschien Richter Jörgensen wieder im Gerichtssaal, wo ihm zu Ehren das Volk sich erhoben hatte.
„Bitte nehmen Sie Platz. Ich eröffne die Sitzung wieder.“
Der junge Anwalt konnte seine Klientin gerade noch daran hindern, sich mit dem Einsetzen eines freundlichen Begrüßungsapplauses, beliebt zu machen.
„Ich wollte nur für gute Stimmung sorgen, damit der Richter mir gewogen ist.“, raunzte sie ihren Anwalt an.
„Das wird nicht gerngesehen und als einen böswilligen Akt der Verhöhnung des Gerichts angesehen.“, erklärte er ihr die Sitten und Gebräuche bei Gericht.
„Schon gut. Beim nächsten Mal weiß ich es dann.“, beruhigte sie ihn.
„Fahren wir also fort.“, meldete sich Richter Jörgensen, mit dem Versuch, das Privatgespräch der beiden zu unterbinden.
„Fort fahren? Wohin?“, erkundigte sich Frau S., die auf einen kleinen Ausflug hoffte.
„Fortfahren in ihrer Angelegenheit Angeklagte.“
„Sagen Sie ruhig Frau S. bitte. Angeklagte klingt so unpersönlich.“, bot die Angeklagte Frau S. ihm an.
Er indes ignorierte ihren Zwischenruf, da er sonst ein Ordnungsgeld verhängen müsste, was einen ganzen Berg administrativer Büroarbeit für ihn, nach sich ziehen würde. Dem konnte er nur mit Ignoranz entgehen. So trickste er sich selber aus. Getreu dem Motto: Wo kein Kläger da kein Richter!
„Herr Staatsanwalt, möchten Sie nun die Angeklagte verhören?“
„Sehr gerne euer Ehren. Ich rufe die Angeklagte in den Zeugenstand.“
Jetzt kam die große Stunde des Gerichtsdieners, der noch Zeit gefunden hatte, sich unliebsame Spuren aus dem Gesicht zu waschen.
„Angeklagte, legen sie die linke Hand hier auf die Bibel. Erheben sie die Rechte und sprechen sie mir nach. Ich schwöre die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit, so wahr mir Gott helfe.“
„Einspruch!“, rief Frau S., sich dem Eid verweigernd.
„Angeklagte, einen Einspruch kann nur ihr Anwalt einlegen.“
„Der rührt ja keinen Finger. Da muss ich halt selbst aktiv werden.“, wehrte sich die so Gescholtene.
„Was? Was ist los?“, rief ein irritierter und sichtlich überforderter Verteidiger.
„Herr Anwalt, sind sie überhaupt fähig und gewillt dem Prozessverlauf zu folgen?“, mahnte Richter Jörgensen ihn an.
„Jetzt ist der Richter auf sie böse und ich darf es hinterher ausbaden.“, beschimpfte nun auch noch Frau S. ihren Verteidiger.
Der sah nun ganz unglücklich aus, so unfreiwillig zwischen die Fronten geraten zu sein.
„Einspruch!“, rief er nun auch, Ausdruck seiner ganzen Hilflosigkeit.
„Einspruch wogegen, Herr Anwalt?“
„Dagegen das meine Mandantin nicht Einspruch erheben darf.“
„Einspruch!“, warf nun auch der Staatsanwalt ein.
„Auch du, mein Sohn Brutus?“, stöhnte der Richter, der sich von Einsprüchen umzingelt sah.
„Der anwaltliche Einspruch gegen den Einspruch seiner eigenen Mandantin ist ebenso unzulässig, wie der eigenmächtige Einspruch der Angeklagten, die derzeit in der Funktion einer Zeugin ist. Dies musste ich mit einem eigenen Einspruch verdeutlichen, da es gegen die Verfahrensordnung ist.“
„Richter Jörgensen beriet sich kurzerhand mit seinen beiden Schöffen und entschied, keinen der ganzen Einsprüche zu gestatten.
„Sie sprechen jetzt die Eidesformel und halten den Betrieb nicht länger auf.“, entschied er weise, wie dereinst König Salomon.
„Ich bin eine Geborene, eine sozialisierte, bekennende, eine praktizierende und über alle Maße überzeugte Atheistin. Deshalb kann ich den Eid so nicht ablegen. Ja ich lehne ihn vollumfänglich ab.“, pochte Frau S. eindrücklich auf ihr Recht freie Religionswahl. Angesichts der verfahrenen Verfahrenssituation, sah Richter Jörgensen die Zeit gekommen, eine Verschiebung des Prozesses auf den nächsten Tag zu verkünden. Massiven Widerspruch erntete er von der versammelten Presse, die ihre journalistische Arbeit gefährdet sahen. Alle Parteien unterstützten den Einspruch der Presse, selbst der Gerichtsdiener schloss sich dem, mit einem eigenen Einspruch, an.
„Noch ein Einspruch und ich lasse den Saal räumen!“, rief ein sichtlich aufgebachter Richter und schloss die Sitzung, undemokratisch und mit geradezu diktatorischer Entschlossenheit. Es war zwar nur eine Einzelmeinung, aber die hatte Gewicht. Richter Jörgensen unterstrich seine Entscheidung zusätzlich, indem er einfach wortlos den Gerichtssaal verließ.
*
Frau S. kehrte zurück in ihre wohnlich indiskutable Zelle und Richter Jörgensen in ein kleines Hotel am Bahnhof. Dort in ein Zimmer, was einer Grundrenovierung nicht schlecht gestanden hätte. Zutritt zu seinem Haus mit Garten und Pool, wurde ihm von seiner Nochehefrau verweigert.
„Leiden soll der Hund, Leiden!“, hatte sie ihrem Anwalt aufgetragen, der dem Wunsche nur allzu gerne nachkam, weil er vor Jahren einen Prozess verlor, wo Richter Jörgensen den Vorsitz hatte. Diese Demütigung hatte er nie vergessen und jetzt konnte er es ihm endlich heimzahlen. Liebe unter Advokaten ist nur ein böses Gerücht und entbehrt jeglicher Grundlage. Auch dort gilt das recht des Stärkeren. Auch die Presse schlachtete das Scheidungsdrama genüsslich aus, dank anonymen Durchstechereien, die der Anwalt von Frau Jörgensen genüsslich verbreitete. Der Ruf des ach so strengen und moralisch die Fahne hochhaltenden Richters, sollte nicht nur geschwächt, nein irreparabel zerstört werden. Uneheliche Verwerfungen waren für den Anwalt nicht zu entschuldigen. Seinem Beinamen „Moralapostel geschädigter und gehörnter Ehefrauen“, hatte er ja nicht umsonst inne.
Von dem persönlichen Drama um ihren Richter bekam Frau S. nichts mit, sonst wäre sie wohl pfleglicher mit ihm umgegangen und hätte ihn nicht zur Weißglut getrieben. Aber da ihr darüber keine Informationen bekannt waren, entwarf sie ihre Verteidigungsstrategie, da ihr der Glaube an ihren Pflichtverteidiger längst abhandengekommen war.
Einer drohenden Verurteilung, wie ihr Jungspundanwalt düster prognostizierte, wollte sie mit Entschiedenheit und wahrheitsgemäß schildern, wie es zu dem Tod ihres Mannes kam. Notfalls, so hatte sie es sich fest vorgenommen, würde sie sich die Wahrheit, die ohnehin ihrer Meinung subjektiv war, sich zurechtbiegen, bis ihrem Freispruch in allen Punkten, schließlich zugestimmt werden würde. Jedenfalls lagen darin ihre Bestrebungen, erfolgreich die Straße zur Freiheit zu betreten.
Doch der nächste Tag sollte nicht so verlaufen, wie ihn sich Frau S. herbeisehnte. Ihr unfreiwilliger Freiheitsentzug wurde verlängert, da sich Richter Jörgensen krank meldete. Ein Schuldiger war schnell ausgemacht. Dabei handelte es sich um das Hotelbett, was an Komfort so alles vermissen ließ, was man von einem Bett erwarten konnte. Richter Jörgensen, der außer Dienst nur ein einfacher Herr Jörgensen war, beschwerte sich lautstark beim Nachtportier. Dies hatte jedoch keinerlei Konsequenz auf seinen Liegekomfort, da der Portier glaubhaft versicherte, alle Betten hätten den gleichen Standard. Auch preislich könnte er ihm nicht entgegenkommen. Lediglich, um die heftige Kritik etwas zu mildern, wurde ihm einzweites Handtuch kostenlos zur Verfügung gestellt, was zufälligerweise ein anderer Gast kaum in Gebrauch hatte. Jener hatte das Zimmer nur für eine Stunde gebucht, als er im Schlepptau einer „Dame in Anführungszeichen“ erschien, die er als seine Ehefrau ausgab, obgleich sie ihn seltsamerweise siezte.
Das Einzige, was Herr Jörgensen noch erreichte, war die Androhung einer Klage wegen Beleidigung.
Drei geschlagene Wochen währte die Krankschreibung Jörgensen. Diese Zeit verbrachte er in einem Stützkorsett, was ihm die Möglichkeit nahm, sich mit der damals so rasch verlassenen Frau sich zu treffen, um dort wieder zu beginnen, wo es endete, jetzt unter dem Vorzeichen, nicht mehr Rücksicht auf seine zukünftige Exfrau nehmen zu müssen. Jetzt, wo er kein schlechtes Gewissen mehr haben brauchte, war sein Rücken unrauchbar, für jede Art sportlicher Betätigung. Dies Trieb in zusätzlich in eine Depression, was seiner Stimmung nicht zuträglich war.
Unterdessen starrte Frau S. tagelang aus dem kleinen vergitterten Zellenfenster und beobachtete den unbemerkten Fluchtversuch einer Weinbergschnecke, die unbekümmert und ausdauernd langsam, sehr langsam, die Steinmauer heraufkroch, wo die Freiheit bereits auf sie wartete. Dieser Ausbruchsversuch war auch die einzige Abwechslung, die Frau S. hatte. Stundenlang konnte sie den Bemühungen der Schnecke zusehen. Nur sehr langsam schleimte sich die Schnecke nach oben. Es war eine Metapher für die vielen kleinen Angestellten, die in ihrer Firma nach oben kommen wollten und ebenfalls eine große Schleimspur hinterließen, die für solch einen steinigen Weg unerlässlich scheinen.
Erst am dritten Tag der Mauerbesteigung entdeckte Frau S. das wirkliche Drama dieser Aktion. Und nicht nur sie, nein auch die Schnecke erschreckte, als sie sich einmal, wohl eher zufällig, umdrehte und bemerkte, dass dort ihr Junges saß. Oder wie man eben das Kind einer Schnecke nennt. Es kann auch Fohlen heißen, Welpe oder Kitz. So genau war Frau S. in Botanik nicht bewandert, um es näher zu spezifizieren. Obgleich die Schnecke fast schon die Kante der Mauer nach Tagen erreicht hatte, schlug ihr Mutterherz doch stärker als ihr Freiheitswille. Und so machte sie sich auf den beschwerlichen Weg nach unten, um dem ungezogenen Balg den Marsch zu blasen, was sich bockig geweigert hatte, mit seiner Mutter Schritt zu halten. Vier Tage und vier Nächte benötigte sie für das Absteigen. Am fünften Tag konnte sie endlich ihr Donnerwetter loswerden, was vier Tage in ihr grummelte.
„Das arme Kind.“, empörte sich Frau S. bei sich selbst, in Ermangelung eines Zuhörers.
Sie sah die alleinige Schuld bei der Mutter, die ihrer Meinung nach, ihrer Sorgfaltspflicht nicht genügend nachgekommen war. Nachdem das Kind ordentlich zurechtgewiesen wurde, begann der neuerliche Aufstieg. Diesmal jedoch im Familienverband. Die Mutter, aus der Erfahrung gelernt, ließ ihr Kind vor und schleimte sich hinter ihr hoch. Ob es ich bei dem Kind um einen Jungen, ein Mädchen oder etwas diverses handelte, konnte Frau S. aus der Entfernung nicht klar erkennen. Auch die Anwesenheit eines Vaters kritisierte sie heftig. Ob er regulär entlassen wurde oder nicht kriminell veranlagt war, wäre reine Spekulation gewesen, an dere sich Frau S. nicht beteiligen wollte. Schließlich kam sie zu dem Schluss, es könnte sich auch um eine alleinerziehende Mutter handeln, die hochschwanger ihre Strafe absitzen musste und währenddessen niederkam. Dies würde auch ihren Fluchtreflex erklären. Denn welche Mutter würde es ihrem Kind zumuten, aufgrund ihres eigenen Vergehens, das Kind in Sippenhaft zu nehmen. Denn zweifelsohne war das noch Minderjährige nicht strafmündig und somit wäre sein Platz nicht hinter Gittern.
Längst hätte da die Jugendfürsorge einschreiten müssen, wie Frau S. konstatierte.
„In welchem Staat leben wir denn?!“, echauffierte sie sich.
Selbst zwar keine Mutter, aber ihr Herz schlug für die kleine Schnecke. Und so entschied sie, die kleine Schnecke lautstark anzufeuern, um ihr Selbstvertrauen zu stärken.
Doch weiteres Ungemach drohte, wie Frau S. an Tag Neun feststellen musste. Auf der Mauer patrouillierte ein Specht, dem der Aufstieg der beiden Alpinisten nicht entgangen war.
„Der führt nichts Gutes im Schilde.“, so ihre fachfrauliche Prognose.
Und ihre Befürchtungen verstärkten sich, als sich zu dem Specht ein zweiter einfand, der sich, vor den Augen der empörten Öffentlichkeit, ungefragt einfach auf den andren Specht setzte. Entweder wollte er es sich einfach nur gemütlich machen, oder aber er hatte unsittliche Gedanken und versuchte, diese direkt in die Tat umzusetzen.
Mit einem pornografischen Programm hatte Frau S. nun wirklich nicht gerechnet und zu recht fragte sie sich, wo bin ich hier nur gelandet. Von einem deutschen Gefängnis hatte sie so etwas nicht für möglich gehalten.
Tag Vierzehn brachte die Entscheidung. Frau S. hatte den Zimmerservice extra beauftragt, sie möglichst früh zu wecken, denn sie wollte Zeugin der Entwicklungen sein, die sie hautnah miterleben und mitleiden wollte. Wenn sie schon nicht persönlich in die Geschehnisse eingreifen konnte, so wollte sie doch später Zeugnis davon ablegen und die Weltöffentlichkeit darüber informieren und wachrütteln.
Ihre schlimmsten Befürchtungen, hinsichtlich der Spechtchen Intention, der beiden Schnecken habhaft zu werden, wurden aufs Grausamste bestätigt.
Ein brutaler, völkerrechtswidriger Angriff, der nur scharf zu verurteilen war, vollzog sich vor den Augen der einzigen Zeugin. Zwar konnten sich die beiden Schnecken sich in ihre Häuser zurückziehen, doch bot dies nur vorübergehend Schutz. Die beiden Spechte, ein jeder erprobter Meister im Häuserkampf, hämmerten unbarmherzig mit ihren Schnäbeln auf die Schneckenwohnungen ein. Die Bewohner leisteten erbitternden Widerstand, doch schon waren erste Risse im Dach erkennbar.
„Flieht! Flieht!“, rief Frau S. verzweifelt.
Doch ihr Wunsch blieb ungehört.
Immer und immer wieder schlugen die Schnäbel wie Granaten ein und zermürbten das Dach, als auch die Moral ihrer Bewohner.
Hilflos musste Frau S. mit ansehen, wie der ungleiche Kampf hoffnungslos zu verloren drohte. Niemand, der herbeieilte und die Schnecken unterstützte, durch eine militärische Intervention fremder Mächte.
Frau S. rüttelte am Fenstergitter, doch von dem Überschreiten ihrer Kompetenz blieben die Eisenstangen ungerührt. Trotzig trotzten sie dem Übergriff. Stur und standhaft bogen sie sich nicht, nicht einmal vor lachen.
Frau S., schon vor ihrer regulären Verurteilung, verurteilt zur Untätigkeit. Längst waren die Häuser aufgebrochen und die Schnecken schutzlos den Invasoren ausgeliefert.
„In den Keller! Lauft in den Keller.“, schrie sie in höchster Erregung.
Doch die beiden vormals noch kopulierenden Spechte, meisterliche Einbrecher, hackten ungeachtet der Hilfe-Rufe von Frau S., die Hausdächer weiter auf. Ihr Ziel, die Zivilbevölkerung aus den Häusern zu vertreiben und sich einzuverleiben. Dies würde der unausweichliche Tod der verschleimten Tiere bedeuten. Mütter und Kinder waren schon immer die ersten Opfer in kriegerischen Auseinandersetzungen.
Frau S, konnte gar nicht hinsehen, jedoch auch nicht wegsehen. Sie war eine Gefangene ihrer eigenen Gefühlswelt. Hier die überzeugte Pazifistin, dort eine Zeitzeugin, die es als ihre Aufgabe ansah, der Welt von der schneckenverachtenden Freveltat zu berichten.
Waren ihr auch früher Schnecken eher lästig, wenn diese im Salatbeet ihr Unwesen trieben, so empfand sie nun tiefstes Mitgefühl mit diesen kleinen Rackern, die sich so mutig dem Gegner zu widersetzen versuchen. In vergangener Zeit als Schädlinge verachtet, jetzt geläutert, hochgeachtet. Und dann geschah plötzlich etwas völlig Unerwartetes. Frau S., die Brutalität vor Augen, wagte etwas, was ihr bislang fremd, ja mehr als suspekt, geradezu unvorstellbar war. Die, die Ungläubige, die Gottesleugnerin, vehemente Verfechterin des Atheismus und Teilnehmerin des Kreuzzugs gegen sämtliche Religionen der Erde, hörte plötzlich eine unsichtbare Stimme zu ihr sprechen.
Doch es war nicht nur eine heisere Stimme, die zu ihr sprach. Sie wurde unterstützt von einigen Spezial Effects. Zu deutsch auch als Spezialeffekte bezeichnet. Sphärenklänge eines begabten harfenspielenden Wesens, drangen an und in ihr Ohr. Ein gleißendes Licht, welches sich durch die Gitter der Zelle durchzwängte, komplettierte die übernatürliche Erscheinung, die eigens sich bildete, um Frau S. zu läutern.
Ihr Schuldbewusstsein lastete so schwer auf ihren Schultern, dass sie von dem Gewicht heruntergedrückt wurde und in die Knie zwang. Plötzlich wurde aus der Zelle eine Kapelle und Frau S. zur reuigen Sünderin. Beunruhigt sah sie sich um, doch eine Gestalt, die zu der Stimme gehörte, konnte sie nicht sehen. Dann, nach langem nachdenken, kam sie hinter das Geheimnis der Stimme, die zu ihr sprach. Es war ihre eigene, ihre innere Stimme. Diese war offenbar belegt und daher nicht gleich erkennbar gewesen. Nun, da sie wusste, woher die Stimme kam, war Frau S. beruhigt und lauschte gespannt dessen, was die innere Stimme zu bemäkeln hatte. Das ist eben das Problem mit den inneren Stimmen. Meistens verkündigen sie unangenehme Wahrheiten, die man gerade erst so schön verdrängte. Dann holen sie einen auf den Boden der Tatsachen zurück. Nun war jedoch Frau S. innere Stimme nicht nur von Heiserkeit geplagt, nein sie sprach auch noch ausgesprochen leise und mitunter undeutlich, was es Frau S. schwer machte, dem Monolog von ihr zu folgen. Ständig musste sie „Wie bitte?“, „Was?“, oder ein nachdrückliches „Hä?“, einwerfen. Doch Zwischenfragen ließ die innere Stimme nicht zu und spulte rücksichtslos ihren inneren Monolog ab. Doch Frau S. wusste sich zu helfen. Bei den stellen, wo sie nichts verstand, fügte sie einfach etwas ein, was ihrer Meinung nach, dort gut hinpasste.
Damit verwässerte sie natürlich die Mahnungen, Warnungen und Lebensweisheiten, die ihr die innere Stimme mit auf den Weg gab, doch damit musste Frau S. nun eben leben. Immer dann, wenn sie gerade einmal wieder was nicht verstand, sah sie aus dem vergitterten Fenster und verfolgte besorgt die weiteren Entwicklungen des ungleichen Kampfes, Spechte versus Weinbergschnecken. Noch hatten sie nicht kapituliert, doch die Lage an der Front sah verheerend aus. Ein entbrannter Häuserkampf war entbrannt und ess sah ganz so aus, als würden die Schnecken demnächst auf dem Feld der Ehre zu Tode kommen.
„Ich werde ihnen ein Denkmal errichten!“, ließ Frau S. ihre innere Stimme wissen.
Diese brach in schallendes Gelächter aus, was angesichts ihrer Vorbildfunktion mehr als unhöflich war.
Frau S. kritisierte diese menschenverachtende Haltung, stieß damit jedoch auf granitmäßigen Widerstand. Dies schien die Stimme jedoch nicht anzuerkennen und so blieb Frau S. nichts anderes, als den einzig wahren Weg zu wählen, der Stimme Einhalt zu gebieten. Sie steckte ihre Finger in die Ohren und sang ein Friedenslied. So konnte sie die Stimme austricksen, die daraufhin beleidigt verstummte.
Was nun die Stimme im einzelnen von sich gab, bleibt das Geheimnis von Frau S. Nur wenn diese sich dereinst dazu entscheiden sollte ihre Memoiren zu veröffentlichen, wird es die Welt vielleicht erfahren.
Frau S. genoss sichtlich die einsetzende Stille. Nur noch der Schlachtenlärm war zu vernehmen und das klägliche herzergreifende verzweifelte Weinen der Schnecken, die sich wohl schon vor ihrem Schöpfer wähnten. Frau S. sah längst die Hoffnung auf ein Wunder schwinden. Nur ein einziger Strohhalm war ihr noch geblieben, an den sie sich festklammerte. Der Glaube blieb ihr, die eine alte Bauernweisheit aufwies: „Unverhofft kommt oft“. Darauf setzte sie nun verstärkt, denn mehr blieb ihr ja nicht.
Doch gerade als die Spechte das Haus der Schnecken gänzlich geöffnet hatten und die beiden Bewohner sich ihrem Schicksal ergaben, tat sich wunderbares. Der gefängnisansässige Kater erschien auf der Bildfläche. Geduckt schlich er lautlos auf der Mauer, Zielrichtung der Spechte, in Ermangelung von Mäusen.
„Dann eben ihr!“, motivierte er sich selbst.
Die Spechte schnalzten schon mit den Zungen, angesichts des nahenden Breakfast und bekamen nichts von der Bedrohung mit, die nun ihnen galt. Der Kater setzte, in blindem Aktionismus, zum finalen Sprung an, just in dem Augenblick, als auch die Spechte sich zum Schneckenmahl anschickten. Doch des Katers Sprung ging ins Leere und er stürzte von der Mauer, wo er, dank eines seiner sieben Leben, unbeschadet auf dem Boden der Tatsachen landete. Die beiden Spechte flogen, zu Tode erschrocken, auf und davon.
Im letzten Moment waren die Schnecken gerettet. Frau S. war überglücklich und spendete den beiden Überlebenden reichlich Applaus und wünschte ihnen alles Gute auf ihrem zukünftigen Lebensweg. Doch bereits am Nachmittag, wo die Sonne unerbittlich zuschlug, musste sie erkennen, wie ungerecht, brutal und unerbittlich die Natur ist.
Die Schnecken vertrockneten bei lebendigem Leib vor ihren entsetzten Augen. Tiefe Trauer umgab sie für den Rest des Tages, was in der Verweigerung des Abendbrots mündete. Zu sehr war ihr das Gesehene auf den Magen geschlagen. Doch in der Nacht, die alles Vergessen macht, verdrängte sie erfolgreich die Dramatik des Tages. Und als sie erwachte, frisch und frohgemut, erinnerte sie sich an einen alten Ausspruch ihres Physiklehrers, nach misslungnem Versuchsaufbau, der unliebsame Gerüche freigesetzt hat. Der da lautete: neuer Tag, neues Glück.
Im Falle von Frau S. begann der Tag mit ihrer Abholung. Richter Jörgensen war genesen und er Prozess wurde fortgesetzt.
*
Die Menschen strömten in den Gerichtssaal und kämpften um die besten Plätze. Keiner wollte etwas verpassen. Frau S. versus Richter Jörgensen, war das Gesprächsthema Nr. 1 in der Stadt. Fernsehkameras waren bereits aufgebaut und Reporter berichteten live vor Ort von den Geschehnissen. Bäckermeister Brodbeck wurde herumgereicht wie ein Terapack billigen Lambrusco unter Pennbrüdern. Er galt als Kronzeuge der Anklage und gab ein Interview nach dem anderen, wobei er schamlos Werbung für seine Backwaren machte, was ihm eine Rüge des Fernsehrats einbrachte. Er hatte bereits Pläne für eine Filialkette in der Schublade, nur leider den Schlüssel verlegt, so dass er an die geheimen Papiere nicht herankam. Aber er war festentschlossen, McDonalds das Fürchten zu lehren, da er hausgemachte Brötchen mit Hackfleischpallets anbieten wollte. Mit einem ortsansässigen Metzger war er bereits in inoffiziellen Verhandlungen. Ein agrarökonomischer Landwirtschaftbetrieb sollte Kartoffeln liefern, die von Gefängnisinsassen, zu Dumpingpreisen, in filigrane mundgerechte Stifte geschnitzt werden sollten. Seine Frau, die nicht untätig sein wollte, experimentierte in der heimischen Küche, auf der Suche nach dem perfekten zuckerintensiven Softdrink, da sie das Coca Cola Rezept auf Anfrage beim Unternehmen, nicht ausleihen konnte. Ihr Mann, der an der Spitze des zukünftigen Konzerns stand, machte sie zur stillen Teilhaberin, was angesichts ihres schrillen Organs, nur folgerichtig war.
Von alldem bekam Frau S. nichts mit. Sie war in einer heftigen Kontroverse mit ihrem Pflichtverteidiger gefangen. Er hatte eine Strategie, die nicht die Strategie von Frau S. war. Er wollte mildernde Umstände gelten machen, sie forderte für sich Freispruch in allen Punkten, ein horrendes Schmerzensgeld und Gegenklage wegen Freiheitsberaubung.
Er drohte mit Niederlegung seines Mandats, sie mit seiner Kündigung. Er nahm dankbar an, sie ebenso und war nun endlich Frau ihrer eigenen Entscheidung.
„Den Kittel!“, forderte sie forsch, während ihr zukünftiger Ex-Pflichtverteidiger sie entgeistert anstarrte.
„Was?“
„Der Kittel. Geben Sie mir das Ding. Ich brauche ihn doch zu meiner Verteidigung. Sonst bin ich doch keine richtige Anwältin.“, erklärte Frau S. und begann bereits, weil es ihr zu lange dauerte, ihm den Talar auszuziehen.
Da verstand auch er ihr Anliegen und ließ sie, ohnehin schon geschlagen, gewähren ohne Widerstand.
„Ein Talar anzuhaben macht aus Ihnen noch lange keine Anwältin.“, so seine letzten Worte.
„Dafür sind Sie ja ein leuchtendes Beispiel.“, konterte Frau S. und nahm an seiner Stelle Platz.
Er hingegen zog nicht nur den Talar aus, nein er zog sich auch gedemütigt zurück und für ihn noch weitaus bedeutender, er zog sich vom Anwaltsberuf zurück und sich dann ins Privatleben zurück, wo er seinen Vorruhestand genoss.
„Ich bin soweit. Der Richter soll jetzt kommen.“, forderte die strenge Neuanwältin den Gerichtsdiener auf.
Der war so überrascht und perplex, dass er losging, um den Richter die Kommensaufforderung zu überbringen.
„Sie hat eine neue Anwältin?“, erkundigte sich Richter Jörgensen, der über diesen Personalwechsel nicht informiert war.
„Ja, da werden sie aber Bausteine klotzen.“, entgegnete der Gerichtsdiener, ein ehemaliger Baumarktverkäufer, den es nach Höherem gestrebt hat.
Noch etwas ungelenk, durch das ärztlich verordnete Stützkorsett, zog er sich seine Robe an und schritt würdevoll in dem Gerichtssaal ein. Mit sichtlichem Erstaunen sah Richter Jörgensen zur Angeklagten hin, die festentschlossen schien, sich selbst zu verteidigen.
„Neun Uhr. Um neun Uhr war die Verhandlung angesetzt. Sie sind zu spät Hochwürden.“, reklamierte Frau Anwältin S. und deutete demonstrativ auf ihre Uhr, die bereits zwei Minuten nach Neun aufwies.
„Wo ist ihr Anwalt?“
„Gefeuert.“
„Warum?“
„Wegen Unfähigkeit.“
„Aha.“
Nach diesem kleinen privaten Plausch eröffnete der Richter die Sitzung und ihm schwante bereits, es würde nicht einfach werden. Und natürlich, er sollte Recht behalten.
„Angeklagte, treten sie in den Zeugenstand, damit die aufgeschobene Vereidigung nun erfolgen kann.“
„Einspruch!“
„Angeklagte, zum wiederholten Male, sie können keinen Einspruch erheben.
„Ich spreche als Verteidigerin. So wie mein Talar deutlich zeigt.“
„Robe! Das nennt sich Robe.“
„Es ist ein simpler schwarzer Kittel. Und nicht einmal besonders vorteilhaft geschnitten. Darin geht meine Taille doch vollkommen unter.“
„Frau Anwältin, ihre Taille ist nur sekundär Bestandteil dieser Verhandlung. Ziehen sie den Kittel, die Robe aus und kommen sie her.“, unterbrach Richter Jörgensen ihre nichtendenwollenden Einwürfe.
„Bitte, aber nur unter Protest.“
„Von mir aus unter Protest. Aber jetzt kommen sie in den Zeugenstand, damit dieser absurde Prozess zu einem guten Ende kommt.“
Widerwillig zog die Anwältin die Robe aus und darunter kam die Angeklagte zum Vorschein. Erhobenen Hauptes betrat sie den Zeugenstand.
Der Gerichtsdiener trat mit der Bibel an sie heran, mit wenig Hoffnung in seinen Augen. Frau S. Steckte, gut sichtbar für alle, ihre Hände demonstrativ in ihre Hosentaschen.
„Sie widersetzt sich offenkundig.“, beschwerte sich der Gerichtsdiener.
„Dann schwören Sie eben ohne den „Gotteszusatz“, wenn es ihnen missfällt.“, gestattete Jörgensen, dessen Laune merklich abkühlte.
„Ich verlange ein anderes Buch! Da lege ich meine Hand nicht drauf.“
„Langsam reißt mir aber der Faden der Geduld. Gerichtsdiener, haben wir irgendwo ein anderes Buch?“
„An welche Art von Buch haben euer Ehren dabei gedacht. Sachbuch oder Belletristik?“
„Himmel, A ....“, entfuhr es dem Vorsitzenden, doch konnte er gerade noch seinen Fluch einfangen, ehe er gänzlich ausgesprochen war und nach einer Millisekunde des intensiven Nachdenkens, änderte er seine Strategie und meinte geradezu verzweifelt: „Egal. Von mir aus auch das Telefonbuch.“
„Telefonbücher haben wir nur noch in elektronischer Form. Unser Beitrag zur Rettung des Regenwaldes, der ja massiv bedroht ist.“, erklärte der Gerichtsdiener bedauernd.
„Ich raste gleich aus.“, gab Richter Jörgensen unfreiwillig zu Protokoll, was jede Wortmeldung notierte.
„Ginge auch ein Duden?“, fragte der Diener, der nur helfen wollte.
„Irgendein Buch. Ganz gleich welches.“, stöhnte der Richter.
„Es ist in meiner Aktentasche.“, freute sich der Gerichtsdiener, mit seinem Vorschlag scheinbar ins Schwarze getroffen zu haben.
„Holen Sie es. Schwören auf einen Duden! Dieser Prozess gerät langsam zu einer Farce.“, jammerte Jörgensen.
„Euer Ehren, bezahlt der Staat auch die Taxikosten?“
„Was? Was denn für Taxikosten?“
Langsam hatte sich seine Frisur in selbstzerstörerischer Weise, vom eleganten Mittelscheitel, in eine vom Wind zerzauste unkontrollierte Mähne verwandelt.
„Ich habe sie zu Hause vergessen, mit samt meinem Vesperbrot.“, räumte der Gerichtsdiener ein.
Nun war es soweit. Richter Jörgensen vergaß vollkommen seine richterliche Contenance und schrie den Gerichtsdiener an, der doch nur helfen wollte und sich daraufhin eine Dienstaufsichtsbeschwerde offenließ.
„Verfi.... Verflucht nochmal, es wird doch irgendwo ein Buch aufzufinden sein.“
Da meldete sich einer der Zuschauer, der in der letzten Reihe saß.
„Wer sind Sie und was wollen sie.“, rief Jörgensen, nach jedem Strohhalm greifend.
„Mein Name ist Brodbeck. Zufällig hätte ich ein Buch, wenn auch ein sehr Dünnes und literarisch wenig anspruchsvolles bei mir.“
„Egal. Buch ist Buch. Wenn Sie uns damit aushelfen könnten, wäre das Gericht ihnen sehr verbunden.“
„Es wäre mir Freude und Ehre zugleich. Als Bürger bin ich froh, dem Staat dienlich sein zu dürfen.“, gestand Brodbeck und stolz ging er nach vorne.
Er genoss sichtlich die anerkennenden Blicke aller Zuschauer, die aufatmeten, weil so der Prozess, durch einen der ihren, weitergehen konnte.
„Die Bäckerblume!“, deklamierte Brodbeck voller Stolz und hielt das Fachmagazin der Bäckerzunft in die Höhe, für alle gut sichtbar.
Richter Jörgensen kratzte sich nachdenklich am Kopf.
„Nun ja ... also im eigentlichen Sinne ist dies kein Buch. Mehr so ein Werbeblatt. Eine Wurfsendung. Literarisch mit der Bibel nicht gleichzusetzen. Aber ich denke, angesichts der verfahrenen Verfahrenssituation, kann ich es als Buch durchgehen lassen, wenn die Staatsanwaltschaft keine Einwände hat.
„Die Staatsanwaltschaft reibt sich verwundert die Augen, aber drückt beide zu. Wenn Justitia schon blind ist, warum dann nicht auch ausnahmsweise mal die Staatsanwaltschaft.“, erklärte die Staatsanwaltschaft.
„Hat die Verteidigung vor dagegen Einspruch zu erheben?“
Die Blicke aller richteten sich nun auf Frau S., die sichtlich die Aufmerksamkeit an ihrer Person genoss.
„Momentchen!“, sagte sie, eilte zu ihrem Platz zurück, legte die Robe an und erklärte:
„Die Verteidigung hat keine Einwände.“
Rasch zog sie die Robe aus und ging zurück in den Zeugenstand.
„Dann sei es beschlossen und verkündet. Angeklagte, legen sie ihre linke Hand auf die Bäckerblume, heben sie die rechte und sprechen sie dem Gerichtsdiener die Eidesformel, ohne den religiösen Zusatz, nach.
Sie tat es und die Vereidigung ging unfallfrei über die Bühne.
Überall herrschte daraufhin Erleichterung. Besonders die Zuschauer waren von der bisherigen Performance enttäuscht. Es fehlte ihnen der Nervenkitzel. Weit und breit keine Zusammenbrüche in Sicht, wenn man mal von Richter Jörgensen absieht. Keine harten Verhöre. Das Fehlen eines Überraschungszeugen wurde ebenso bemängelt, wie die lasche Haltung der Anwälte. Von Matlock und Perry Mason waren sie verwöhnt.
Nach der Vereidigung zog sich Bäckermeister Brodbeck, den Dank des Gerichts dankbar entgegengenommen, wieder auf seinen Platz zurück. Die Bäckerblume sorgsam wieder eingesteckt, die nun an Wert gewonnen hatte, wegen der Mitwirkung in einem Mordprozess. Bereits am nächsten Tag wurde sie bei eBay zur Versteigerung feilgeboten. Minütlich erhöhte sich deren Wert ins Unermessliche.
„Angeklagte ...“, begann Richter Jörgensen und wurde sofort unsanft unterbrochen.
„Richter!“, gab sie charmant zurück.
„Herr Richter oder euer Ehren, wenns beliebt.“
„Es würde belieben, wenn euer Ehren oder Herr Richter, diese Höflichkeit auch mir zukommen ließen. Höflichkeit gegen Höflichkeit. Respekt versus Respekt.“, forderte Frau S. ein.
„Angeklagte, sehr verehrte Frau S.“, fuhr er ironisch fort, was ihr jedoch auch missfiel.
„Höre ich da einen ironischen Unterton. Geziemt sich das?“
Richter Jörgensen fühlte sich ertappt, obwohl er sicher war, die kleine ironische Spitze gut versteckt platziert zu haben. Doch dies zeigte sich als eine fatale Fehleinschätzung.
„Frau S., sie sind hier als Angeklagte und Zeugin zugleich und ich bitte nun mich nicht weiter zu unterbrechen und meine Stellung zu untergraben. Verstehen wir uns?“
„Als Privatperson vollkommen, jedoch in meiner Funktion als Verteidigerin kann ich dem nicht zustimmen.“
„Jetzt sind sie hier als Zeugin.“
„Ach so, weil ich ja den Kittel nicht anhabe.“
„Richtig Angeklagte. Mit Kittel ... mit Robe sind sie Anwältin der Verteidigung und ohne sind sie ...?“
„Da bin ich eine Zeugin, die zu der Angeklagten hält.“ „Ich korrigiere sie in einem Punkt. Als Zeugin sind sie der Wahrheit verpflichtet und nicht der Angeklagten.“
„Das ist aber verwirrend.“, befand Frau S. und hatte damit die Mehrheit der Zuschauer auf ihrer Seite.
„So ist unser Gesetz und daran wollen wir uns doch alle halten. Deswegen ist der Beruf des Anwalts auch ein Vollzeitstudium, wo er genügend Zeit hat, dies alles zu verstehen.“
„Werfen Sie mir vor, nicht studiert zu haben? Ich habe früh geheiratet und kam nicht mehr dazu, weil mein Mann umsorgt werden wollte. Er war unser Ernährer, den ich liebevoll ernährt habe, trotz fehlendem Studiums. Ich kritisiere ihre Frau ja auch nicht.“
Damit hatte sie unwissentlich eine tiefe Wunde bei dem Richter getroffen. Sichtlich angefasst reagierte dieser betroffen und es versagte ihm fast die Stimme.
„Meine Frau ... die ist ... das hat ... es geht sie nichts an und spielt hier keine Rolle.“
Es war mucksmäuschenstill im Gerichtssaal. Jeder spürte, wie schwer es ihm fiel, über seine Frau zu sprechen. Wären ihnen die Umstände der schmutzigen Scheidung bekannt gewesen, so würden sie ihre Unmutsäußerungen wohl unterlassen haben. So aber bekam Richter Jörgensen die volle Dröhnung an Buh-Rufen. Für ihn kein leichtes Unterfangen, die Ordnung wieder herzustellen. Doch schließlich gelang es ihm, in denen er mit drakonischen Strafen, Androhungen und Geldzuwendungen an die Staatskasse, dagegen hielt. Dies zeigte die erhoffte Wirkung. Nachdem nun das Kräfteverhältnis geklärt war, fuhr Richter Jörgensen fort in seiner Zeugenbefragung, die bislang wenig substanzielles ans Tageslicht befördert hatte.
„Frau S., schildern Sie bitte, was sich an dem Tag zutrug, an dessen Ende der Tod ihres Gatten stand.“
„Den ganzen Tag?“, seufzte Frau S., „ich habe erfolgreich versucht, ihn zu verdrängen. Und nun kommen sie und stoßen mit ihrem juristischen Messer in die klaffende Wunde der Erinnerung.“
„Frau S., auch wenn es schmerzhaft für sie sein mag, so könnte es doch dazu führen ihre Haft dauerhaft zu beenden. Ein Umstand, den sie nicht außer Acht lassen sollten. Diese sage ich besonders auch in Richtung ihrer Verteidigerin.“, versuchte Richter Jörgensen in einem versöhnlicheren Tonfall.
„Euer Ehren, dann muss ich wohl in den sauren Apfel der Erkenntnis beißen. Wobei ich gleich vorwegsagen muss, an einige Details des Tages habe ich nur noch fragmentarische Erinnerungen. Andere wiederum seh ich noch deutlich vor meinem geistigen Auge. Zum Beispiel das Frühstück an jenem unglückseligen Tag. Das werde ich wohl nie vergessen. Selten war mir ein Frühstücksei so auf den Punkt gelungen. Wachsweich im Kern. Die Brötchen, kross und noch lauwarm. Ein Gedicht.“
„Euer Ehren!“, schnippte es aus dem Saal. Der in die Höhe gereckte Arm, ein Bild was jeder Schüler noch kennt, gehörte Bäckermeister Brodbeck.
„Haben Sie etwas zu dem Fall beizutragen?“, erkundigte sich der Richter.
„Ja. Ein Detail hat die Zeugin unterschlagen, die das Bild abrundet.“
„Dann sprechen Sie.“, und an die Staatsanwaltschaft gerichtet, „Auf eine Vereidigung können wir wohl verzichten.“
„Die Brötchen stammten aus meiner Manufaktur. Bäckerei Brodbeck. Der Bäcker ihres Vertrauens.“
Frau S. nickte bestätigend und dankbar für die Ergänzung ihrer Aussage.
„Ich denke diese Mitteilung ist nicht von Relevanz für den Prozess. Mir scheint es eher, hier versucht jemand, Kapital zu schlagen, aus der Tatsache, dass die Zeugin das Backwerk als Backwerk und nicht als spezielles Backwerk der Bäckerei Brodbeck erwähnte. Zudem weise ich daraufhin, dass eine progressive, wenn nicht gar aggressive Schleichwerbung vor Gericht nicht erwünscht und keinesfalls gestattet ist.“
Beleidigt, aber dennoch froh, seine Bäckerei in den Focus der Wahrheitsfindung gerückt zu haben, nahm Bäckermeister Brodbeck seinen Arm wieder herunter. Er konnte seine geschickte Produktplatzierung anbringen und nahm nun erste Bestellungen an. Sogar der Staatsanwalt orderte für den nächsten Tag ein Brötchen und wie er dem hohen Gericht erklärte, diene dies nur der Überprüfung, ob jene, im Prozess erwähnten Brötchen, tatsächlich an Knusprigkeit keine Wünsche, offen ließen. Richter Jörgensen gab dem Antrag statt und verfügte nun seinerseits ebenfalls ein Brötchen zur Anschauung, auf Staatskosten.
„Da dies eine öffentliche Sitzung ist, muss die Verköstigung auch öffentlich stattfinden. Wir vertagen uns auf morgen. Ein Hinweis sei mir noch gestattet. Herr Bäckermeister Brodbeck, reichen Sie bitte eine detailierte Rechnung, mit Ausweisung der gesetzlichen Mehrwertsteuer, in fünffacher Ausfertigung an die Justizkasse, von der sie die Summe am Ende des Quartals überwiesen bekommen. Ich schließe die Sitzung. Die Zeugin ist entlassen und darf, als Angeklagte, zurück in ihre Zelle gebracht werden.“
Damit endete der zweite Prozesstag, des an Überraschungen nicht gerade armen Vormittags.
*
„Scheiß Wetter.“, dachte Frau S., nachdem sie erwachte. Als wäre die Zelle, das Essen, sowie die nur weiblichen Wärterinnen, nicht auch so schon schlimm genug. Aber als Frau von Welt dachte sie es nur und verkniff es sich, dies laut vor sich auszusprechen. Sie war sich ihrer Funktion als „Dame von Welt“ durchaus bewusst. Nur manchmal verdrängte oder vergaß sie dieses, von ihr selbst ausgegebene Eigenprofilanforderung und schon rutscht einem solch eine Fäkalinjurie heraus, wenn auch nur in stummer Weise. Inhaltlich stand sie jedoch zu dem, was sie gedacht hatte, denn wilde Wassermassen ergossen sich aus den Wolken. Weggespült waren auch die beiden Schneckenhäuser, deren Inhalt sich früher über die nasse Erfrischung gefreut hätten, doch jetzt, so tot und ausgetrocknet, kam da jede Hilfe zu spät.
Regen ist eben eine sehr launische Angelegenheit. Sie kommt immer dann, wenn man sie am wenigsten gebrauchen kann. Regenschirme können davon ein Lied singen, wenn sie nicht so unmusikalisch wären. Wird er von seinem Besitzer mitgeführt, regnet es nicht. Bleibt er jedoch in der Kneipe zurück, aus Alkoholüberschuss oder reiner Vergesslichkeit, so schüttet es mehr aus Wolken, als man selbst in sich hineingeschüttet hatte. Ein wahres Yin und Yang Syndrom. Braucht es Yin, bekommt man Yang! Mit solchen philosophischen Betrachtungen vertrieb sich Frau S. ihre kostbare Einsitzzeit(FN Dieses Wort ist in der deutschen Sprache nicht enthalten und wurde, mit freundlicher Genehmigung, von den Schweizer Behörden, die das Patent darauf haben, zur einmaligen Verfügung bereitgestellt. FN), wie sie freundlich ihre Einkerkerung nannte.
Der Vorrat an Gesellschaftsspielen für eine Teilnehmerin war mehr als überschaubar, wie Frau S. kritisch gegenüber einer Wärterin reklamierte. Diese entschuldigte sich wortkarg, mit einem gleichzeitig ausgeführten doppelseitigen Schulterzucken.
Die Metallklappe in der Zellentür öffnete sich, ohne vorheriges Anklopfen.
„Gefangene, das Gericht erwartet sie!“, erklärte eine Wärterin, die wahrscheinlich wegen ihrer prägnanten und lauten Stimme die Stelle erhalten hatte.
„Untersuchungshafteinsitzende, wenn ich bitten darf. So viel Höflichkeit kann man ja wohl erwarten.“, beschwerte sich Frau S. und warf ihr einen missbilligenden Blick zu.
Als ihre Form der Entschuldigung schlug die so Kritisierte die Klappe wortlos zu.
„Leute gibts.“, entfuhr es Frau S. und schüttelte nur verständnislos ihr Haupthaar.
Bereits eine halbe Stunde später, wurde sie, begleitet von zwei Außendienstmitarbeiterinnen, zum Gericht gefahren, wo sie sich sofort in den Zeugenstand setzte und bereits freudig erregt, das Eintreffen des Richters erwartete. Irgendwo schlug eine Turmuhr neun mal. Richter Jörgensen erschien und das Publikum erhob sich. Einige saßen bereits seit sieben Uhr auf den harten Stühlen, weil sie die besten Plätze erwischen wollten, und waren froh, einmal aufstehen zu können. Bäckermeister Brodbeck, aus alter Erfahrung seines jährlichen Mallorcaurlaubs, hatte bereits am Vortag ein Handtuch auf seinen Sitz gelegt und so musste er erst kurz vor knapp kommen.
„Ich eröffne die Sitzung. Bitte Platz zu nehmen.“, eröffnete Richter Jörgensen die Sitzung und nahm seine Aufforderung ebenfalls sehr ernst und nahm Platz.
Zufrieden stellte er für sich fest, dass bislang alles noch reibungslos abgelaufen war und Frau S. noch keinen Einspruch erhoben hatte. Wenn es nach ihm ging, konnte es so bleiben. Aber seine Befürchtung, dass es sicher nicht so bleiben würde, wurde alsbald bestätigt, denn auf Frau S. konnte er sich verlassen.
„Zeugin, wir setzen nun ihre Befragung fort.“
„Guten Morgen Herr Richter.“, begrüßte Frau S. und in dieser Freundlichkeit schwebte etwas Kritik mit.
Der bemerkte es und rasch korrigierte sich Richter Jörgensen und wünschte nun seinerseits auch Frau S. einen Guten Morgen und schloss auch gleich das Publikum mit ein, damit es von der Seite keine Beschwerden geben sollte.
Wie in einem gut einstudierten Chor entgegnete nun auch das Publikum die an sie gerichteten morgendlichen Grüße.
„Na dann wollen wir mal.“, begann der Sitzungsvorsitzende, mit ein paar aufmunternden Worten.
„Ich freue mich schon auf ihre Fragen.“, gestand Frau S., die schon froh darüber war, dass man mit ihr sprach. In dere Untersuchungshaft sprach ja höchstens Frau mit ihr und dann auch nur das Nötigste.
Sie sah sich selbst als eine gesellige und kommunikativ sehr aktive Frau an und froh, wenn man oder Frau ihr zuhörte. Und hier bot sich ihr eine Plattform, die sie nicht ungenutzt lassen wollte. Ihr Mann legte nicht allzu viel Wert auf diese Charaktereigenschaft seiner Frau, was auch nicht ganz unwesentlich mit seinem Schicksal verbunden war. Zwar konnte er sprechen, vermied es jedoch, wo er nur konnte. In seinen Augen bot seine Frau wenig Anlass, diese liebevolle Marotte für sie aufzugeben oder gar dagegen anzukämpfen. Im Nachhinein war dies vielleicht etwas unklug, aber im Nachhinein ist man ja immer klüger. Im Nachhinein hätte er auch sicher gut auf das Messer im Rücken verzichten können, aber dazu kam er ja nicht mehr, wegen seines plötzlich aufgetretenen unfreiwilligen Endes. Aber greifen wir der Verhandlung nicht vor, die eben genau diesen Sachverhalt aufzuklären versuchte. Allen voran Richter Jörgensen zeigte sich sehr interessiert, den Umstand des zu Tode kommens von Herrn S. aufzudecken, obgleich er ihm persönlich nicht bekannt war. Vermutlich war sein Interesse darin begründet, dass es eine angeborene Neugierde in seiner Familie gab, die er geerbt hatte. Vermutlich mütterlicherseits. Neugierde ist ja meist eine der Haupttugenden weiblicher Familienmitglieder. Väterlicherseits wird hingegen gerne unnütze Behaarung weitergegeben, besonders an den Stellen, wo sie so gar keinen Sinn ergeben, wie Ohrmuschel, Nacken oder Gesäß.
„So Angeklagte, dann lauschen wir jetzt ihren Ausführungen. Ich darf noch erwähnen, dass sie weiterhin unter religiös befreitem Eid stehen.“
„Euer Ehren, ich danke für die Erteilung des Wortes, würde es aber begrüßen, wenn man mir Fragen stellen könnte, ich neige nämlich, das gebe ich ungern offen zu, unter pathologischer Geschwätzigkeit. Dies kann ich mit einem Attest belegen, was jedoch nicht notariell beglaubigt ist.“
„Ich denke“, entgegnete Richter Jörgensen, „wir können auf ein Attest verzichten. Es braucht keines zusätzlichen Beweises. Ihre bisherigen Einlassungen sind uns Beweis genug.“
„Zu freundlich euer Ehren.“, bedankte sich Frau S. für das Entgegenkommen.
„Hat jemand Fragen an die Angeklagte? -- Tut mir leid Herr Brodbeck, die Frage richtete sich lediglich an die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung. Ein Mitwirken der Verhandlung von Zuschauerseite ist nicht nur nicht gerne gesehen, es ist unerwünscht und kann letztlich sogar mit einer Ordnungsstrafe belangt werden. Deshalb empfehle ich, schweigend der Verhandlung zu lauschen.“
Bäckermeister Brodbeck nahm wieder seinen Platz ein und schwieg fortan. Diese Entscheidung wurde allenthalben begrüßt. Besonders sein näheres Umfeld dankte dem Gericht ausdrücklich mit stillem kollektiven Kopfnicken. Hätten sie es hingegen als ungerecht empfunden, so würden sie es wohl mit demonstrativem Kopfschütteln quittiert haben. Hauptsache eben, es muss wortlos geschehen, so wie es der Richter eingefordert hat.
Die Staatsanwaltschaft stellte unterdessen fest, momentan noch keine Fragen zu haben, ehe nicht überhaupt einmal eine Aussage der Angeklagten vorliege, die zu bewerten sei. Die Angeklagte selbst, nahm in ihrer Funktion als Verteidigerin schnell auf ihrem Platz platz und schloss sich der Meinung der Staatsanwaltschaft an. Dann raste Frau S. wieder zurück und beschwerte sich prompt bei dem Richter, über ihren ständigen Rollenwechsel.
„Es tut mir leid Angeklagte, dass sie zwischenzeitlich auch Verteidigerin sein Müssen, aber das haben sie sich selbst zuzuschreiben. Für niemanden ist es leicht, zwei Personen in einer darzustellen. Leider lässt es sich nicht ändern, da die Prozessordnung es vorsieht, hin und wieder auch einmal die Verteidigung zu Wort kommen zu lassen.“, begründete Richter Jörgensen den Einwand von Frau S., froh, das es nur ein Einwand und kein Einspruch war.
Frau S. musste erkennen, wenn auch schmerzhaft, dass sie es war, die sich selbst in diese Doppelrolle gebracht hat und nun mit den Konsequenzen eben leben musste. Jetzt war sie wieder als Zeugin und Angeklagte gefragt und begann endlich mit ihren Ausführungen, die vom Publikum längst herbeigesehnt wurde, da sich bei ihnen längst der Eindruck manifestiert hatte, der Prozess liefe Gefahr verschleppt zu werden.
„Hohe Gerichtsbarkeit!“, begann sie und die Spannung im Saal war zum Greifen nahe.
Zaghafte Versuche, einen euphorisch unterstützenden und motivierenden Applaus anzustimmen, wurde durch einen entschiedenen Blick des Richters, gnadenlos im Keim erstickt. Frau S. entging dieses willkürliche Eingreifen in ihre Redefreiheit nicht und so kam sie nicht umhin ihre Rede zu unterbrechen, den Platz zu wechseln, sich die Robe anzuziehen und als Verteidigerin Einspruch zu erheben.
„Euer Ehren, im Namen meiner Mandantin muss ich gegen diese Einwirkung auf das Publikum entschieden protestieren. Sie sitzen da oben zu dritt und hier im Zeugenstand sitzt meine Mandantin alleine und kämpft um ihr leben“.
Frau S. deutet melodramatisch auf den leeren Platz im Zeugenstand und bemerkt ihre Falschbehauptung.
„Die eben noch da saß und nun als Verteidigerin vor ihnen steht und um ihr Recht ficht.“, korrigierte sie sich, aus Angst, auch noch der uneidlichen Aussage, die sie als Anwältin getätigt hatte, verdonnert zu werden.
Langsam verlor Richter Jörgensen nicht nur die Geduld, sondern auch den Überblick, wer gerade und in welcher Funktion sprach.
Unbeeindruckt der Befindlichkeit des Richters fuhr die Verteidigerin fort.
„Das hochgeschätzte Publikum, diese wunderbaren Menschen hier, stehen eindeutig auf der Seite meiner Mandantin, ihrer Beschuldigten. Sie kämpft wie eine Löwin, mit der tatkräftigen Unterstützung ihrer Fans. Und da darf man wohl erwarten, das diese Liebesbezeugungen vom Gericht nicht nur toleriert, ja auch verständnisvoll anerkannt werden. Oder liege da etwa falsch?“
„Ja!“, erklärte Richter Jörgensen und schmetterte den Einspruch ab, ohne eine schlüssige Erläuterung dazu abzugeben.
„Widerspruch!“, donnerte es ihm entgegen.
„Abgelehnt!“, schallte es zurück.
„Einspruch gegen ihren Widerspruch!“
„Abgewiesen.“
„Dann lehnen wir eben das gesamte Gericht ab wegen Befangenheit.“
„Das nimmt das Gericht zur Kenntnis und zu einer weiteren Überprüfung über den Antrag, ziehen wir uns zur Beratung zurück. Die Verhandlung wird auf Morgen verschoben, falls sich ein Richter findet, der diesem Wahnsinn gewachsen ist.“
Es waren Worte der Hoffnung. Beide Seiten, die sich unversöhnlich gegenüberstanden. Hier Richter Jörgensen, dem nichts lieber gewesen wäre, als das er diesem Possenspiel nicht länger vorsitzen musste und dort in Personalunion Verteidigerin, Angeklagte und nicht zuletzt auch der Mensch Frau S., die sich unbeugsam gegen die Ungerechtigkeit der Welt geschickt inszenierte. Sie war nicht gewillt, dem richterliche Aggressor auch nur einen Millimeter zu weichen.
Doch am nächsten Verhandlungstag musste sie gleich zwei schwere Niederlagen hinnehmen. Die Sitzung wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit, wegen Parteilichkeit, fortgesetzt und erneut saß Richter Jörgensen auf dem Richterstuhl.
Diesen Umstand erklärte er in einer Erklärung wie folgt:
„Bis in die tiefe Nacht saßen wir drei ...“, dabei deutete er mit der Hand auf die beiden Schöffen neben sich, „... zusammengesessen und uns auf eine eventuelle Befangenheit hin überprüft. Mit zwei zu eins konnten wir keine Indizien dafür finden und schlussendlich haben wir uns freigesprochen. Auch wenn es uns persönlich nicht behagt, werden wir diesen Prozess bis zum bitteren Ende weiterführen und zu einem gerechten Urteil gelangen. Daher sind sämtliche Einwürfe, Einsprüche und Anträge abzuweisen.“
Fassungslos nahm Frau S. und auch ihre Verteidigerin die Einlassungen des Gerichts auf sich wirken.
Niedergeschlagen nahmen sie die, Niederlagen in allen Punkten, ohne äußere Regung hin, wenn man von einem kollektiven Nervenzusammenbruch absieht, den sie mutwillig herbeiführten, um bei dem Gericht Milde zu erhoffen.
Doch Richter Jörgensen, geschult und geübt im Umgang mit tränenreichen Auftritten vor Gericht, zeigte sich ungerührt. So schnell der Nervenzusammenbruch auch kam, so rasch ging er vorüber. Da er seinen Zweck verfehlte, gab es auch keine Notwendigkeit ihn weiter fortzusetzen. Von dem Rückschlag schwer getroffen, ging Frau S. wieder in den Zeugenstand und schilderte nun endlich, ohne weitere Zwischenfälle und vor leeren Rängen, was sich nun an dem Tag ereignete, als ihr Mann sich entschied zu versterben. Es sollte eine aufrüttelnde, eine zu Herzen gehende, ja eine nichtsauslassende Aussage werden, an deren Ende ein Freispruch stehen sollte. So jedenfalls die Intension der Angeklagten, die mit ihrer Verteidigung vertraulich besprochen war.
„Hohes Gericht! Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, ist von ihnen gefordert und nichts kann mich daran hindern, diesem Wunsche vollumfänglich nachzukommen. Ich bin nur eine einfache Hausfrau, die ihren geliebten Gatten verlor und irrtümlich hier vor Gericht gelandet ist, durch Fehlinformationen, böswilliger Behauptungen und einer Indizienkette, die mir ein Fehlverhalten zu suggerieren versucht. Mit Nachdruck weise ich alle Beschuldigungen gegen mich zurück und schließe mich meiner Verteidigerin an, die zu recht einen Freispruch verlangt, mangelns Beweisen und auch wegen jeglichen fehlenden Motivs. Mein Mann, der aus dem Leben einer glücklichen Ehe gerissen wurde, ist Opfer eines tragischen Unglücksfalls geworden, den er, zu meinem größten Bedauern, mit dem kompletten Dasein bezahlte und nun im Jenseits weiterführen muss.“
Bei den letzten Worten versagte beinahe ihre Stimme. So sehr war sie angefasst von dem, was sie hier zu Protokoll gab. Schmerzhaft die Erinnerung, die sie nun noch einmal durchleben musste. Jedes Detail, welches sie ausplauderte, ein Stich ins Herz.
Je tiefer sie in die Materie eindrang, desto schwerer fiel es ihr, dies ohne Zusatz eines Gefühls, sachlich vorzutragen. Gebannt lauschte Richter Jörgensen und auch sein Schmerz war ihm deutlich anzusehen, denn die Parallelen zu seinem eigenen zerrütteten Eheleben wurden ihm gewahr. Ein Gefühl, was keinen Richter kalt lässt, wenn er es auch im Dienste der Gerechtigkeit unterdrücken muss. Privat war ihm zum Heulen zumute, dienstlich bewahrte er hingegen Contenance. Dies war nur dank der zwei starken Säulen, die neben ihm saßen möglich. Zwei sehr sozial engagierte Schöffen, mit dem Herz am rechten Fleck. Abwechselnd, den für einen alleine wäre es zuviel gewesen, nahmen sie abwechselnd den Richter in ihre schützenden Arme, wo er sich geborgen fühlte und seinen Gefühlen freien Lauf lassen konnte.
Von alldem bekam Frau S. nichts mit. Zu sehr war sie in ihre Geschichte vertieft, die so wahrhaftig, so konsequent in ihrer Schilderung war, dass sie selbst den Gerichtsdiener rührte, den eigentlich seit seiner Zeit im Baumarkt nichts mehr erschüttern konnte. Seit dem Lieferengpass bei den Rigipsplatten hatte er Vergleichbares nicht mehr erlebt. Doch was waren schon drohende Bauherren gegen die Schilderungen dieser so tapferen Frau. Innerlich, weil er äußerlich sich nichts anmerken lassen durfte, war Frau S. für ihn eine Heldin des Alltags. Eine Ikone, im Kampf für die Wahrheit. Leidenschaftliche Fürsprecherin für mehr Gerechtigkeit. Sie war für ihn jetzt bereits zu einer lebenden Legende geworden. Leuchtendes Beispiel in dunklen Zeiten. Er verehrte sie nicht einfach nur, nein still und heimlich da liebte, ja vergötterte er sie. Er, der sich bis heute nicht viel aus Frauen machte, wandelte sich vom Saulus zum Paulus. Er nahm sich fest vor, ja er sah es als seine heilige Pflicht geradezu an, wie der Prozess auch immer ausgehen mag, er würde seinen ganzen Mut zusammennehmen und ganz öffentlich um ihre Hand anhalten und die freigewordene Stelle des Ehemanns einnehmen. Er war dankbar für den Ausschluss des Publikums, da er unliebsame Konkurrenz für sein Ansinnen befürchtete. Drei menschliche Schicksale, die dieser Prozess schonungslos offenlegte und so untrennbar voneinander waren. Mit dieser dramatischen Entwicklung hatte wohl niemand gerechnet. Ging es doch anfangs nur um die schlichte Frage, ob Herr S. eines natürlichen Todes starb oder eben nicht. Und nun entwickelte sich daraus eine wahre Tragödie, die so nur das Leben schreiben kann. „Alles hängt von allem ab.“ Worte, die nie wahrhaftiger waren. Doch so sehr uns auch die Schicksale von Richter Jörgensen und des Gerichtsdieners berühren mag, so muss weiterhin der Focus auf frau S. liegen, denn sie ist Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, die ansonsten verfälscht würde. Und mag es auch noch so schwer fallen, kehren wir zurück zu der Frau, die dieser Geschichte ihre Berechtigung und ein Gesicht gibt, ohne die alles sinnfrei wäre. Lauschen wir ihren Ausführungen, die inzwischen an besagtem Vormittag angelangt waren, wo es zu dem tragischen Zwischenfall kam.
Leidenschaftlich berichtete sie, ohne Rücksichtnahme auf ihre eigene Befindlichkeit. Nur der Wahrheit verpflichtet. Nehmen wir also teil an einem epochalen Stück historischer Geschichtsschreibung. Demütig und voller Anteilnahme. Und lassen wir uns auch nicht irritieren von den lautstarken Protesten, die sich mittlerweile vor dem Gerichtsgebäude empörten.
„Wir wollen rein! – Wir wollen rein!“, skandierten die aufgebrachten Bürger, nicht nur weil es in Strömen regnete, nein weil sie von der Justiz ausgesperrt waren. Sie sahen die Demokratie gefährdet und so den ersten Schritt hin zu einer Diktatur.
Drinnen war Frau S. gerade dabei ausführlich über ihre Frühstücksvorbereitungen zu berichten, ohne auch nur das kleinste Detail wegzulassen.
Nichts und niemand konnte ihre Ausführungen stoppen. Richter Jörgensen versuchte es gar nicht, war er in Gedanken viel zu sehr in seinem Eheunglück verhaftet und so kaum in der Lage, den spannenden Bericht Frau S. ganz zu folgen. Und der Gerichtsdiener himmelte sie nur verstohlen an. Lediglich der Staatsanwalt, ein Mensch ohne Sinn für Poesie und ausgefeilte Dramaturgie, saß ungerührt da. Ohnehin hatte er sich längst ein Urteil gefällt und er war nicht der Typ, der sich von seiner Wahrheit abbringen ließ. Für ihn war sie schuldig und davon ließ er sich nicht abbringen.
„Ich bedeckte den Tisch mit einer blütenreinen und frisch gestärkten weißen Tischdecke, worauf ich ein Trockengesteck in die Mitte stellte, die farblich mit dem Geschirr korrespondierte. Frisch gepresster Orangensaft, die beiden wachsweichen Frühstückseier, sowie Wurst- und Käseplatte. Eine gutsortierte Auswahl an Fruchtmarmeladen, sowie ein Glas saisonalen Imkerhonigs aus biologischem Anbau, stand zur Verfügung, die frischen Brötchen auszukleiden, nachdem sie mit Süßrahmbutter bestrichen wurden. Es fehlte zu diesem, allmorgendlich perfekten Frühstück nur eines noch, mein geliebter Ehemann.“
Frau S. brach ihre Frühstücksbeschreibung unverhofft ab, unfähig weiterzusprechen. Jörgensen, verliebter Gerichtsdiener und selbst der steife Staatsanwalt, sahen erstaunt auf sie. Niemals hätten sie jemals damit gerechnet, dass der Wortschwall einmal ins Stocken geraten könnte. Eine kleine feine Träne rann über die Wange von Frau S. und wirkte so verloren. Wenn man sich alleine auf der Welt wähnt, so wie die kleine Träne, dann kann man ihre Angst nachempfinden. Sie lief bis zum Kinn und stürzte sich dann in den Tod, den der harte Boden ihr ermöglichte. Es war nur eine kurze Unterbrechung, eine winzige Episode und dennoch so tragisch am Ende.
Frau S. atmete tief durch und fand wieder zurück zu alter Stärke.
Unabwendbar trieb sie ihre Erinnerungen, bis zu dem Moment, wo ihr heißgeliebter Ehemann seinem traurigen Schicksal ins Auge blicken musste. Dem Anlass entsprechend, wechselte Frau S. ihren Tonfall. Von einem schnellen Allegrissimo, hin zu bedächtigem und getragenem Adagio. Auch in der Lautstärke gedrosselt, dafür mit verstärktem Gefühlsanteil, fuhr sie fort und rührte damit die wenigen Menschen, die ihr zuhören durften. Die ausgeschlossene Gruppe der unterstützenden Sympathisanten, die immerhin mit ihrem Protest erreicht hatten, dass man ihnen ein offenes Fenster zubilligte, hatten nun massive Probleme, die Worte von Frau S. zu verstehen. Damit kehrte auch ihr Unmut zurück, den sie mit „Lauter – Lauter“ Rufen quittierten. Richter Jörgensen drohte ihnen unverhohlen mit der Schließung des Fensters, wenn die Sprechchöre nicht eingestellt würden. Nach einer Kurzintervention zwischen Richter und Zeugin, gestatte dieser ihr eine Ausnahmegenehmigung und Frau S. durfte ihre Aussage direkt neben dem Fenster fortführen. Vor dem Fenster stand Herr Brodbeck und gab das Gesagte und von ihm gehörte, an die Ausgesperrten Wort für Wort weiter. Damit war ihnen die weitere Teilhabe an dem Prozess möglich. Die weise Entscheidung wurde dankbar angenommen und man zollte Richter Jörgensen freundlichen Applaus, der zwar verhalten ausfiel, aber als Beweis für ihr verändertes verhalten zu werten war.
Dann besann sich der Richter wieder auf sein Kerngeschäft und bat Frau S. um Fortführung ihrer Ausführung. Dies tat er sehr behutsam, hatte er doch die plötzliche Veränderung der Zeugin wahrgenommen, die so verletzlich auf einmal schien. Selten erlebte man Richter Jörgensen so einfühlsam, so hypersensibel.
„Liebe Frau S., wenn es sie mental nicht überfordert, so wären wir alle nun bereit, ihren schicksalhaften Worten zu lauschen. Ich versichere ihnen unser aller Wohlwollen, auf dem steinigen Weg, zurück in der Erinnerung des bewussten Tages, wo das Karma so brutal zuschlug.“
Er sagte es leise, aber intensiv und jeder spürte, er meinte diese Worte wahrhaftig. Auch Frau S. spürte deutlich, wie sich die Reihen schlossen, die ihr nun alle wohlgesonnen waren. Mit so einer breiten Unterstützung, der sich sogar der verstockte Staatsanwalt, wenn auch nur im Stillen, sich anschloss.
Eine Verurteilung schien in weite Ferne gerückt zu sein, wenn man in die wohlwollenden Gesichter sah.
Niemand zog in Betracht, dieses schwache, Grund auf Gute und so zerbrechliche Wesen, könnte auch nur einer kleinen lästigen Stubenfliege ein Leid antun.
Eigentlich wäre nun die große Stunde der Verteidigung gekommen, die mit heroischen Worten einen Freispruch beantragt hätte. Doch dies vermied Frau S. ganz bewusst und schlüpfte nicht in die Rolle ihres Lebens, als beinharte Verteidigerin ihrer selbst.
Denn keinesfalls wollte sie sich selbst unterbrechen. Aus eigener Kraft heraus und nicht durch Winkelzüge einer dubiosen Anwältin, wollte sie ihren Freispruch erwirken. Damit hoffte sie, wenn auch nur nebensächlich, die horrenden Anwaltskosten etwas minimieren zu können. Deswegen unterdrückte sie die Anwältin in sich und sprach, so befreit wie nie zuvor. Seit jenem unglückseligen Tag lag es ihr wie Blei auf der Seele. Doch nun, im Angesicht der spürbaren Liebe, die Einzug in den Gerichtssaal gehalten hatte und auch draußen, da wo die einfachen Menschen in strömendem Regen ausharrten, um an diesem, geradezu historischen Moment, dabei sein können, nur um es einmal später ihren Enkeln davon stolz berichten zu können.
Auch dieser Verantwortung war sich Frau S. bewusst.
Was auch immer sie nun sagen wird und nicht einmal sie selbst wusste, was es sein wird, es wird in die Menschheitsgeschichte als etwas ganz Großes eingehen. In einer Linie wird es stehen, neben den berühmten Reden, der meist männlichen Vorredner, denen dies geglückt ist. Sie, eine kleine unbedeutende Hausfrau, der so wenig Beachtung geschenkt wurde, sollte nun in einem Atemzug genannt werden mit den rhetorischen Giganten der Geschichte.
Und wer erinnert sich nicht an die Gettysburgrede von Lincolns ihrem Abraham oder als Robespierre Gedankenfreiheit forderte und dies seinem Sire entgegenschleuderte. Churchills Blut – Schweiß – und Tränenrede. Brandts Brandrede: „Mehr Demokratie wagen“. Nicht zu vergessen der kürzlich verstorbene griechische Staatsmann Perikles, der dereinst sagte und damit den Nagel auf den Kopf traf: „Der Tod dieser Männer enthüllt ihren Wert.“
Übergroße Schuhe, in die zu schlüpfen Frau S. bereit und fest entschlossen schien. Es war ihre Chance, der Welt ein Denkmal zu setzen und sie nutzte diese, kraftvoll und entschlossen. Auch wenn sie selbst deklamatorischer Neuling war, erhob sie ihre Stimme und wandte sich beherzt an das ihr zur Verfügung stehende Volk. Mögen die Worte in ewiger Erinnerung bleiben, um daraus Stärke und Zuversicht zu ziehen.
Getragen von einer wogenden Welle der Zuversicht richtete sie sich, mit eindringlichen Worten, an ihre Jünger, die an ihren Lippen klebten, als sei nur noch Pattex(FN Hierbei handelt es sich um die kostenfreie Produktplatzierung eines handelsüblichen Haushaltsklebers. FN) zwischen ihnen. Worte für die Ewigkeit, die nun erklingen sollten, die uns demütig geschenkt wurden, die tief ins Ohr und auch Herz eindringen, wo sie wärmend wirken sollten. Mit Stolz geschwellten Brüsten, ihrer Verantwortung bewusst, stand Frau S. da. Mit klarem Blick und fester Stimme setzte sie ihre Ausführungen fort, die ein eindringlicher Appell an die Unschuld werden sollten. Die Unschuld in eigener Sache.
„Hört ihr Leut und lasst euch sagen, wie sich zutrug, was sich zugetragen hat.“, eröffnete sie ihr Plädoyer.
Kein Mucks war zu hören. Niemand erhob Einspruch. Und selbst die Vögel, die in den herumstehenden Bäumen nisteten, schwiegen ergriffen. Die Weltenkugel drehte sich zwar weiter um die eigene Achse, doch merklich geräuschloser.
„Wie ich bereits schilderte, dass Frühstück war aufgebaut und nichts fehlte, was zu einer guten Morgenmahlzeit gehörte. Denn wisset ...“, hier erhob sie mahnend ihre Stimme, „... ein gutes Frühstück ist der perfekte Einstieg in den Tag. Ja es ist von immenser Wichtigkeit, denn es bringt uns erst so richtig in Schwung. Die vielen mürrischen und schlechtgelaunten Menschen in Bussen und bahnen, die uns täglich versuchen ihre Launen aufzuzwingen, sind allesamt ungefrühstückt. Ihr Schicksal soll und Warnung und Mahnung zugleich sein. Darum mein dringender Appell: Wehret den Anfängen eines ungefrühstückten Morgens. Wie leicht gerät man so auf die schiefe Bahn. Nur gefüllte Mägen führen zu einem ausgeglichenen Charakter. Und Charakter ist wichtig, denn das Böse ist immer und überall.“
Frau S. wischte sich mit dem Handrücken den entstandenen Schweiß von der Stirn, der sich dort ungefragt gebildet hatte. Sie konnte sich diese Sprechpause leisten, in der Gewissheit, niemand würde ihr widersprechen oder gar unhöflich in die Sprechlücke sich verbal hineinstürzen, um eigene, unqualifizierte Weisheiten subversiv zu verbreiten. Sie wusste genau, die Menschen, die ihr hingebungsvoll lauschten, waren wie Wachs in ihren warmen heißgelaufenen Händen. Dann fuhr sie unvermittelt fort und die Menschen kehrten aus ihrem Nachdenken und dem Verarbeiten des Gehörten zurück, gebannt wie es wohl weitergeht. Und sie sollten nicht enttäuscht werden.
„Höret und versteht!“, fasste sie noch einmal das Bisherige zusammen.
Dann stürzte ihre Stimme plötzlich ab. Ein hundsgemeiner Frosch hatte sich in ihrer Kehle festgesetzt, den Frau S. mit Abhusten zu bekämpfen.
Richter Jörgensen erkannte sofort, hier war Gefahr im Verzug und er reagierte sofort mit Gegenmaßnahmen.
„Gerichtsdiener, holen sie ein Wasser für die Meisterin der geschliffenen Sprache.“
Mit erstaunlicher Auffassungsgabe organisierte er ein Glas, füllte es selbständig mit frischem Leitungswasser aus dem Hahn und brachte es, flugs zu der stimmlich Erkrankten. Es war Rettung in höchster Not.
Dankbar und röchelnd nahm Frau S. die lebensrettende Medizin an und flößte sich das Wasser ein, um den Frosch so zu ertränken. Sofort stellte sich eine lindernde Wirkung ein und nach einem letzten finalen Abhusten, konnte sie befreit fortfahren. Zuvor hatte der Gerichtsdiener ein angebotenes Trinkgeld brüsk abgelehnt, denn er empfand es als eine Ehre, ihr das Leben retten zu dürfen.
Sie nahm den roten Faden wieder auf, den sie zuvor unfreiwillig fallenließ, knüpfte daran an und fuhr unverdrossen weiter fort.
„Ich bitte den kleinen sprachlichen Zwischenfall zu entschuldigen.“, erklärte sie offen und freimütig, „doch nun, gestärkt durch die heilende Wirkung des Quellwassers, knüpfe ich dort wieder an, wo es zu der unfreiwilligen Unterbrechung kam.“
Mit dieser teils schonungslosen Offenlegung ihrer Unzulänglichkeit und im Bewusstsein für die eigene Sterblichkeit, setzte sie wieder an, um der Menschheit die Augen zu öffnen.
Mit diesem persönlichen Einblick in ihre Seele hatte sie auch den letzten Skeptiker überzeugt und die Herzen flogen ihr jetzt erst recht zu.
„Während ich im Begriff war die brodbeckschen Brötchen aufzuschneiden, ließ ich meinen Blick schweifen. Diese Kontrollfunktion übte ich tagein tagaus aus, um mir nicht den Vorwurf eines ungenügenden Frühstücks selber machen zu müssen. Doch plötzlich stockte mein Blick und wanderte wieder etwas zurück. Etwas hatte mein Radar entdeckt und bei mir Alarm ausgelöst. Nun galt es zu lokalisieren, was den Alarm ausgelöst hatte. Ich scannte den Frühstückstisch Millimeter für Millimeter, konnte jedoch keinen Makel erkennen, der mir unterlaufen war. Doch dann, gerade als ich an eine Halluzination oder einen Fehlalarm glaubte, entdeckte ich den Fehler im System. Das Problem fand ich auf der Eckbank, die als Sitzgelegenheit meines Küchentisches dient. Dort hatte ich eine Lücke festgestellt, die sonst um diese Uhrzeit sich dort nicht findet. Direkt neben dem Platz, den ich für gewöhnlich einnehme, saß niemand. Da erst bemerkte ich, mein geliebter Ehemann war nicht zugegen. Dies nahm ich zum Anlass, nach ihm zu fahnden. Aufgestanden war er, das wusste ich, denn wir trafen uns zufällig im Bad, wo wir uns die klinke in die Hand gaben. Danach hatte er ein persönlich freies Zeitfenster, bis er zum Frühstück erschien. Gewöhnlich ohne Aufforderung meinerseits. Doch an jenem verhängnisvollen Tag war dem nicht so. Dies machte mich stutzig. Ich ging diesem Stutz nach und entdeckte ihn schließlich sitzend im Wohnzimmer, in seinem abendlich angestammten Platz, dem Ohrensessel seines Vertrauens, von wo man einen wunderbaren Blick auf den Fernseher genießt. Und dann entspann sich ein Gespräch, von Hausfrau zu Ehemann, was am Ende zu den tragischen Ereignissen führte, weswegen wir heute hier alle versammelt sind. Ich versuche nun, aus der Erinnerung, dies Gespräch zu rekapitulieren. Ich werde dann, wenn es statthaft ist, beide Rollen einnehmen und wegen des besseren Verständnisses, den männlichen Part mit tiefer dunkler Stimme und den Weiblichen, also den meinen, in der mir gebräuchlichen und bekannten Stimmfarbe vortragen. Dies nur zur Verdeutlichung des damals Gesagten und nicht aus Gründen der Selbstprofilierung.“
Mit höflichen und dankbaren Applaus, dem sich auch die Staatsanwaltschaft anschloss, goutierte man ihre zusätzlichen Erläuterungen, die die Nachvollziehbarkeit des anstehenden Zwiegesprächs sicher erleichtern würden. Denn nichts ist schlimmer, als wenn man nicht versteht, wer gerade was und zu wem gesagt hat und in welchem Kontext dies dann steht.(FN Als besonderen Service bieten wir ab hier ein spezielles Schriftbild an. Die Dialoge werden jeweils namentlich kenntlich gemacht, indem „Sie las Sie und „Er“ als er zusätzlich am jeweiligen Anfang dargestellt werden. Dies erhöht den Lesekomfort und dient der besseren Unterscheidung der einzelnen Charaktere. FN)
Sie: Ach Mann, Du hier?
Er: Ja.
Sie: Aha.
Er: Ist es fertig?
Sie: Falls Du mit „es“ das Frühstück meinst, dann ist „Es“ fertig.
„So weit das folgenreiche Gespräch, welches ich mit meinen darstellerischen Mitteln, so plastisch darzustellen versucht habe, wie es mir möglich war.“, entschuldigte sich Frau S. halbherzig, denn eigentlich war sie mit ihrer Performance mehr als zufrieden gewesen und hatte auf Beifall gehofft, der jedoch unterlieb, wohl auch aus Gründen der Pietät, zu dem jetzt bald zu Tode kommenden Dialogpartner.
Trotz der persönlichen kränkenden Enttäuschung für sich, freute sie sich über die riesige Anteilnahme für ihren Mann, der diese nun ja nicht mehr selbst entgegennehmen konnte, aus mehr als verständlichen und somit entschuldbaren Gründen.
„Was ihr reizendes kleines Schauspiel leider nicht zeigte, war, wie nun die Wunde in den Rücken ihres Mannes kam.“, wagte Richter Jörgensen eine vorsichtige Kritik an dem Spiel.
„Die Wunde besaß er meines Wissens, zum Zeitpunkt des Gesprächs noch nicht.“, klärte Frau S. die Situation.
„Auch von der Waffe, die zu der Wunde passt, war noch nicht die Rede.“, ergänzte Jörgensen.
„Erstmal war es ja keine Waffe, sondern das Brötchenmesser, welches ich bei dem Gespräch noch in der Hand hatte. Erst mit der Tat wird ein Messer zur Waffe. Per se ist ein Brötchenmesser ja vom Grunde her nicht böse. Der Mensch, der es führt, macht es erst zu einer tödlichen Waffe. Wobei dies kein Eingeständnis meiner Schuld sein soll, sondern ein Plädoyer für die Unschuldsvermutung eines und nicht nur meines Brötchenmessers.“
„Wenn ich recht verstehe, so befand sich besagtes Brötchenmesser in ihren Händen, was später die Wunde verursacht haben soll.“
„Euer Ehren, im Prinzip ist diese Annahme korrekt wiedergegeben, aber die Schlüsse, die man daraus ziehen könnte, entsprechen nicht den Tatsachen.“, versuchte Frau S., etwas Licht ins Dickicht der dunklen Wahrheitsfindung zu bringen.
„So so.“, ließ der Richter zu Protokoll geben.
„Sie bringen es aber, wenn auch überspitzt, auf den Punkt. Da liegt nämlich der Pudel in der Pfanne begraben.“
Durch die unglückliche Vermengung mehrerer Sprichwörter zu einem, die Frau S. in dem hitzigen Gefecht der Auseinandersetzung einfach zusammengefasst hatte, sorgte bei dem sonst so reservierten und für seine Kaltschnäuzigkeit bekanntem Staatsanwalt, für einen unkontrollierten Lachflash, den er aus eigener Kraft nicht mehr eindämmen konnte. Richter Jörgensen zeigte sich mehr als überrascht, denn so hatte er den Anklagevertreter noch nie gesehen. Er erkannte darin eine Übersprunghandlung, infolge der dramatischen Berichterstattung von Frau S. und wusste, was zu tun war. Er versah in mit einer kleinen Geldstrafe, wegen Respektlosigkeit und Verhöhnung des Gerichts, was bei dem Staatsanwalt auch sofort zu einem Humorverlust führte. Sein sofortiger Einspruch, den er todernst vorbrachte, wurde vom Gericht jedoch abgewiesen. Humor ist eben nichts, was in einem Gerichtsverfahren etwas zu suchen hat und Richter Jörgensen untermauerte mit seiner drastischen Entscheidung, er sei auch nicht gewillt, dies einreißen zu lassen.
Stattdessen wandte er sich nun wieder Frau S. zu, die abgelenkt war, durch die vielen Autogrammwünsche, die durch das offene Fenster erbeten wurden. Bereitwillig bekam jeder eines. Manche wollten es sogar auf ein Körperteil haben, um es sich später eintätowieren zu lassen. Dadurch sah man am Fenster so manchen blanken Hintern und weitere unseriöse Körperteile, die auf Grund der moralisch strengen Jugendschutzbestimmungen, nicht näher erwähnt werden dürfen.
Jörgensen sah der Autogrammstunde gelassen zu. Ohnehin hatte er Zeit, den just an jenem Tage feierte er Hochzeitstag mit seiner in Scheidung lebenden Frau. Eine gemeinsame Unternehmung mit ihr, kam durch die völlig überzogene Reaktion, wegen eines unbedeutenden Seitensprungs gleich die Scheidungskeule auszupacken, nicht infrage.
„Ein Mann mit Stolz drängt sich nicht auf!“, hatte er sich zugesichert und so unterließ er den Anruf zur Gratulation. Auch Blumen und die üblichen Pralinen schenkte er sich.
„Wir können dann wieder.“, meldete sich Frau S. zurück in den Prozess.
Wegen einer drohenden akuten Sehnenscheidenentzündung musste sie ihre schriftstellerische Tätigkeit im Sinne der Gesundheit abbrechen.
Langsam kehrte wieder Ruhe ein und der Prozess wurde fortgesetzt. Eigentlich wollte das Gericht auf morgen vertagen, doch die Verteidigung verweigerte ihre Zustimmung. Verteidigung und Angeklagte hatten sich auf dem kleinen Dienstweg darauf geeinigt, Einspruch zu erheben. Als Begründung gaben sie an, jetzt, so kurz vor dem Finale, sei es der Angeklagten unzumutbar noch einmal zurück in ihre Zelle zu müssen, wo sie doch kurz davor steht freigesprochen zu werden.
Nach reiflicher Überlegung ließ der Richter den Einspruch zu, obgleich er die Meinung nicht vollends teilen konnte. Noch war ja das Mysterium der Todesumstände nicht geklärt. Denn noch, wenn man den Ausführungen der Angeklagten aufmerksam gefolgt ist, war der Ehemann noch am leben.
„Erst muss der Mann mal tot sein, dann kann es auch frühestens zu einer Verurteilung kommen.“, flüsterte Richter Jörgensen seinen beiden Schöffen zu, die längst schon aufgehört hatten, dem Prozess geistig zu folgen und warteten eigentlich nur noch auf ihr Schöffengeld, was ihnen versprochen war.
„Verehrte Frau Angeklagte, liebe Frau S., so langsam, ehe sich der Tag zu ende neigt, sollten wir nun verstärkt in medias res gehen.“
„Medias was?“, hinterfragte Frau S. die kryptische Botschaft, da ihr das kleine Latinum versagt war.
„Zu Potte kommen!“, übersetzte ihr der Richter wortgetreu.
„Ja gerne, denn jetzt kommt ja erst der spannendste Teil meiner Ausführungen.
Sie war feuer und Flamme für die Entscheidung des Gerichts und fuhr in ihrer Erzählung fort.
„Wo waren wir noch gleich? Ach so ja richtig. Nach dem kleinen feinen familientauglichen Dialog mit meinem Mann, empfahl ich ihm den Gang zur Küche, wo inzwischen zwei indiskutabel abgekühlte Frühstückseier auf uns warteten, welche meiner hausfraulichen Perfektion nicht mehr gerecht wurden. Dies betrübte mich sehr und gab dafür meinem trödelnden Ehemann die Hauptschuld. Und so gab ein Wort das andere, wie es in so vielen Familien tagtäglich gute Sitte ist.“
Damit beendete Frau S. ihren kleinen feinen Vortrag und schaute aufmunternd den Richter an. Der schien sichtlich überrascht über das abrupte Ende.
„Für gewöhnlich verlaufen solche Wohnzimmergespräche, über abgekühlte Frühstückseier, in der Regel zwar unharmonisch aber nicht zwingend mit dem Ableben des männlichen Parts.“, befand Richter Jörgensen und wer genau hin hörte, konnte eine feine versteckte Kritik darin entdecken.
„Gewöhnlich sicher nicht, aber es war ja auch kein gewöhnlicher Vormittag. Sie müssen schon unsere extreme Ausnahmesituation geistig richtig erfassen und einordnen. Beiderseits waren wir zu diesem Zeitpunkt noch ungefrühstückt und damit ohnehin nur bedingt schuldfähig.“
Der Richter sah verwirrt auf.
„War das jetzt ein Schuldeingeständnis der Angeklagten oder ein Antrag auf Verfahrenseinstellung der Verteidigung? Diese Doppelfunktion wird langsam zu einem echten Problem.“, konstatierte Richter Jörgensen und sprach damit allen Anwesenden und auch den draußen Anwesenden, aus tiefster Seele.
„Es war lediglich der Versuch eines Stimmungsbildes.“, erläuterte Frau S., stellvertretend für ihre Verteidigerin.
„Stimmungen sind grundsätzlich nicht prozessrelevant, da sie unzulässige Gefühle bei den zu richtenden auslösen können, was wiederum zur Vernebelung der Tatsache führen kann. Wir als Richter sind aber der Neutralität verpflichtet. Nur wenn die reinen fakten es hergeben, sind wir unerbittlich und schlagen strafmaßmäßig gnadenlos zu, wie es unsere juristische Pflicht ist.“, informierte Richter Jörgensen Frau S. über die Richtlinien seiner Arbeit.
„Ach so, ja ich verstehe. In dem Fall ziehe ich selbstverständlich die von mir eingebrachte Stimmung, mit dem Ausdruck allergrößten Bedauerns, unverzüglich zurück.“
„Sehr zuvorkommend.“, lobte Jörgensen und notierte sich einen Pluspunkt, welches er bei dem zu treffenden späteren Urteil gegenrechnen kann.
„Dann werde ich wohl stimmungstechnisch eher wertneutral fortfahren.“, bot Frau S. einen fairen Kompromiss an, der auf breite Zustimmung stieß.
„Dann möchte ich ihre Neugierde nicht länger unnötig strapazieren.“
Es war ein Satz, leichtfertig von der Angeklagten dahingesagt, der Hoffnung verströmte. Hoffnung auf das größte Rätsel seiner Zeit. Dankbar und zustimmend nickte Richter Jörgensen ihr aufmunternd unterstützend zu.
Alle in und außerhalb des Saals gleichermaßen, waren bis bis in die Zehenspitze gespannt und erwartungsvoll ob dem, was ihnen nun für eine Geschichte aufgetischt wird.
„Tod noch vor dem Frühstück!“, hatte bereits ein Journalist seine Schlagzeile gefunden.
Zur Auswahl hatte er noch, falls es seinem Schlussredakteur nicht blutrünstig genug war: „Kalt und wachsweich zeigte sich die Mörderin.“, bei einer Verurteilung. Für den Fall eines Freispruchs hatte er noch folgendes in petto: „FREI! – jetzt kann sie wieder entspannt frühstücken gehen.“
„Angesichts der hereinbrechenden Nacht, möchte ich mich kurzfassen und nur das Wesentliche erzählen, was zu meinem Freispruch benötigt wird.“, ließ Frau S. verlauten.
„Hallo - Hallo, nicht so voreilig. Noch entscheiden wir, ob ein Freispruch schuldangemessen ist oder ob es zu einer Sicherungsverwahrung kommt oder eben zu irgendwas dazwischen.“, beschwerte sich Richter Jörgensen, der seine gerichtlich Justiziare Vormachtstellung in Gefahr sah.
Frau S. ging auf den Vorwurf der, die Urteilskraft des Richtergremiums außer Kraft setzen zu wollen, nicht weiter ein. Gerade hatte sie sich wieder warmgeredet und nun galt es sicherzustellen, die Temperatur nicht wieder abkühlen zu lassen.
„Ihr, die ihr gegen mich seid und für eine Einkerkerung meiner Person plädiert, höret. Höret, was ich euch verkünde und so euer vorgefertigtes Meinungsbild ins Wanken zu bringen gedenke. Man soll bekanntlich nie den Tag vor dem Abend loben!“
Einen Versuch, sich mit einem Einspruch wieder ins Spiel zu bringen, von Seiten der Staatsanwaltschaft, den wischte Frau S. mit einem Handschlag weg. Jetzt, da sie so richtig in fahrt war, als ginge es um ihr Leben, da duldete sie keine Zwischenrufe.
„Schweiget ihr Ungläubigen. Dass was ich sage, ist wahr und unumstößlich. Nichts erdichtet. Nichts, was der Phantasie eines kranken Geistes entsprungen ist.“
Vor dem Fenster begannen die Claqueure, die sich in ungehöriger Weise bereits, wie es gute opportunistische Tradition ist, hemmungslos anbiedernd auf ihre Seite geschlagen hatten. Mit ihrem rhythmischen Händeklatschen und fußtechnischem Aufstampfen, erzeugten sie einen Beat, der nun erst recht Frau S. anpeitschte. Sofort nahm sie, dank ihrer Musikalität, den Rhythmus in sich auf und synchronisierte ihn mit den Worten, die sie fand. Durch diese Fügung des Schicksals wurde erst das große Potenzial sichtbar, was Frau S. in sich trug und könnte noch zu einer großen Schlagerkarriere führen, wie manche ihr bereits prophezeiten.
„Bei meinen Bemühungen, den Ehemann an den Frühstückstisch zu bewegen, mit sanften Worten, hatte ich noch, von mir vollkommen verdrängt, das Brötchenaufschneidemesser in der rechten und ein angeschnittenes Brötchen in der linken Hand. Doch war mein Focus voll auf meinen Mann gerichtet, der sich langsam erhob aus seinem Ohrensessel und auf mich zustrebte. An dieser Stelle der Ereignisse muss ich jedoch einen Sprung in der Zeit zurückgehen, da sie für die folgenden dramatischen Entwicklungen unverzichtbar sind.“
Bis auf ein lautes Stöhnen des Richters Jörgensen, war es totenstill. Er hatte bereits den Kopf in seine stützenden Hände gelegt, wohlwissend, es könnte noch eine lange Nacht werden.
„Es war ein sonniger Frühsommertag, in unserer noch jungen Ehe. Gerade einmal zwei Wochen geehelicht, als wir einen kleinen Ausflug unternahmen. Zwar taten wir dies auch schon vorher, doch nie gemeinsam, um unsere junge Ehe nicht zu gefährden. Diesmal gingen wir das Wagnis ein und wie zu befürchten, lief es zunächst suboptimal. Hand in Hand gingen wir nebeneinander, ohne Hoffnung zu haben, unser Ziel je zu erreichen, der Sonne entgegen. Plötzlich und ganz unvermittelt, begann mein Mann einen Streit vom Zaun zu brechen, der unsere Ehe stark gefährdete. „Du hast mich nicht mehr lieb.“, rief er plötzlich und blieb abrupt stehen. Sie können sich sicher meine Empörung vorstellen, denn niemals hatte ich so etwas anklingen lassen. „Wie kommst du auf diesen ungeheuerlichen Vorwurf, der durch nichts einer Überprüfung standhält?“, ließ ich ihn wissen und dachte gar nicht daran ihn dabei anzusehen. Viel zu sehr war ich persönlich gekränkt. „Weil du mich nicht anschaust, während wir hier so harmonisch schlendern.“ „Aber lieber Mann, doch nicht aus Ignoranz zu dir, sondern nur um nicht mit einem entgegnkommenden Baum zu kollidieren, wenn ich nicht geradeaus schaue. Die Natur hat es vorgesehen, dass der Mensch beim Gehen nach vorne und nicht zur Seite schaut.“ Doch diese von mir aufgebrachte wissenschaftlich fundierte These, konnte ihn nicht umstimmen und so wiederholte er seine Anklage erneut, angereichert mit Schmerz und Trauer. „Du hast mich nicht mehr lieb.“ Ich war verzweifelt, denn eine praktikable Lösung für sein Problem sah ich nicht. Wir blieben eine Weile stehen und jeder starrte vor sich hin. Unsere Blicke trafen sich derweil nicht, wenngleich dies nun möglich gewesen wäre, denn im Stehen ist die Gefahr gegen einen Baum zu laufen, sehr gering.
Seit Beginn unserer Ehe, vor nun vierzehn Tagen, stand diese vor einem Scherbenhaufen. Wir waren beide bestürzt von dieser Entwicklung, hatten wir uns doch zum Ziel gesetzt, wenigstens die goldene Hochzeit gemeinsam erreichen zu wollen. Nun stand der bereits festverplante Termin auf der Kippe. „Wir dürfen uns nie wieder aus den Augen verlieren.“, beschwor mich mein Nochehemann. Ich sagte ihm meine volle solidarische Unterstützung zu, ohne zu ahnen, welch wahnwitzigen Vorschlag er machen würde, nur um unsere kaputte Ehe zu retten. „Wir müssen einen Weg finden, wenn wir miteinander unterwegs sind, wie sich unsere Augen nicht trennen müssen. Dich nicht zu sehen, ist für mich unerträglich.“, erklärte er mir. Ich nahm es als eine der schönsten Liebeserklärungen an, die ich jemals erhielt. Dann weinten wir beide, was uns wieder näher zueinander brachte. Viele andere Liebespaare kamen an uns vorbei, die auch das gleiche Problem mit sich führten, denn auch sie sahen sich nicht an, doch nahmen sie scheinbar davon keine Notiz. Diese Gleichgültigkeit machte mich wütend und ich flehte meinen Mann an, „Lass uns so nicht enden, wie diese vielen anderen, die an uns vorbeilaufen.“ Und jetzt begann mein Mann, noch angestrengter als ohnehin schon, sich in die Problematik einzudenken. Eine Stunde lang verharrten wir so, ohne da sich eine Erfolgsmeldung bei ihm einstellte. Dann, als ich nicht mehr zu hoffen wagte, ließ er einen Jubelschrei los, der mir in Mark und Bein ging. „Wir sind gerettet mein Liebling.“, rief er und ich hatte mich so erschreckt, dass ich ihn plötzlich ansah. Auch er nahm meinen Blick auf. Es war ein langer intensiver Blick tief in unserer, gegenseitiger Pupillen. Innige Liebe durchflutete unsere Körper. Dann, nachdem wir uns so intensiv betrachtet hatten, erläuterte er mir seinen Lösungsansatz, der auf breite Zustimmung bei mir traf. „Einer von uns muss rückwärts laufen, dann und nur dann, verlieren wir uns nie mehr aus den Augen.“
Genau solche tolldreisten Ideen waren es, für die ich ihn so sehr liebte.“
An dieser Stelle brach Frau S. die Stimme. Es war aber auch der ergreifendste Moment des ganzen Prozesses. Niemand, der auch nur ansatzweise ein funktionierendes Herz besaß, konnte das Gehörte kaltlassen. Literweise wurde allenthalben Tränen vergossen. Hier stand eine Frau unter Anklage, die so beispielhaft für ihre Ehe kämpfte. Der Staatsanwalt, bewusst gegen die Prozessordnung handelt, konnte nicht anders als vor den Richtertisch zu treten und den armen Mann dahinter fest in den Arm zu nehmen und zu trösten. Richter Jörgensen war vollkommen aufgelöst und von seinen Schöffen war keine Unterstützung zu bekommen, da sie der Ansicht waren, es nicht zusätzlich finanziell abgegolten zu bekommen.
Als sich Richter Jörgensen wieder einigermaßen gefasst hatte, stellte er die entscheidende Frage, die dem Prozess eine neue Wendung geben sollte.
„Und haben Sie diesen wagemutigen unkonventionellen Plan in die Tat umgesetzt?“
Frau S. nickte nur. Das Sprechen war ihr noch nicht möglich. Gegen Abend, die Sonne hatte schon den Heimweg angetreten, fand sie ihre Stimme wieder.
„Ja!“, sagte sie leise, was allgemein als verbale Bestätigung ihres Nicken gewertet wurde, was sie vor Stunden, unter größter Anstrengung vollzogen hatte.
„Wenn es Ihnen wieder möglich ist, so fahren sie bitte fort. Aber lassen sie sich nicht drängen.“, sagte Richter Jörgensen, die Sanftmut in Person.
„Danke euer Ehren für ihr Verständnis. Ich glaube, es geht langsam wieder.“
Diese positive Nachricht ging wie ein Lauffeuer rum und ein jeder wischte sich die Tränen aus den Augen.
Dann fuhr sie, auf einer Welle der Sympathie surfend, fort.
„Mein Mann, dieses von mir so geliebte Wesen, im Bewusstsein, ja der Mann im Hause zu sein, bot sich an, den schweren Part des Rückwärtsläufers anzunehmen. Fortan tat er dies, wo immer wir beieinander waren und so verloren wir uns nicht mehr aus den Augen. All dies tat er nur aus Liebe zu mir, die bis in den Tod andauerte. Nun kehre ich wieder zu dem Tag seines Ablebens zurück, der mich zu einer sehr einsamen Frau machte.“
Vor dem Fenster nahmen sich wildfremde Menschen in den Arm. Das Gefühl der Liebe durchströmte ihre Körper, wenn auch nur für kurze Zeit, den Frau S. war noch nicht am Ende. Es fehlte ja noch das Ende ihres Mannes, was sie zur unumkehrbaren Witwe degradieren sollte.
„Mit der Zeit wurde das Rückwärtslaufen zu einer Manie bei ihm. Anfangs tat er es nur in meinem Beisein. Später lief er nur noch so, denn er fand heraus, diese Art der Fortbewegung schone seine Absätze und wäre eine Entastung unserer Haushaltskasse. Dann suchte er sich gleichgesinnte, indem er eine Selbsthilfegruppe gründete. Organisierte sogar sportliche Wettkämpfe. Er wurde deutscher Vizemeister im Rückwärtsmarathon und belegte den vierten Platz in der Rückwärtsstaffel beim 4 x 400 Meter Lauf. Pokal an Pokal, Urkunde an Urkunde, Medaille an Medaille fanden Einzug in unser Schlafzimmer. Im Nachhinein würde ich all dies eintauschen, wenn ich dafür meinen Mann wiederbekommen könnte.“
„Ich denke, dieser Wunsch wird nicht mehr in Erfüllung gehen, wenn ich dem gerichtsmedizinischen Obduktionsbericht Glauben schenken darf.“
Damit raubte Richter Jörgensen ihr brutalmöglichst jegliche Illusion, es würde sich doch noch alles wieder zum Guten wenden.
„Ich weiß.“, gab sie zu, „doch in der Erinnerung lebt er für mich weiter.“
Für diesen über den Tod hinaus währenden Liebesbeweis erhielt sie lang anhaltenden Applaus, für den sie sich artig bedankte.
„Irgendwann“, fuhr Frau S. fort, „lief er nur noch rückwärts. So auch an jenem Tag, als ich ihn zum Frühstück einlud. Dabei übersah er offenbar das Brötchenaufschneidmesser, welches sich unglücklicherweise in sein Schulterblatt eindrückte. Taumelnd ging er noch zwei drei Schritte, erstaunlicherweise zum ersten mal seit langem wieder vorwärts, nahm in seinem geliebten Ohrensessel Platz, fiel vornüber, wobei sich das Brötchenmesser, weil es sich ja noch in meiner Hand befand, sich wieder herauslöste. Dann folgte ein Hilfeschrei, der ja erst die Nachbarschaft alarmierte, die dann die ganze Sache erst ins Rollen brachten, durch den Anruf bei der Polizei. Währenddessen verstummte mein Mann, infolge seines Todes. Dies ist die Wahrheit, die ganze Wahrheit, so wahr ich hier sitze.“
Damit beendete Frau S. ihre Schilderungen der Ereignisse, so wie sie sich zugetragen haben.
Der Urteilsspruch ließ nicht lange auf sich warten.
„Wir bedauern die Umstände, bei denen Sie zur Witwe wurden. Ich darf Ihnen jedoch mitteilen, dass wir ihren Ausführungen folgend, Sie freisprechen und wünschen allgemein noch einen schönen Abend. Die Sitzung ist geschlossen.“
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