Der Mensch hat einen freien Willen – oder? Ich bin davon überzeugt worden, dass das ein Mythos ist - und ich profitiere von dieser Annahme sehr.
Ich bin seit der Lektüre von „Free Will“ (Sam Harris) davon überzeugt, dass der Mensch keinen freien Willen hat – jedenfalls keinen ich-hätte-mich-jederzeit-anders-entscheiden-können-Willen, der üblicherweise gemeint ist.
Die aus meiner Sicht überzeugendsten Argumente werde ich in einer längeren Version dieses Textes auf meinem Blog darlegen.
Für den Moment möchte ich mich mit zwei Andeutungen begnügen:
Ursachen menschlichen Verhaltens
All unser Handeln ist auf das Zusammenwirken verschiedener Faktoren zurückzuführen:
- Biologie bzw. Genetik
- Umwelteinflüsse
- Psychologie und soziologische Prägung
- Umstände der einzelnen Situation
Die relevante Einsicht für das Thema Willensfreiheit ist: Auf keinen dieser Faktoren – egal ob auf angeborene Neigungen, unsere charakterlichen Eigenschaften, unsere Erziehung, den Einfluss unserer Freunde und Mentoren, prägende Erlebnisse oder konkrete Trigger in einer Einzelsituation – haben wir bewussten Einfluss.
Das Ergebnis des Zusammenwirkens dieser Aspekte ist aber unser konkretes Verhalten.
Auf moralischer Ebene ist die Unkontrollierbarkeit all dieser Faktoren der entscheidende Punkt. Niemand von uns hat seine Eltern, sein Gehirn, Ort und Zeit seiner Geburt oder die Einflüsse seiner Kindheit gewählt.
Niemand kann beeinflussen, welche Lektionen und vermittelten Werte bis ins Erwachsenenalter hängen bleiben und welche nicht überzeugen konnten. Man wird einfach (nicht) überzeugt.
Niemand steuert, welche prägenden, vielleicht sogar traumatischen Erlebnisse ihn oder sie in welcher Weise beeinflussen.
An welcher Stelle der Kausalkette zwischen all diesen genannten (und noch weiteren) Faktoren und unserem konkreten Verhalten kommt der freie Wille ins Spiel?
Ich meine: Nirgends. Das Gefühl, im eigenen Kopf zu stecken und das eigene Verhalten zu lenken, ist eine nützliche Illusion. Aber tatsächlich werden wir eher Zeuge der eigenen Gedanken, Impulse und Emotionen – genau wie die Menschen um uns herum.
Probier‘ es aus
Mindestens genauso überzeugend wie die philosophischen Argumente kann das eigene Erleben sein.
Wer von sich weiß, dass er ein introvertierter, schüchterner Mensch ist, kann sich – als Beweis der eigenen Willensfreiheit – einfach mal dazu entschließen, morgen in eine Bar zu gehen und selbstbewusst ein paar fremde Menschen anzusprechen. Viel Erfolg 😉
Hier ein kleines Experiment mit weniger Nervenkitzel:
In diesem YouTube-Clip lädt Sam Harris dazu ein, in einer idealen Ausgangssituation – dem entspannten, wiederholten Auswählen einer Stadt – nach der Willensfreiheit zu suchen. Für wen die Sprachbarriere kein Hindernis darstellt, der kann gern mit suchen:
Die Debatte, ob der Wille des Menschen in relevantem Ausmaß frei oder unfrei ist, dauert schon lange an und wird garantiert nicht durch mich beendet.
Aber nehmen wir doch für einen Moment an, es gäbe den freien Willen nicht.
Wäre das so schlimm?
Ich kann zumindest berichten, dass sich mein Leben in einiger Hinsicht deutlich zum Besseren verändert hat, nachdem ich von der Unfreiheit des Willens überzeugt wurde:
Frei von Groll
Wenn unsere Handlungen und Entscheidungen durch Vorgänge verursacht werden, die man überhaupt nicht kontrollieren kann, kann man sie folglich auch niemandem vorwerfen. Das ändert etwas an unserer moralischen Intuition: Überspitzt ausgedrückt ist menschliches Verhalten mit negativen Konsequenzen dann eher eine Naturkatastrophe als alles andere.
Für mich selbst hatte diese Einsicht den Effekt, dass ich sowohl mir selbst als auch anderen Menschen Fehler sehr viel leichter verzeihen kann. Tatsächlich ist es mir nicht mehr möglich, jemandem einen früheren Fehltritt länger als ein paar Minuten lang übel zu nehmen.
Dabei soll die Unfreiheit des Willens keine Blanko-Vollmacht für Fehlverhalten sein. Unsere Handlungen haben immer noch Konsequenzen, und es macht immer noch einen gewaltigen Unterschied, zu welchem Verhalten wir uns entschließen.
Aber jeder von uns macht Fehler, und oft sind uns diese im Nachhinein genauso schwer erklärlich wie allen anderen Menschen um uns herum.
Man kann mit viel Empathie und Nachsicht auf Fehltritte von sich oder anderen blicken und zugleich daran arbeiten bzw. jemandem abverlangen, dass derartiges Verhalten nicht nochmal vorkommt.
Frei von Hass
Wenn das Verhalten von Menschen auf Faktoren zurückzuführen ist, die niemand verschuldet hat, dann macht Hass schlicht keinen Sinn mehr. Was auch immer man an einer Person verabscheuungswürdig oder verachtenswert findet: Derjenige kann nichts dafür.
In diesem Lichte betrachtet macht es genauso viel Sinn, jemanden für seine politische Haltung oder einen schweren Fehler zu hassen wie für dessen Haarfarbe oder Schuhgröße.
Frei zur Weiterentwicklung
Beginnt man, sich mit der möglichen Unfreiheit des menschlichen Willens auseinander zu setzen, stolpert man oft über die intuitive Befürchtung, Menschen seien doch dann nur „biologische Roboter“ und jeder von uns sei dazu verdammt, nichts an den Faktoren ändern zu können, die das Verhalten steuern.
Das ist ein Irrtum – wenn auch ein verständlicher.
Tatsächlich ist es erst die Unfreiheit des Willens, die sowas wie Berechenbarkeit oder nachhaltige Verhaltensänderungen – z.B. im Rahmen einer Psychotherapie – erst möglich macht.
Menschliches Verhalten ist eben nicht völlig zufällig und chaotisch, sondern folgt Mustern und wird vorhersagbar durch bestimmte Einflussgrößen gelenkt.
Fehler geben uns zu denken. Irrtümer sind uns peinlich. Angerichteter Schaden lässt uns das gezeigte Verhalten überdenken. Vorbilder und Idole motivieren uns. Erfolge geben uns Schwung.
Menschen können ihr Verhalten ändern – zum Teil sogar dramatisch. Wir können uns von Denkmustern oder Verhaltensweisen befreien, die uns zurückhalten. Wir können darüber nachdenken, wer oder wie wir sein wollen, und uns in diese Richtung entwickeln.
Gerade dadurch, dass der Wille des Menschen nicht frei ist, sondern gelenkten Bahnen folgt, ist der Mensch in relevanter Hinsicht frei.
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