Ruprecht Polenz


Freiheit ist anstrengend

„Bautzener Rede“, gehalten am 19.01.2024 im Dom St. Petri zu Bautzen

(Redigierte Tonband-Abschrift)



Sehr  geehrter  Herr Pastor Thiede,


dass  ich heute hier in  ihrer  Kirche  sprechen darf, ist  eine  grosse  Ehre für mich.  Vielen  Dank  auch an die  Initiative  „Bautzen  gemeinsam“,  die  mich eingeladen hat.  Und  natürlich  vielen  Dank  an  Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, die heute Abend in den Dom gekommen sind.  Sie  frieren  genauso wie  ich. Also sehen Sie mir  bitte  nach,  dass  ich  meinen  Mantel  anbehalte. Denn hier vorne ist  noch  weniger  geheizt  als  in  ihren  Bänken.


Herr Thiede hat  es  gerade  gesagt: Es  ist  für  mich heute so etwas,  wie  eine Rückkehr  in  meine alte Heimat.


Mein  Großvater  ist  im  Großpostwitz begraben.  Meine  Eltern  haben  in  Göda gelebt,  und  ich  bin  in meinen ersten sechs Lebensjahren immer zwischen meinen  Grosseltern  auf  dem Hof Denkwitz  und  meinen  Eltern  in  Göda hin und her gependelt.

In  den  Westen  geflohen  sind wir 1952, weil  meine  Mutter  nicht wollte,  dass ich  hier  in  der  DDR  eingeschult  würde.


Ich  war  natürlich  zwischendurch  auch  schon  wieder  hier,  konnte  aber zuerst lange  Zeit  nicht  in  die  DDR  fahren. Mein  Vater war  1956  zur  Bundeswehr gegangen und  in  der  Zeit, in der er aktiver  Soldat  war,  durfte  seine  Familie nicht  in  die  DDR reisen. Deshalb kam ich  erst  1987 wieder hierher,  zusammen mit  meiner  Mutter, nachdem  mein  Vater  gestorben  war.


Ich  habe in  meiner  politischen  Arbeit  eine ganze  Menge  Reden  gehalten, manche an ganz  besonderen Orten,  die  ich  deshalb  auch  nicht vergesse. Wer  mal  die  Ehre  hatte,  in  dem Hörsaal in  Zürich  zu  sprechen,  in  dem  Churchill  1946  seine  berühmte Europarede  gehalten  hat,  oder  wer  mal  in  der  Dresdner  Frauenkirche   sprechen durfte, der vergisst  das  nicht.


Aber  dieser  Dom, in dem ich heute sprechen darf, ist  mindestens  genau so wichtig  für  mich.  Ich  hätte, wenn  ich so  zurückschaue,  mir nie vorstellen können,  dass  ich  mal  hier  in  Bautzen  so  prominent  vor  ihnen  reden  darf.


Heute  ist  Münster  meine Heimat. Seit  über  50  Jahren  leben  wir  in  dieser schönen  Stadt. Wenn  sie  mal  in  die  Gegend  kommen, müssen sie sich Münster unbedingt anschauen.


Ich fühle mich inzwischen als Münsteraner. Aber ich  bin  kein  Westfale  geworden,  ich  bin  schon  Sachse  geblieben. Wenn  mich  die  Menschen  fragen, ob  ich Münsteraner sei, sage  ich  ja. Wir  leben  seit  über 50  Jahren  in Münster. Unsere vier Kinder sind in Münster geboren.  Aber  ich  bin  eigentlich  kein  Westfale. Ich  bin Sachse. Wenn ich das so sage, staunen die  immer und  sagen,  du  sprichst doch gar  nicht  so. Ich erkläre dann, warum  ich  mir  diesen  schönen, von jedem überall  erkannten,  sächsischen Dialekt  nicht  angewöhnt  habe.


Ich habe darüber etwas ausführlicher gesprochen,  weil  ich  mich  noch  gut  an meine  Gefühle  erinnern  kann, als 1989 die  grossen  Demonstrationen  in  Leipzig  waren  und  anderswo,  und  ich  gedacht  habe,  in  Sachsen  geht  das  los.


Man  wusste  ja nicht, wie  es  enden  würde. Ich habe mit gehofft und mit gezittert. Es  stand  ja  auch  mehrfach,  wie  man  dann  später  nachlesen konnte,  Spitz auf Knopf.


Sie  haben  sich  die  Demokratie  erkämpft. Das  ist  in  der  deutschen  Geschichte  ziemlich  einmalig.  Und  ich  kann  mir vorstellen:  das  hat  viel  Mut  gekostet.


Im  Nachhinein  weiss  man,  wie es ausging. Aber  als  es mit den Demonstrationen  losging,  wusste  man  das  nicht. Es  hätte  auch  ganz  anders  ausgehen  können. Ich  weiss  aus  Berichten und aus  Erzählungen - ich  habe  auch  viele  Bürgerrechtlerinnen  und  Bürgerrechtler  getroffen -  dass  das  Schreckensbild  vom Platz des himmlischen Friedens in Peking durchaus  eine  Rolle  in  den  Sorgen  gespielt  hat,  die  man  sich gemacht  hat, wenn  man  hier  auf  die  Strasse  gegangen  ist.


Ich  habe  mich  manchmal gefragt,  wie  wäre  wohl  mein  eigenes  Leben verlaufen,  wenn  meine  Eltern  sich  damals  nicht entschieden  hätten, in den Westen zu fliehen. Ich wäre wahrscheinlich hier  in Bautzen  in  die  Schule gegangen. Man  weiss  das nicht,  wenn  man  sich fragt:  wie  wäre  das  Leben verlaufen,  wenn meine Familie  nicht  in  den  Westen  geflohen  wäre.


Aber  ich  hoffe  natürlich,  dass  ich  1989  den  Mut  gehabt hätte, mit auf die Straße zu gehen.

Anders als hier in der DDR wurde die  Demokratie in Westdeutschland nicht erkämpft.


Wenn  die  Alliierten  im  August  1945  gesagt  hätten,  "mission accomplished" - Ziel erreicht, wir gehen wieder  nach  Hause, wenn die Alliierten im August 1945 Westdeutschland sich selbst überlassen hätten, dann wären wir die Nazis nicht losgeworden. Das ist meine feste Überzeugung.

Die Nazis hatten  die Gesellschaft zwölf Jahre lang gleichgeschaltet. Die Nazis waren noch organisiert und hatten die Machtmittel. Man  sieht  ja  auch  an  anderen  Ländern,  wie  schwer  es  ist,  nach  einer  Diktatur  zu  demokratischen  Verhältnissen  zu  kommen.


Natürlich  bin  ich stolz  auf  das  Grundgesetz, das sich Westdeutschland 1949 als Verfassung gegeben hat. Eine  tolle  Verfassung. Die beste, die Deutschland je hatte.


Ich  bin  stolz  auf  das,  was  seit  1945  erreicht  werden  konnte.  Und  ich  bin auch  besonders  froh  und  glücklich,  dass  wir  alles das,  was  wir  in Deutschland  erreichen wollen,  seit  1990  gemeinsam  erreichen  können.


Sie  haben  es vorhin gehört.  Ich  diskutiere  viel  in  Social  Media,  auf  "X" (also früher  Twitter),  Facebook  und  anderen Plattformen.  Da bekommt  man  natürlich mit,  dass  doch  ziemlich  viele  das  ganz  anders  sehen.  Die  schimpfen  und klagen  und  finden alles schrecklich und ganz schlimm.


Wenn  ich  mich auf  eine solche  Diskussion  einlasse, frage  ich  in  der  Regel: Jetzt  sag  mir  doch  mal zehn  Länder,  wo  du  lieber  leben  würdest  als  in  Deutschland, zehn  von  200, die es auf der  Welt  gibt. Entweder  wird dann gar nicht geantwortet, oder  es werden die  skandinavischen  Länder oder die  Schweiz genannt. Aber  zehn Länder, in denen man besser leben könnte, als in Deutschland, bekommen die wenigsten  zusammen.


Es  gibt ja auch Untersuchungen, die  die  Länder  auf  der  Welt  miteinander vergleichen im Hinblick auf Sicherheit, Stabilität, Wohlstand und Freiheit. In der jüngsten, die ich gelesen habe, stand Deutschland  auf  Platz  16  von  163 untersuchten Ländern.

Vielleicht haben Sie sich beim  Verreisen mal gefragt, woher es kommt,  dass  wir mit  unserem  Reisepass  ohne  Visum  in  fast  alle  Länder  reisen  können.  Das kann man mit kaum einem anderen Pass. Von allen  Reisepässen  der  Welt  ist der  Deutsche so ziemlich  der  stärkste,  wenn es um die Möglichkeiten geht, ohne Visum in  andere  Länder  dieser  Welt  zu reisen.


Das  hat einen einfachen  Grund.  Alle  Länder,  in  die  wir  mit  unserem Reisepass  wollen,  sind sich  ganz  sicher,  dass  wir  auch  wieder  nach  Hause fahren. Sie wissen, dass keiner das  Gefühl  hat,  in Deutschland kann  ich  es  eigentlich  nicht  mehr aushalten. Ich würde lieber irgendwo  anders leben und bleibe einfach im Ausland.


Das  ist  der  Grund,  weshalb  unser  Reisepass so  stark  ist, und  weshalb  uns andere  Länder  nicht  über  ein  Visum  kontrollieren  wollen. Weil wir wieder nach Hause  fahren.


Das  war  ja  nicht  immer  in  der deutschen  Geschichte  so. Wir  müssen  nur  an die  Zeit  vor  1945  denken. Da wollten Menschen nicht nach Deutschland rein, sondern aus Deutschland raus. Da sind  diejenigen,  die  aus  Deutschland  raus wollten  und  es  geschafft  haben, natürlich  mit der  Absicht verreist, nicht  wieder  nach  Deutschland zurückzukehren, weil es dort so schrecklich war.


Jetzt  haben  wir  die  Situation,  dass  viele  Menschen  nach  Deutschland wollen.  Migration stellt unser Land vor Probleme. Aber es  war  viel  schlimmer  in  der Zeit meiner  Eltern und meiner Grosseltern in Deutschland zu leben, wo  viele Menschen  aus  Deutschland  weg  wollten.


Und  damit  bin  ich mitten in unserem  Thema. Denn unsere  gemeinsame Demokratie ist  die  Antwort  auf  die zentrale  Frage: Wie wollen  wir  unser Gemeinwesen  zum Wohl  aller  organisieren?

Was  ist eigentlich  Demokratie?  Das klingt wie eine  banale  Frage. Doch schon  auf  den  zweiten Blick sieht es komplizierter aus.


Großbritannien ist zweifellos eine Demokratie, noch dazu eine der ältesten. Aber auch Nordkorea nennt sich Demokratie. Zwar Volksdemokratie, aber  auf den Demokratiebegriff  will  auch  Nordkorea  nicht  verzichten.


Man muss also doch genauer hinsehen.


Wenn  man  fragt: „Was  ist  Demokratie?“, dann ist die erste Antwort meist: Demokratie ist Volksherrschaft.


Aber ich  sage  Ihnen,  Demokratie  ist  nicht  einfach  Volksherrschaft.


Die  Nazis  haben  gesagt: „Ein  Volk,  ein  Reich,  ein  Führer“. Die  Nazis  haben sich  auch  darauf  berufen,  dass  das  Volk  herrsche, natürlich  durch  den Führer, der wisse, was das Beste für das deutsche Volk sei.


Auch  die  SED  hat  beansprucht,  Volksherrschaft  auszuüben. Die SED hat immer proklamiert, in  der  DDR herrsche das  Volk. Aber  eben durch die Partei der Arbeiterklasse.


Auch  Putin  sagt,  natürlich  herrscht  in  Russland  das  Volk,  aber  eben  durch mich.


Es  ist  also  nicht  so  einfach  zu  sagen,  Demokratie sei  Volksherrschaft. Es muss  schon  noch  etwas  anderes  dazukommen, damit wir von einer Demokratie sprechen können.  Wir  kommen gleich darauf zurück-

Die zweite  Antwort auf die Frage,  was  ist  Demokratie: Die  Mehrheit entscheidet.  Stimmt. Aber  auch diese Antwort  ist  nicht vollständig. Denn die  Mehrheit  kann in der Demokratie nicht einfach beschließen, was sie will. Es gibt Grundrechte für alle und Rechte von Minderheiten, die die  Mehrheit  nicht  einfach  ausser  Kraft setzen  darf. Demokratie  heisst nicht  nur  "die Mehrheit  entscheidet". Demokratie  heisst auch, Minderheiten zu schützen.


Die  Qualität  einer  Gesellschaft  bemisst  sich  danach,  wie  sie  mit  ihren Minderheiten  umgeht.  Das  macht  die  Qualität  einer  Gesellschaft  aus.

Die  Mehrheit  kann  nicht  einfach  beschliessen:  In  Münster darf  keine Moschee gebaut werden. Das würde  gegen  Artikel  4 des  Grundgesetzes  verstossen, der die Religionsfreiheit aller Religionen schützt..


Demokratie  ist für mich vor allem Kontrolle  von Herrschaft. Demokratie ist Kontrolle  von  Herrschaft. Deshalb ist Demokratie erkämpft worden, zuerst gegen Könige und Fürsten, später gegen Diktaturen.


Die Magna Charta Libertatum, der große Freiheitsbrief von 1215, soll herrschaftliche Willkür beschränken, genauso wie die Habeas Corpus Akte von 1679, die vor Verhaftung ohne richterlichen Beschluss schützen sollte.


Da  Macht  immer die Gefahr von Machtmissbrauch in sich birgt, geht es darum, die Macht zu kontrollieren. Deshalb Gewaltenteilung: Exekutive - Legislative - Judikative. Regierung - Parlament und Opposition - Gerichte. Als vierte Gewalt kommen freie Presse und Medien dazu.


Das  Grundgesetz  hat aus  dem  Machtmissbrauch  des  dritten Reiches  und  aus  dem  Scheitern  der  Weimarer  Republik  die  richtigen Konsequenzen gezogen.


Die wichtigste Konsequenz steht gleich in Artikel 1 GG: Die  Würde  des  Menschen  ist  unantastbar.


Da  fehlt  ein  Wort, das  aber  mitgedacht und besonders  wichtig  ist. Die Würde aller  Menschen  ist  unantastbar.  Egal,  ob  sie  dunkle  Hautfarbe  haben  oder helle.  Egal,  ob  sie  alt  sind  oder  jung  und  auch  egal,  wie  lange  sie  schon  in  Deutschland  sind und aus welchen Gründen.


Die unantastbare Menschenwürde ist ein Menschenrecht, nicht  nur  ein Grundrecht  für  Deutsche.  Die  Würde  aller  Menschen  ist  unantastbar.


Und  dann  hat  das  Grundgesetz  die  Demokratie  als  Parlamentarische Demokratie  gestaltet.  Repräsentativ.  Parlamentarisch.

Das  heisst, dass  Abgeordnete, die in freien und geheimen Wahlen gewählt wurden, den  Willen  des  Volkes  repräsentieren.


Eine Parlamentarische Demokratie ist ohne unterschiedliche politische Parteien nicht denkbar. Man  wählt  Menschen,  die  Parteien  angehören.


Es ist wichtig, sich die Unersetzbarkeit politischer Parteien für unsere Demokratie klar zu machen. Bei aller berechtigten Kritik an ihrem Personal oder ihrer Politik dürfen wir diese Bedeutung der politischen Parteien nicht vergessen.


„Politik  ist  ein  schmutziges  Geschäft.“ Jeder kennt diesen Satz. Parteipolitik  ist dann  noch  der Steigerungsfall. Wir sollten mit solchen Behauptungen vorsichtig sein, denn politische Parteien  sind für das  Funktionieren  einer Parlamentarischen  Demokratie unerlässlich. Ihre Aufgaben, an der politischen Willensbildung der Bevölkerung mitzuwirken, können sie  nur  dann  bewältigen,  wenn  es tüchtige  Menschen  gibt,  die sich in Parteien engagieren.


Ein  dritter Punkt,  den  das  Grundgesetz  auch  ganz  besonders  wichtig  nimmt aus  den  Erfahrungen  der  Weimarer Republik und der Nazi- Zeit,  betrifft  die freie  Presse. Denn ohne  dass  sich  die  Menschen  frei  informieren  können, ohne dass  sie  aus  unterschiedlichen  Informationsquellen  ihre  eigenen Anschauungen  der  Dinge finden  können,  kann eine  Demokratie  nicht bestehen.


Ich sagte  vorhin:  ohne  die  Alliierten  wären wir  die  Nazis  nicht  losgeworden. Ohne  die  Alliierten, in  diesem  Fall die  Briten, hätten  wir keinen öffentlich-rechtlichen  Rundfunk. Unser öffentlich-rechtlicher Rundfunk ist  dem BBC-Modell  nachempfunden, als die  unmittelbare  Antwort auf Goebbels. Auf seine  Propaganda und den Missbrauch des Rundfunks.


Pressefreiheit heißt,  dass  die  Presse frei  sein  muss  von  staatlicher  Zensur und  staatlichem Einfluss. Und  sie  muss frei  sein  von Kapitalinteressen.

Beides  zu gewährleisten, ist  nicht  ganz  einfach.


Der öffentlich-rechtlichen  Rundfunk wird deshalb nicht  durch  Steuern  finanziert, denn  dann  wäre  er  abhängig  von der  Finanzierung durch den  Staat. Sie  kennen den  Spruch: Wer  zahlt schafft  an!


Statt durch Steuern, deren Vergabe im einzelnen durch die Haushaltsgesetze geregelt wird, ist der  Rundfunk durch  Beiträge finanziert, die alle Haushalte bezahlen müssen. Die  Festsetzung  des  Beitrags  erfolgt durch  die  Landtage. Aber anders als beim Haushalt sind die  Landtage bei der Festsetzung des Rundfunkbeitrags nicht  völlig  frei. Sie  müssen  die  Rundfunkanstalten nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts so ausstatten,  dass  sie  ihren verfassungsmässigen  Auftrag  erfüllen  können.


Die  Aufsicht  über  den  Rundfunk  hat  auch  kein  Minister und auch keine Regierung,  sondern der Rundfunkrat. Die  Mitglieder  dieses  Rundfunkrates werden  auch  nicht  vom  Staat  ausgesucht,  sondern von gesetzlich bestimmten,  wichtigen  gesellschaftliche  Gruppen  entsandt: von den Kirchen, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden,  Umweltverbänden, Verbraucherschutzorganisation  usw..


Schauen  Sie  sich  einmal  im  Internet  an,  welche  gesellschaftlichen  Gruppen  Vertreterinnen oder Vertreter in den  ZDF-Fernsehrat schicken, die dann  die  Aufsicht darüber  haben,  ob  der  öffentlich-rechtliche  Rundfunk seinen gesetzlich definierten  Programmauftrag  erfüllt,  oder  nicht.


Ich  habe  das  aus  zwei  Gründen  ein  bisschen  ausführlicher  erklärt. Zum einen  war ich  14  Jahre  Vorsitzender  des  ZDF-Fernsehrats. Zum  anderen bekomme ich  natürlich die  Diskussionen  mit,  die derzeit um  den  öffentlich-rechtlichen Rundfunk  geführt  werden.


Es  ist  aus  meiner  Sicht kein Zufall, wer die Abschaffung  des  öffentlich-rechtlichen Rundfunks fordert. Ganz vorneweg die AfD. Rechtsextremisten ist Pressefreiheit ein Dorn im Auge. Ihnen schweben Propagandastrukturen vor, gegen die ein unabhängiger öffentlich-rechtlicher Rundfunk als Bollwerk wirkt.


Demokratie ist Volksherrschaft - das  fällt zu  Demokratie als erstes ein. Und das ist ja auch  richtig.  Aber  ganz  wichtig  ist,  dass  wir  dabei  festhalten: Das  Volk ist  verschieden.


Das Volk ist verschieden, weil wir  Menschen  alle  unterschiedlich  sind.


Ich  habe mal  gelesen,  es  gibt  unter  den 8  Milliarden  Menschen  keine zwei, die  genau  die  gleiche  DNA haben. Und  wenn  wir  uns  hier in der Kirche umschauen,  sehen  wir  natürlich  auch,  dass  wir alle unterschiedlich  sind.


Das  gilt  auch  für  das  Volk, das ganz  unterschiedliche  Interessen hat. Ãltere haben  andere  Interessen  als  Jüngere.  Frauen  haben  vielleicht  auch mal andere  Interessen  als  Männer.  Und  auf  dem  Land  hat  man  vielleicht  andere Interessen  als  in  der  Stadt.  Arbeitnehmer  haben  andere  Interessen  als Arbeitgeber.


So  könnte  man  die Unterschiede ganz  breit  auffächern. Aber alle  gehören zum Volk.  Also,  das  Volk  ist  verschieden,  und  wenn  man  jetzt  Volksherrschaft organisieren  will,  muss  man  eben  sehen,  dass  die  unterschiedlichen Interessen,  die  es  in einem  Volk  gibt, alle  zu  einem  fairen  Ausgleich gebracht werden.


Damit  sind  wir  bei  Kompromissen,  die  geschlossen  werden  müssen,  dann sind  wir  bei  Verhandlungen,  dann  sind  wir  bei  Demonstrationen  für Interessen  und  so  weiter  und  so  weiter.


Das  ist  die  Stärke  der  Demokratie,  dass  sie  die  Interessen,  die  in  der Bevölkerung  vorhanden  sind, zu  einem  fairen  Ausgleich  bringen  kann  durch Kompromiss.


Was  das  Volk  will, kann nicht  vorher  festgestellt  werden durch  irgendeinen Führer,  der  sagt,  ich  weiss das  schon. Auch  nicht  durch  eine  Partei allein. Auch  nicht  durch  Meinungsumfragen. Demokratie ist etwas anderes als Demoskopie. Demokratische  Politik entscheidet mit Mehrheit.


Und  nun werden  Sie  sich  vielleicht  fragen,  ja  aber  wir  haben  doch  1989 gerufen: Wir  sind  das  Volk.  Das  ist  doch  der  Ruf,  der  uns  allen  auch  so viel  Kraft  gegeben  hat! Das  stimmt.


Aber  dieser  Ruf  hat  die  Volkssouveränität  geltend gemacht  gegen  die  SED-Diktatur. Der Ruf, wir  sind  das  Volk, sollte unmissverständlich deutlich machen: Ihr von der SED seid überhaupt  nicht  durch  uns  legitimiert.


Nicht  durch  Wahlen. Denn  die waren nicht frei und sie waren gefälscht. Das war offenkundig bei den  Kommunalwahlen  im  Mai 1989. Die gefälschten Wahlen waren einer der  Gründe,  weshalb im Herbst 1989 immer mehr Menschen auf  die  Strasse gingen.


Der Ruf  „Wir  sind  das  Volk“  hat  nicht  reklamiert, „wir  haben  alle die  gleichen Interessen“. Die Menschen haben damit kraftvoll zum Ausdruck gebracht: Wir üben  die  Souveränität  aus,  gegen  euch,  die ihr euch auf  uns  beruft,  ohne gewählt zu  sein.

Das  ist  der  grosse  Unterschied  zu  heute,  zu  PEGIDA  und  den sogenannten Montagsdemonstrationen und Mahnwachen.  Hier wenden  sich  die  Menschen mit  der Anmaßung „Wir  sind  das  Volk“ gegen  die  gewählten  Vertreter  des

Volkes, nicht  gegen  eine  Diktatur. Das ist ein  Riesenunterschied.


Man  behauptet,  wir  sind  das  Volk. Als seien die,  die ihre Abgeordneten gewählt  haben, alle irgendwie  geistig  umnachtet.  Insofern  ist  dieser  Ruf  bei diesen sogenannten  Montagsdemonstrationen „Wir  sind  das  Volk“  ein  Ruf gegen diejenigen,  die  als  Wählerinnen  und  Wähler  politische  Parteien  in ein Parlament  gewählt  haben,  mit  dem  Auftrag  die  Entscheidungen  per  Mehrheit für  das  Volk  zu  treffen. PEGIDA und Konsorten ziehen den Ruf „Wir sind das Volk“ in den Dreck ihrer Ideologie.


Heute macht dieser  Ruf nicht dem SED-Politbüro die Legitimation streitig, sondern  dem demokratisch gewählten Parlament. Das  ist  der entscheidende Unterschied,  auf  den ich  in  einem  kleinen  Exkurs ausdrücklich  hinweisen wollte, weil  mich diese Anmaßung, genauso wie Sie, sehr ärgert


Der Missbrauch des Satzes „Wir  sind  das  Volk“,  der 1989 eine  grosse, demokratische  Kraft entwickelt  hat, ist eine  blanke  Unverschämtheit.


Warum  entscheiden  wir  eigentlich  mit  Mehrheit?  Wir  sind alle  anfällig  für Irrtum. Im  Grundsatz,  im  Kleinen,  im  Grossen.


Das  muss  man  in  der in der politischen Ordnung berücksichtigen. In  den Anfängen wurde hier  in der  DDR gesungen: „Die  Partei,  die  Partei,  die hat immer  Recht!“ Entsprechend war der Staat organisiert.


Nein,  auch eine Partei  kann  irren,  und die SED hat kräftig geirrt.


Aus der grundsätzlichen Irrtumsmöglichkeit des Menschen müssen organisatorische  Konsequenzen  für  demokratische  Entscheidungsprozesse gezogen werden.


In  der  Politik  geht  es auch  nicht  um  Wahrheit. Über Wahrheit  kann  man  nicht  abstimmen. Sondern  in  der  Politik  geht  es  darum,  was  geschehen  soll. Deshalb entscheiden wir mit Mehrheit. Wenigstens  die  Mehrheit soll mit der Entscheidung  einverstanden  sein.


Vielleicht  würde  es  unseren  Diskussionen ganz  gut  tun,  wenn  wir uns selber wieder  klarmachten:  Wir  können  auch  schiefliegen.  Wir  könnten  uns  auch irren.  Der  andere  könnte  auch  ein  bisschen  Recht  haben.


Mit  anderen  Worten: Statt Recht  haben  zu  wollen, könnten wir  uns  darauf konzentrieren, Irrtümer  zu  vermeiden. Wir würden dann nachdenklicher diskutieren und mehr zuhören.


Freiheit  ist  anstrengend. Wir  müssen uns zu vielen politischen Themen eine Meinung  bilden- Wir müssen mitdenken, damit wir gut informierte Wählerinnen und Wähler sind. Wir müssen  aktive  Demokratinnen  und Demokraten  sein.


Wie  bilden  wir  eigentlich  unsere  Meinung,  damit  wir  das  leisten  können?


Wenn  man darüber nachdenkt,  was unser  Weltbild  ausmacht,  dann  sind  das vielleicht zu fünf Prozent eigene Erfahrungen,  die  wir  selber  machen.  Und  zu 95 Prozent  sind  es  vermittelte  Erfahrungen durch  Medien,  durch  Bücher,  durch Dritte.


Damit  sind wir bei dem  Problem:  Wem  glauben  wir? Und warum?


Meinen  eigenen  Augen  traue ich.  Aber  wenn  ich  etwas  vermittelt  aufnehme, stellt sich natürlich  die  Frage: Kann  ich der  Quelle  glauben, oder nicht?


Wir leben  in  einer  durch  die  Digitalisierung immens  angeschwollenen Informationsflut.  Es  ist  überhaupt  nicht mehr zu  zählen,  wie  viele Informationen  jeden  Tag  irgendwo  auf  dieser  Welt  anfallen. Wir  wären  völlig überfordert, wenn  wir selber allein auf uns gestellt  anfangen  wollten, die Informationen zu sortieren. Woher wollen wir wissen, was stimmt? Wie wollen wir sicherstellen, dass uns nichts Wichtiges entgeht?


Hier  kommt  die  Presse  ins  Spiel,  die  Journalistinnen  und  Journalisten. Sie haben durch  ihre  Ausbildung gelernt, aus vielen tausend  Informationen herauszufiltern: was  ist  wichtig? Was  stimmt? Wie überprüft man Quellen?


Journalisten können auch  längere,  komplizierte  Sachverhalte  so verdichten  und schildern,  dass  sie  nachvollzogen  werden  können. Die Presse schafft so die Vorraussetzungen, dass  wir  uns  überhaupt  ein  gescheites  Urteil  bilden können. Deshalb  ist  eine  freie  Presse grundlegend  wichtig  für eine funktionierende  Demokratie.


Ich habe das etwas ausführlicher dargelegt, denn sie  alle haben den Ruf ‘Lügenpresse’ schon gehört. Er kommt daher  wie  irgendein  Schimpfwort, nicht nett, aber nicht gefährlich. - Irrtum.

Denn hinter der Diffamierung aller Medien als „Lügenpresse“  steckt  ein infamer und gefährlicher Angriff  auf  die  Grundlagen  unserer  Demokratie.


Warum  ist  das  so?  Wenn  durch  diesen  Ruf  erreicht  wird,  dass  ich  den Medien - allen  Medien - nicht  mehr  glaube, bin  ich  ja  wieder zurückgeworfen auf  die  Frage: Wo  kriege  ich  mein Weltbild  her?


Mit  diesem  Ruf  ‘Lügenpresse’ sind alle  Medien gemeint: öffentlich-rechtlicher Rundfunk,  FAZ,  Zeit,  Süddeutsche Zeitung, Spiegel, Sächsische  Zeitung - alle Medien. Wenn ich glaube, dass sie alle nur lügen, kann ich gar niemandem  mehr glauben. Statt mir ein Urteil bilden und mich orientieren zu können, hätte ich Nebel im Kopf.


Wer  sich mal  bei  Nebel  orientieren  musste, weiss,  dass das schwieriger ist, als sich  bei  Nacht zurecht zu finden. Was  macht  man bei Nebel? Es wird kalt und man möchte nicht allein bleiben. Also spitzt man die  Ohren,  ob  man  nicht  doch irgendwo Menschen hört, zu denen man hinlaufen  kann. Man reißt die Augen auf und starrt in den grauen, dichten Nebel, ob es nicht  irgendwo  ein  bisschen  heller  wird.


Übertragen auf Politik heißt das: Man orientiert  sich am grellsten Scheinwerfer und  am  lautesten  Schreihals.  Wenn  sie in  die  USA  schauen,  dann  verkörpert

Trump  genau  das, woran sich  die  Leute orientieren,  wenn  sie vorher  die Orientierung  völlig  verloren  haben.


Dahinter steht ein sehr  erprobter  Mechanismus faschistischer Strategie. Was nach dem herbeigeführten Orientierungsverlust angeboten wird, um Gefolgschaft zu bekommen,  sind  einfache Erklärungen  für  komplizierte  Fragen. Feindbilder werden angeboten. Wut gegen „die da oben“. Die Welt ist nur schwarz-weiß, wir-sie, Freund-Feind. Sündenböcke werden angeboten, die angeblich an allem Schuld  sind. Oder finstere Drahtzieher, die hinter allem stecken.


Wenn man unabhängigen Medien in ihrer Gesamtheit nicht mehr glaubt, wenn man der freien Presse insgesamt nicht mehr glaubt, ist  man leichte Beute für faschistische Ideologien. Deshalb ist die Diffamierung freier Medien als „Lügenpresse“ so gefährlich.


Man  kann  unsere  Demokratie mit  einem  Schiff  vergleichen.  Ein  Schiff,  von dem Sie  die  Aufbauten über  Wasser sehen:  das  Parlament,  die  Regierung, die Gerichte,  die  Politikerinnen  und  Politiker,  die  dort  auf  dem  Deck

verhandeln  reden,  etc.,  etc.


Aber  damit das Schiff nicht untergeht, braucht es einen Rumpf, der es trägt. Das Schiff würde  nicht  vorwärts kommen, ohne den Motor im Rumpf. Der Rumpf liegt unter der Wasserlinie. Ohne ihn würde das Schiff sinken.


Von Wolfgang  Böckenförde stammt die Einsicht,  dass  unsere  Demokratie  von Voraussetzungen lebt,  die  sie  selber  nicht  erschaffen  kann.  Damit  meinte  er Vertrauen. Damit  meinte  er  auch  soziales  Kapital, das den  Zusammenhalt  in der  Gesellschaft  stärkt  und das  immer  wieder  neu  erarbeitet  werden  muss. Vertrauen und soziales Kapital - das ist der Rumpf, der unsere Demokratie trägt.


Die völkisch-nationalistische AfD bohrt  das  Schiff  der  Demokratie  unter der Wasserlinie  an.  Sie  zielt  mit  Ihrer  Propaganda  darauf,  dass  wir  misstrauisch werden,  dass  wir  uns  gegeneinander  aufbringen  lassen,  dass  das  soziale Kapital  in  unserer  Gesellschaft  aufgebraucht  wird  und dass kein neues soziales  Kapital  entstehen  kann.


Oder  haben  sie  eine  einzige  Äusserung von AfD-Politikern gehört,  die etwas Verbindendes  für  unsere  Gesellschaft  als  Botschaft  gehabt  hätte? Null! Stattdessen Missmut, Misstrauen und Wut gegen „die da oben“.


Oben  auf  Deck streiten sich die Parteien und Politiker über das, was geschehen soll. Sie ringen um die richtigen Wege. Aber sie können das nur so lange tun, wie das Schiff nicht sinkt.


Das ist der Grund, weshalb man nicht  tolerant sein darf, gegenüber  denen,  die selbst intolerant sind und  das  Schiff der Demokratie  versenken  wollen.


Manche sagen, man müsse gegenüber allen tolerant sein. Aber  das  wäre  nun wirklich  saudumm, denen gegenüber  tolerant  zu  sein,  die das  Schiff  versenken wollen,  auf  dem wir alle sitzen. Das  wäre  dumm, nicht tolerant.

Warum  wird die AfD  überhaupt  gewählt?  Sicher nicht  wegen  ihres Programmes,  denn das  kennen  die  wenigsten.


Ich  glaube,  sie  wird  gewählt,  weil  sie  an  Eigenschaften  appelliert,  die  leider jeder  von  uns  auch  ein  bisschen  in sich hat.  Wir  alle  sind  ja  nicht  nur  gut, sondern  wir  haben  auch  unsere  schlechten  Seiten.


Ein  alte  Cherokee-Indianer erklärt seinem  Enkel, wie wir Menschen so sind. Er erzählt ihm von  einem  guten  und  einem  bösen  Wolf, die jeder  von  uns  in seiner  Brust hat. Der  böse  Wolf  ist  neidisch,  missgünstig,  immer  schlecht gelaunt, sucht  immer  die  Schuld  bei  anderen.

Aber  jeder  hat  zum  Glück  auch  einen  guten  Wolf  in  seiner  Brust. Der  ist hilfsbereit und freundlich. Der  sagt,  ich  möchte  andere  so  behandeln,  wie ich  selber  behandelt  werden will. Dieser Wolf hat  viele  gute  Eigenschaften.


Der alte Indianer sagt zu seinem Enkel: Die  beiden  Wölfe in deiner  Brust kämpfen  miteinander. Sie knurren, stellen die Nackenhaare auf, fletschen die Zähne.

Der  Enkel bekommt  immer  grössere  Augen und fragt:  "Und,  Opa,  welcher Wolf  gewinnt?"


Der alte Indianer antwortet: “Der,  den  du  fütterst!  Es gewinnt der,  den  du  fütterst!“

Die  AfD  füttert  den  bösen  Wolf  in  uns.


Verantwortliche  Politik  muss  so  gestaltet  sein, dass sie an das Gute in den Menschen  appelliert, ihre positiven Eigenschaften anspricht, dass  sie  den  guten Wolf  füttert.


Die  AfD  schürt  Wut. Und Wut, sagt Adorno, entlädt sich  auf  den  der  auffällt - ungeschützt.  Wut  entlädt  sich  auf  den,  der  auffällt - ungeschützt. Wir können diesen  Mechanismus  beobachten bei  den  Übergriffen  auf Flüchtlingsheime.


Die  AfD  - das  ist  die  Anstrengung, die  jetzt vor  uns  allen  steht - darf damit keinen Erfolg  haben.  Wir  wollen  doch  nicht  wütend,  ängstlich  und  neidisch sein.  Das  ist  doch  nicht  der  Zustand,  in  dem  wir  ein  glückliches  Leben führen  könnten : wütend,  ängstlich,  neidisch.


Und  damit  komme  ich  zum  Schluss  zu  der  Frage: Wie  wollen  wir  denn eigentlich  sein.?


Zu allererst: Wir  dürfen  verschieden  sein. Es ist  ganz  wichtig,  dass wir verschieden  sein  dürfen,  dass  wir  in  unserer  sexuellen  Orientierung verschieden  sein  dürfen,  beispielsweise. Dass  wir  verschiedene  Vorlieben haben  dürfen. Dass man sich kleiden kann, wie man will, auch mit einem Kopftuch. Freiheit heißt, alles tun zu dürfen, was einem anderen nicht schadet, natürlich  im  Rahmen  der  Gesetze.


Dann  wollen  wir  sicherlich  alle  mit  Respekt  behandelt  werden. Dabei denkt man erst  mal an „die  da  oben“,  die  uns  mit Respekt  behandeln  sollen. Ja, richtig! Aber  wir  wollen  auch  von  unseren  Nachbarn  und  von  denen,  die uns auf  der  Strasse  begegnen  und  von  allen  Menschen  mit  Respekt  behandelt werden. Respektiert werden wollen  wir  alle,  egal  wie  lange  wir  schon  in Deutschland  leben.


Und wir  wollen  dieselben  Rechte  haben. Wir wollen nicht diskriminiert werden. Auch  das  bezieht  sich  auf  alle,  die hier  als  Deutsche leben, genauso wie auf Menschen mit Einwanderungsgeschichte, die oft schon seit Generationen in Deutschland leben.

Und  schliesslich,  glaube  ich,  wollen  doch  die  meisten  Menschen  einen positiven  Beitrag  leisten,  was  immer  das  aus  ihrer  Sicht  ist.


Man  möchte,  dass  es  den  Kindern  besser  geht,  später  mal.  Man  möchte, dass  eine  Situation,  die  man  nicht  gut  findet,  verbessert  wird. Wir  wollen einen  Beitrag  leisten  und  nicht  blockieren.  Wir  wollen  also,  mit  anderen Worten,  dass  die  Politik  den  guten  Wolf in uns füttert.  Das  ist  das,  was  wir wollen.


Ich  habe  am  Anfang  darüber  geredet,  dass  ich  hier  aus  dieser  Region stamme. Die Oberlausitz ist  ja  in  gewisser  Weise  einzigartig  in  Deutschland. Nicht  nur,  weil  es hier  landschaftlich  wunderschön  ist, oder weil Bautzen eine tolle  Stadt  ist, der man ihre lange Geschichte ansieht.


Einzigartig ist hier in der Oberlausitz die Reformationszeit verlaufen.

Die  Konfessionen,  die  Reformierten  und  die  Katholiken,  sind  hier  anders miteinander umgegangen,  als  in  allen  anderen  Teilen  Deutschlands  und  in Europa.  Man  könnte  sagen, die Oberlausitz ist eine  Brücken-Landschaft. Die  Oberlausitz  ist eine Toleranzregion.


Diese  Kirche  hier  ist  ein  einzigartiges  Beispiel. Das gibt  es  nirgendwo  sonst, dass  sich  beide  Konfessionen  vertraglich  geeinigt  haben,  ein Gotteshaus  gemeinsam  zu  nutzen. Sie haben 1560 einen  Kompromiss gefunden, statt  sich  zu  bekriegen.


Für die Toleranzregion  Oberlausitz steht auch Gotthold-Ephraim Lessing.

Der  Dichter  der  Aufklärung. Der  Toleranzdichter überhaupt. Mit  seinem „Nathan der Weise“ und  der  Ringparabel.


Es hat  einen Grund,  warum „Nathan der Weise“  in  der  Nazi-Zeit  verboten  war. Seine  Vorstellung  von  Toleranz ist mit  der  Ideologie  der  Nazis  nicht  vereinbar gewesen.


Als Initiative „Bautzen gemeinsam“ stehen Sie in der Tradition der Oberlausitz als Toleranzregion. Sie haben mich zu Beginn des Jahres zu einer „Bautzener Rede“ eingeladen, in dem in Sachsen  ganz  wichtige  Wahlen stattfinden.


Bei den Landtagswahlen am  1.  September hat  die  Oberlausitz  einen jahrhundertealten  Ruf  als  Toleranzregion  zu  verteidigen. Diesen guten Ruf sollte die Oberlausitz nicht  verspielen.


„Bautzen  gemeinsam“ hat die  Ärmel  hochgekrempelt. „Bautzen gemeinsam“ zeigt,  dass  wehrhafte  Demokratie  nicht  etwas  ist,  was  man einfach  den  Politikerinnen  und  Politikern  überlassen kann,  nach  dem  Motto: "Ihr  müsst  das  für  uns  regeln."


Sondern  wehrhafte Demokratie heisst: Jeder  und  jede  von  uns ist gefordert.


Ich  habe  heute  noch mit einem Journalisten darüber  gesprochen,  dass  sich inzwischen  die  Gruppen  soweit  voneinander  entfernt  haben,  dass  man  die Distanz fast  nicht  mehr überbrücken  kann. Weil  die  einen sagen, der  Himmel ist   blau  und  die  anderen behaupten,  der  Himmel sei  grün.  Da  kann man nicht mehr  miteinander  diskutieren.


Sie  haben  vielleicht  im  kleineren  Kreis, in dem man  sich  persönlich  kennt, die Möglichkeit  zu Gesprächen,  wo  man  sich  dann  doch  noch  erreichen  kann. Am Arbeitsplatz  im  Sportverein,  im  Kegelclub,  in  der  Elternschaft,


Manchmal möchte man diesen  Gesprächen lieber ausweichen. Man  überlegt sich: Packe  ich  das  Thema  jetzt  an  und  verderbe ich es mir  mit  meinem Freund  oder  meinem  Bekannten,  oder  lasse  ich  ihn  lieber  reden  und  gehe weg  und denke: Er ist  eben nicht  mehr  zu  retten.


Ich würde mich freuen, wenn es mir gelungen wäre, Ihnen ein paar Argumente  für diese  Gespräche  im  kleinen  Kreis zu  liefern, um es zu versuchen.


Also  meine  Bitte  ist: Sind  wir  alle  wehrhafte  Demokratinnen und  Demokraten! Auch wenn es anstrengend ist.

Ich bedanke mich sehr für ihre Aufmerksamkeit und freue mich auf die Diskussion.


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