Ruprecht Polenz
Freiheit ist anstrengend
„Bautzener Rede“, gehalten am 19.01.2024 im Dom St. Petri zu Bautzen
(Redigierte Tonband-Abschrift)
Sehr geehrter Herr Pastor Thiede,
dass ich heute hier in ihrer Kirche sprechen darf, ist eine grosse Ehre für mich. Vielen Dank auch an die Initiative „Bautzen gemeinsam“, die mich eingeladen hat. Und natürlich vielen Dank an Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, die heute Abend in den Dom gekommen sind. Sie frieren genauso wie ich. Also sehen Sie mir bitte nach, dass ich meinen Mantel anbehalte. Denn hier vorne ist noch weniger geheizt als in ihren Bänken.
Herr Thiede hat es gerade gesagt: Es ist für mich heute so etwas, wie eine Rückkehr in meine alte Heimat.
Mein Großvater ist im Großpostwitz begraben. Meine Eltern haben in Göda gelebt, und ich bin in meinen ersten sechs Lebensjahren immer zwischen meinen Grosseltern auf dem Hof Denkwitz und meinen Eltern in Göda hin und her gependelt.
In den Westen geflohen sind wir 1952, weil meine Mutter nicht wollte, dass ich hier in der DDR eingeschult würde.
Ich war natürlich zwischendurch auch schon wieder hier, konnte aber zuerst lange Zeit nicht in die DDR fahren. Mein Vater war 1956 zur Bundeswehr gegangen und in der Zeit, in der er aktiver Soldat war, durfte seine Familie nicht in die DDR reisen. Deshalb kam ich erst 1987 wieder hierher, zusammen mit meiner Mutter, nachdem mein Vater gestorben war.
Ich habe in meiner politischen Arbeit eine ganze Menge Reden gehalten, manche an ganz besonderen Orten, die ich deshalb auch nicht vergesse. Wer mal die Ehre hatte, in dem Hörsaal in Zürich zu sprechen, in dem Churchill 1946 seine berühmte Europarede gehalten hat, oder wer mal in der Dresdner Frauenkirche sprechen durfte, der vergisst das nicht.
Aber dieser Dom, in dem ich heute sprechen darf, ist mindestens genau so wichtig für mich. Ich hätte, wenn ich so zurückschaue, mir nie vorstellen können, dass ich mal hier in Bautzen so prominent vor ihnen reden darf.
Heute ist Münster meine Heimat. Seit über 50 Jahren leben wir in dieser schönen Stadt. Wenn sie mal in die Gegend kommen, müssen sie sich Münster unbedingt anschauen.
Ich fühle mich inzwischen als Münsteraner. Aber ich bin kein Westfale geworden, ich bin schon Sachse geblieben. Wenn mich die Menschen fragen, ob ich Münsteraner sei, sage ich ja. Wir leben seit über 50 Jahren in Münster. Unsere vier Kinder sind in Münster geboren. Aber ich bin eigentlich kein Westfale. Ich bin Sachse. Wenn ich das so sage, staunen die immer und sagen, du sprichst doch gar nicht so. Ich erkläre dann, warum ich mir diesen schönen, von jedem überall erkannten, sächsischen Dialekt nicht angewöhnt habe.
Ich habe darüber etwas ausführlicher gesprochen, weil ich mich noch gut an meine Gefühle erinnern kann, als 1989 die grossen Demonstrationen in Leipzig waren und anderswo, und ich gedacht habe, in Sachsen geht das los.
Man wusste ja nicht, wie es enden würde. Ich habe mit gehofft und mit gezittert. Es stand ja auch mehrfach, wie man dann später nachlesen konnte, Spitz auf Knopf.
Sie haben sich die Demokratie erkämpft. Das ist in der deutschen Geschichte ziemlich einmalig. Und ich kann mir vorstellen: das hat viel Mut gekostet.
Im Nachhinein weiss man, wie es ausging. Aber als es mit den Demonstrationen losging, wusste man das nicht. Es hätte auch ganz anders ausgehen können. Ich weiss aus Berichten und aus Erzählungen - ich habe auch viele Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler getroffen - dass das Schreckensbild vom Platz des himmlischen Friedens in Peking durchaus eine Rolle in den Sorgen gespielt hat, die man sich gemacht hat, wenn man hier auf die Strasse gegangen ist.
Ich habe mich manchmal gefragt, wie wäre wohl mein eigenes Leben verlaufen, wenn meine Eltern sich damals nicht entschieden hätten, in den Westen zu fliehen. Ich wäre wahrscheinlich hier in Bautzen in die Schule gegangen. Man weiss das nicht, wenn man sich fragt: wie wäre das Leben verlaufen, wenn meine Familie nicht in den Westen geflohen wäre.
Aber ich hoffe natürlich, dass ich 1989 den Mut gehabt hätte, mit auf die Straße zu gehen.
Anders als hier in der DDR wurde die Demokratie in Westdeutschland nicht erkämpft.
Wenn die Alliierten im August 1945 gesagt hätten, "mission accomplished" - Ziel erreicht, wir gehen wieder nach Hause, wenn die Alliierten im August 1945 Westdeutschland sich selbst überlassen hätten, dann wären wir die Nazis nicht losgeworden. Das ist meine feste Überzeugung.
Die Nazis hatten die Gesellschaft zwölf Jahre lang gleichgeschaltet. Die Nazis waren noch organisiert und hatten die Machtmittel. Man sieht ja auch an anderen Ländern, wie schwer es ist, nach einer Diktatur zu demokratischen Verhältnissen zu kommen.
Natürlich bin ich stolz auf das Grundgesetz, das sich Westdeutschland 1949 als Verfassung gegeben hat. Eine tolle Verfassung. Die beste, die Deutschland je hatte.
Ich bin stolz auf das, was seit 1945 erreicht werden konnte. Und ich bin auch besonders froh und glücklich, dass wir alles das, was wir in Deutschland erreichen wollen, seit 1990 gemeinsam erreichen können.
Sie haben es vorhin gehört. Ich diskutiere viel in Social Media, auf "X" (also früher Twitter), Facebook und anderen Plattformen. Da bekommt man natürlich mit, dass doch ziemlich viele das ganz anders sehen. Die schimpfen und klagen und finden alles schrecklich und ganz schlimm.
Wenn ich mich auf eine solche Diskussion einlasse, frage ich in der Regel: Jetzt sag mir doch mal zehn Länder, wo du lieber leben würdest als in Deutschland, zehn von 200, die es auf der Welt gibt. Entweder wird dann gar nicht geantwortet, oder es werden die skandinavischen Länder oder die Schweiz genannt. Aber zehn Länder, in denen man besser leben könnte, als in Deutschland, bekommen die wenigsten zusammen.
Es gibt ja auch Untersuchungen, die die Länder auf der Welt miteinander vergleichen im Hinblick auf Sicherheit, Stabilität, Wohlstand und Freiheit. In der jüngsten, die ich gelesen habe, stand Deutschland auf Platz 16 von 163 untersuchten Ländern.
Vielleicht haben Sie sich beim Verreisen mal gefragt, woher es kommt, dass wir mit unserem Reisepass ohne Visum in fast alle Länder reisen können. Das kann man mit kaum einem anderen Pass. Von allen Reisepässen der Welt ist der Deutsche so ziemlich der stärkste, wenn es um die Möglichkeiten geht, ohne Visum in andere Länder dieser Welt zu reisen.
Das hat einen einfachen Grund. Alle Länder, in die wir mit unserem Reisepass wollen, sind sich ganz sicher, dass wir auch wieder nach Hause fahren. Sie wissen, dass keiner das Gefühl hat, in Deutschland kann ich es eigentlich nicht mehr aushalten. Ich würde lieber irgendwo anders leben und bleibe einfach im Ausland.
Das ist der Grund, weshalb unser Reisepass so stark ist, und weshalb uns andere Länder nicht über ein Visum kontrollieren wollen. Weil wir wieder nach Hause fahren.
Das war ja nicht immer in der deutschen Geschichte so. Wir müssen nur an die Zeit vor 1945 denken. Da wollten Menschen nicht nach Deutschland rein, sondern aus Deutschland raus. Da sind diejenigen, die aus Deutschland raus wollten und es geschafft haben, natürlich mit der Absicht verreist, nicht wieder nach Deutschland zurückzukehren, weil es dort so schrecklich war.
Jetzt haben wir die Situation, dass viele Menschen nach Deutschland wollen. Migration stellt unser Land vor Probleme. Aber es war viel schlimmer in der Zeit meiner Eltern und meiner Grosseltern in Deutschland zu leben, wo viele Menschen aus Deutschland weg wollten.
Und damit bin ich mitten in unserem Thema. Denn unsere gemeinsame Demokratie ist die Antwort auf die zentrale Frage: Wie wollen wir unser Gemeinwesen zum Wohl aller organisieren?
Was ist eigentlich Demokratie? Das klingt wie eine banale Frage. Doch schon auf den zweiten Blick sieht es komplizierter aus.
Großbritannien ist zweifellos eine Demokratie, noch dazu eine der ältesten. Aber auch Nordkorea nennt sich Demokratie. Zwar Volksdemokratie, aber auf den Demokratiebegriff will auch Nordkorea nicht verzichten.
Man muss also doch genauer hinsehen.
Wenn man fragt: „Was ist Demokratie?“, dann ist die erste Antwort meist: Demokratie ist Volksherrschaft.
Aber ich sage Ihnen, Demokratie ist nicht einfach Volksherrschaft.
Die Nazis haben gesagt: „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“. Die Nazis haben sich auch darauf berufen, dass das Volk herrsche, natürlich durch den Führer, der wisse, was das Beste für das deutsche Volk sei.
Auch die SED hat beansprucht, Volksherrschaft auszuüben. Die SED hat immer proklamiert, in der DDR herrsche das Volk. Aber eben durch die Partei der Arbeiterklasse.
Auch Putin sagt, natürlich herrscht in Russland das Volk, aber eben durch mich.
Es ist also nicht so einfach zu sagen, Demokratie sei Volksherrschaft. Es muss schon noch etwas anderes dazukommen, damit wir von einer Demokratie sprechen können. Wir kommen gleich darauf zurück-
Die zweite Antwort auf die Frage, was ist Demokratie: Die Mehrheit entscheidet. Stimmt. Aber auch diese Antwort ist nicht vollständig. Denn die Mehrheit kann in der Demokratie nicht einfach beschließen, was sie will. Es gibt Grundrechte für alle und Rechte von Minderheiten, die die Mehrheit nicht einfach ausser Kraft setzen darf. Demokratie heisst nicht nur "die Mehrheit entscheidet". Demokratie heisst auch, Minderheiten zu schützen.
Die Qualität einer Gesellschaft bemisst sich danach, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht. Das macht die Qualität einer Gesellschaft aus.
Die Mehrheit kann nicht einfach beschliessen: In Münster darf keine Moschee gebaut werden. Das würde gegen Artikel 4 des Grundgesetzes verstossen, der die Religionsfreiheit aller Religionen schützt..
Demokratie ist für mich vor allem Kontrolle von Herrschaft. Demokratie ist Kontrolle von Herrschaft. Deshalb ist Demokratie erkämpft worden, zuerst gegen Könige und Fürsten, später gegen Diktaturen.
Die Magna Charta Libertatum, der große Freiheitsbrief von 1215, soll herrschaftliche Willkür beschränken, genauso wie die Habeas Corpus Akte von 1679, die vor Verhaftung ohne richterlichen Beschluss schützen sollte.
Da Macht immer die Gefahr von Machtmissbrauch in sich birgt, geht es darum, die Macht zu kontrollieren. Deshalb Gewaltenteilung: Exekutive - Legislative - Judikative. Regierung - Parlament und Opposition - Gerichte. Als vierte Gewalt kommen freie Presse und Medien dazu.
Das Grundgesetz hat aus dem Machtmissbrauch des dritten Reiches und aus dem Scheitern der Weimarer Republik die richtigen Konsequenzen gezogen.
Die wichtigste Konsequenz steht gleich in Artikel 1 GG: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Da fehlt ein Wort, das aber mitgedacht und besonders wichtig ist. Die Würde aller Menschen ist unantastbar. Egal, ob sie dunkle Hautfarbe haben oder helle. Egal, ob sie alt sind oder jung und auch egal, wie lange sie schon in Deutschland sind und aus welchen Gründen.
Die unantastbare Menschenwürde ist ein Menschenrecht, nicht nur ein Grundrecht für Deutsche. Die Würde aller Menschen ist unantastbar.
Und dann hat das Grundgesetz die Demokratie als Parlamentarische Demokratie gestaltet. Repräsentativ. Parlamentarisch.
Das heisst, dass Abgeordnete, die in freien und geheimen Wahlen gewählt wurden, den Willen des Volkes repräsentieren.
Eine Parlamentarische Demokratie ist ohne unterschiedliche politische Parteien nicht denkbar. Man wählt Menschen, die Parteien angehören.
Es ist wichtig, sich die Unersetzbarkeit politischer Parteien für unsere Demokratie klar zu machen. Bei aller berechtigten Kritik an ihrem Personal oder ihrer Politik dürfen wir diese Bedeutung der politischen Parteien nicht vergessen.
„Politik ist ein schmutziges Geschäft.“ Jeder kennt diesen Satz. Parteipolitik ist dann noch der Steigerungsfall. Wir sollten mit solchen Behauptungen vorsichtig sein, denn politische Parteien sind für das Funktionieren einer Parlamentarischen Demokratie unerlässlich. Ihre Aufgaben, an der politischen Willensbildung der Bevölkerung mitzuwirken, können sie nur dann bewältigen, wenn es tüchtige Menschen gibt, die sich in Parteien engagieren.
Ein dritter Punkt, den das Grundgesetz auch ganz besonders wichtig nimmt aus den Erfahrungen der Weimarer Republik und der Nazi- Zeit, betrifft die freie Presse. Denn ohne dass sich die Menschen frei informieren können, ohne dass sie aus unterschiedlichen Informationsquellen ihre eigenen Anschauungen der Dinge finden können, kann eine Demokratie nicht bestehen.
Ich sagte vorhin: ohne die Alliierten wären wir die Nazis nicht losgeworden. Ohne die Alliierten, in diesem Fall die Briten, hätten wir keinen öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Unser öffentlich-rechtlicher Rundfunk ist dem BBC-Modell nachempfunden, als die unmittelbare Antwort auf Goebbels. Auf seine Propaganda und den Missbrauch des Rundfunks.
Pressefreiheit heißt, dass die Presse frei sein muss von staatlicher Zensur und staatlichem Einfluss. Und sie muss frei sein von Kapitalinteressen.
Beides zu gewährleisten, ist nicht ganz einfach.
Der öffentlich-rechtlichen Rundfunk wird deshalb nicht durch Steuern finanziert, denn dann wäre er abhängig von der Finanzierung durch den Staat. Sie kennen den Spruch: Wer zahlt schafft an!
Statt durch Steuern, deren Vergabe im einzelnen durch die Haushaltsgesetze geregelt wird, ist der Rundfunk durch Beiträge finanziert, die alle Haushalte bezahlen müssen. Die Festsetzung des Beitrags erfolgt durch die Landtage. Aber anders als beim Haushalt sind die Landtage bei der Festsetzung des Rundfunkbeitrags nicht völlig frei. Sie müssen die Rundfunkanstalten nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts so ausstatten, dass sie ihren verfassungsmässigen Auftrag erfüllen können.
Die Aufsicht über den Rundfunk hat auch kein Minister und auch keine Regierung, sondern der Rundfunkrat. Die Mitglieder dieses Rundfunkrates werden auch nicht vom Staat ausgesucht, sondern von gesetzlich bestimmten, wichtigen gesellschaftliche Gruppen entsandt: von den Kirchen, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden, Umweltverbänden, Verbraucherschutzorganisation usw..
Schauen Sie sich einmal im Internet an, welche gesellschaftlichen Gruppen Vertreterinnen oder Vertreter in den ZDF-Fernsehrat schicken, die dann die Aufsicht darüber haben, ob der öffentlich-rechtliche Rundfunk seinen gesetzlich definierten Programmauftrag erfüllt, oder nicht.
Ich habe das aus zwei Gründen ein bisschen ausführlicher erklärt. Zum einen war ich 14 Jahre Vorsitzender des ZDF-Fernsehrats. Zum anderen bekomme ich natürlich die Diskussionen mit, die derzeit um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk geführt werden.
Es ist aus meiner Sicht kein Zufall, wer die Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks fordert. Ganz vorneweg die AfD. Rechtsextremisten ist Pressefreiheit ein Dorn im Auge. Ihnen schweben Propagandastrukturen vor, gegen die ein unabhängiger öffentlich-rechtlicher Rundfunk als Bollwerk wirkt.
Demokratie ist Volksherrschaft - das fällt zu Demokratie als erstes ein. Und das ist ja auch richtig. Aber ganz wichtig ist, dass wir dabei festhalten: Das Volk ist verschieden.
Das Volk ist verschieden, weil wir Menschen alle unterschiedlich sind.
Ich habe mal gelesen, es gibt unter den 8 Milliarden Menschen keine zwei, die genau die gleiche DNA haben. Und wenn wir uns hier in der Kirche umschauen, sehen wir natürlich auch, dass wir alle unterschiedlich sind.
Das gilt auch für das Volk, das ganz unterschiedliche Interessen hat. Ãltere haben andere Interessen als Jüngere. Frauen haben vielleicht auch mal andere Interessen als Männer. Und auf dem Land hat man vielleicht andere Interessen als in der Stadt. Arbeitnehmer haben andere Interessen als Arbeitgeber.
So könnte man die Unterschiede ganz breit auffächern. Aber alle gehören zum Volk. Also, das Volk ist verschieden, und wenn man jetzt Volksherrschaft organisieren will, muss man eben sehen, dass die unterschiedlichen Interessen, die es in einem Volk gibt, alle zu einem fairen Ausgleich gebracht werden.
Damit sind wir bei Kompromissen, die geschlossen werden müssen, dann sind wir bei Verhandlungen, dann sind wir bei Demonstrationen für Interessen und so weiter und so weiter.
Das ist die Stärke der Demokratie, dass sie die Interessen, die in der Bevölkerung vorhanden sind, zu einem fairen Ausgleich bringen kann durch Kompromiss.
Was das Volk will, kann nicht vorher festgestellt werden durch irgendeinen Führer, der sagt, ich weiss das schon. Auch nicht durch eine Partei allein. Auch nicht durch Meinungsumfragen. Demokratie ist etwas anderes als Demoskopie. Demokratische Politik entscheidet mit Mehrheit.
Und nun werden Sie sich vielleicht fragen, ja aber wir haben doch 1989 gerufen: Wir sind das Volk. Das ist doch der Ruf, der uns allen auch so viel Kraft gegeben hat! Das stimmt.
Aber dieser Ruf hat die Volkssouveränität geltend gemacht gegen die SED-Diktatur. Der Ruf, wir sind das Volk, sollte unmissverständlich deutlich machen: Ihr von der SED seid überhaupt nicht durch uns legitimiert.
Nicht durch Wahlen. Denn die waren nicht frei und sie waren gefälscht. Das war offenkundig bei den Kommunalwahlen im Mai 1989. Die gefälschten Wahlen waren einer der Gründe, weshalb im Herbst 1989 immer mehr Menschen auf die Strasse gingen.
Der Ruf „Wir sind das Volk“ hat nicht reklamiert, „wir haben alle die gleichen Interessen“. Die Menschen haben damit kraftvoll zum Ausdruck gebracht: Wir üben die Souveränität aus, gegen euch, die ihr euch auf uns beruft, ohne gewählt zu sein.
Das ist der grosse Unterschied zu heute, zu PEGIDA und den sogenannten Montagsdemonstrationen und Mahnwachen. Hier wenden sich die Menschen mit der Anmaßung „Wir sind das Volk“ gegen die gewählten Vertreter des
Volkes, nicht gegen eine Diktatur. Das ist ein Riesenunterschied.
Man behauptet, wir sind das Volk. Als seien die, die ihre Abgeordneten gewählt haben, alle irgendwie geistig umnachtet. Insofern ist dieser Ruf bei diesen sogenannten Montagsdemonstrationen „Wir sind das Volk“ ein Ruf gegen diejenigen, die als Wählerinnen und Wähler politische Parteien in ein Parlament gewählt haben, mit dem Auftrag die Entscheidungen per Mehrheit für das Volk zu treffen. PEGIDA und Konsorten ziehen den Ruf „Wir sind das Volk“ in den Dreck ihrer Ideologie.
Heute macht dieser Ruf nicht dem SED-Politbüro die Legitimation streitig, sondern dem demokratisch gewählten Parlament. Das ist der entscheidende Unterschied, auf den ich in einem kleinen Exkurs ausdrücklich hinweisen wollte, weil mich diese Anmaßung, genauso wie Sie, sehr ärgert
Der Missbrauch des Satzes „Wir sind das Volk“, der 1989 eine grosse, demokratische Kraft entwickelt hat, ist eine blanke Unverschämtheit.
Warum entscheiden wir eigentlich mit Mehrheit? Wir sind alle anfällig für Irrtum. Im Grundsatz, im Kleinen, im Grossen.
Das muss man in der in der politischen Ordnung berücksichtigen. In den Anfängen wurde hier in der DDR gesungen: „Die Partei, die Partei, die hat immer Recht!“ Entsprechend war der Staat organisiert.
Nein, auch eine Partei kann irren, und die SED hat kräftig geirrt.
Aus der grundsätzlichen Irrtumsmöglichkeit des Menschen müssen organisatorische Konsequenzen für demokratische Entscheidungsprozesse gezogen werden.
In der Politik geht es auch nicht um Wahrheit. Über Wahrheit kann man nicht abstimmen. Sondern in der Politik geht es darum, was geschehen soll. Deshalb entscheiden wir mit Mehrheit. Wenigstens die Mehrheit soll mit der Entscheidung einverstanden sein.
Vielleicht würde es unseren Diskussionen ganz gut tun, wenn wir uns selber wieder klarmachten: Wir können auch schiefliegen. Wir könnten uns auch irren. Der andere könnte auch ein bisschen Recht haben.
Mit anderen Worten: Statt Recht haben zu wollen, könnten wir uns darauf konzentrieren, Irrtümer zu vermeiden. Wir würden dann nachdenklicher diskutieren und mehr zuhören.
Freiheit ist anstrengend. Wir müssen uns zu vielen politischen Themen eine Meinung bilden- Wir müssen mitdenken, damit wir gut informierte Wählerinnen und Wähler sind. Wir müssen aktive Demokratinnen und Demokraten sein.
Wie bilden wir eigentlich unsere Meinung, damit wir das leisten können?
Wenn man darüber nachdenkt, was unser Weltbild ausmacht, dann sind das vielleicht zu fünf Prozent eigene Erfahrungen, die wir selber machen. Und zu 95 Prozent sind es vermittelte Erfahrungen durch Medien, durch Bücher, durch Dritte.
Damit sind wir bei dem Problem: Wem glauben wir? Und warum?
Meinen eigenen Augen traue ich. Aber wenn ich etwas vermittelt aufnehme, stellt sich natürlich die Frage: Kann ich der Quelle glauben, oder nicht?
Wir leben in einer durch die Digitalisierung immens angeschwollenen Informationsflut. Es ist überhaupt nicht mehr zu zählen, wie viele Informationen jeden Tag irgendwo auf dieser Welt anfallen. Wir wären völlig überfordert, wenn wir selber allein auf uns gestellt anfangen wollten, die Informationen zu sortieren. Woher wollen wir wissen, was stimmt? Wie wollen wir sicherstellen, dass uns nichts Wichtiges entgeht?
Hier kommt die Presse ins Spiel, die Journalistinnen und Journalisten. Sie haben durch ihre Ausbildung gelernt, aus vielen tausend Informationen herauszufiltern: was ist wichtig? Was stimmt? Wie überprüft man Quellen?
Journalisten können auch längere, komplizierte Sachverhalte so verdichten und schildern, dass sie nachvollzogen werden können. Die Presse schafft so die Vorraussetzungen, dass wir uns überhaupt ein gescheites Urteil bilden können. Deshalb ist eine freie Presse grundlegend wichtig für eine funktionierende Demokratie.
Ich habe das etwas ausführlicher dargelegt, denn sie alle haben den Ruf ‘Lügenpresse’ schon gehört. Er kommt daher wie irgendein Schimpfwort, nicht nett, aber nicht gefährlich. - Irrtum.
Denn hinter der Diffamierung aller Medien als „Lügenpresse“ steckt ein infamer und gefährlicher Angriff auf die Grundlagen unserer Demokratie.
Warum ist das so? Wenn durch diesen Ruf erreicht wird, dass ich den Medien - allen Medien - nicht mehr glaube, bin ich ja wieder zurückgeworfen auf die Frage: Wo kriege ich mein Weltbild her?
Mit diesem Ruf ‘Lügenpresse’ sind alle Medien gemeint: öffentlich-rechtlicher Rundfunk, FAZ, Zeit, Süddeutsche Zeitung, Spiegel, Sächsische Zeitung - alle Medien. Wenn ich glaube, dass sie alle nur lügen, kann ich gar niemandem mehr glauben. Statt mir ein Urteil bilden und mich orientieren zu können, hätte ich Nebel im Kopf.
Wer sich mal bei Nebel orientieren musste, weiss, dass das schwieriger ist, als sich bei Nacht zurecht zu finden. Was macht man bei Nebel? Es wird kalt und man möchte nicht allein bleiben. Also spitzt man die Ohren, ob man nicht doch irgendwo Menschen hört, zu denen man hinlaufen kann. Man reißt die Augen auf und starrt in den grauen, dichten Nebel, ob es nicht irgendwo ein bisschen heller wird.
Übertragen auf Politik heißt das: Man orientiert sich am grellsten Scheinwerfer und am lautesten Schreihals. Wenn sie in die USA schauen, dann verkörpert
Trump genau das, woran sich die Leute orientieren, wenn sie vorher die Orientierung völlig verloren haben.
Dahinter steht ein sehr erprobter Mechanismus faschistischer Strategie. Was nach dem herbeigeführten Orientierungsverlust angeboten wird, um Gefolgschaft zu bekommen, sind einfache Erklärungen für komplizierte Fragen. Feindbilder werden angeboten. Wut gegen „die da oben“. Die Welt ist nur schwarz-weiß, wir-sie, Freund-Feind. Sündenböcke werden angeboten, die angeblich an allem Schuld sind. Oder finstere Drahtzieher, die hinter allem stecken.
Wenn man unabhängigen Medien in ihrer Gesamtheit nicht mehr glaubt, wenn man der freien Presse insgesamt nicht mehr glaubt, ist man leichte Beute für faschistische Ideologien. Deshalb ist die Diffamierung freier Medien als „Lügenpresse“ so gefährlich.
Man kann unsere Demokratie mit einem Schiff vergleichen. Ein Schiff, von dem Sie die Aufbauten über Wasser sehen: das Parlament, die Regierung, die Gerichte, die Politikerinnen und Politiker, die dort auf dem Deck
verhandeln reden, etc., etc.
Aber damit das Schiff nicht untergeht, braucht es einen Rumpf, der es trägt. Das Schiff würde nicht vorwärts kommen, ohne den Motor im Rumpf. Der Rumpf liegt unter der Wasserlinie. Ohne ihn würde das Schiff sinken.
Von Wolfgang Böckenförde stammt die Einsicht, dass unsere Demokratie von Voraussetzungen lebt, die sie selber nicht erschaffen kann. Damit meinte er Vertrauen. Damit meinte er auch soziales Kapital, das den Zusammenhalt in der Gesellschaft stärkt und das immer wieder neu erarbeitet werden muss. Vertrauen und soziales Kapital - das ist der Rumpf, der unsere Demokratie trägt.
Die völkisch-nationalistische AfD bohrt das Schiff der Demokratie unter der Wasserlinie an. Sie zielt mit Ihrer Propaganda darauf, dass wir misstrauisch werden, dass wir uns gegeneinander aufbringen lassen, dass das soziale Kapital in unserer Gesellschaft aufgebraucht wird und dass kein neues soziales Kapital entstehen kann.
Oder haben sie eine einzige Äusserung von AfD-Politikern gehört, die etwas Verbindendes für unsere Gesellschaft als Botschaft gehabt hätte? Null! Stattdessen Missmut, Misstrauen und Wut gegen „die da oben“.
Oben auf Deck streiten sich die Parteien und Politiker über das, was geschehen soll. Sie ringen um die richtigen Wege. Aber sie können das nur so lange tun, wie das Schiff nicht sinkt.
Das ist der Grund, weshalb man nicht tolerant sein darf, gegenüber denen, die selbst intolerant sind und das Schiff der Demokratie versenken wollen.
Manche sagen, man müsse gegenüber allen tolerant sein. Aber das wäre nun wirklich saudumm, denen gegenüber tolerant zu sein, die das Schiff versenken wollen, auf dem wir alle sitzen. Das wäre dumm, nicht tolerant.
Warum wird die AfD überhaupt gewählt? Sicher nicht wegen ihres Programmes, denn das kennen die wenigsten.
Ich glaube, sie wird gewählt, weil sie an Eigenschaften appelliert, die leider jeder von uns auch ein bisschen in sich hat. Wir alle sind ja nicht nur gut, sondern wir haben auch unsere schlechten Seiten.
Ein alte Cherokee-Indianer erklärt seinem Enkel, wie wir Menschen so sind. Er erzählt ihm von einem guten und einem bösen Wolf, die jeder von uns in seiner Brust hat. Der böse Wolf ist neidisch, missgünstig, immer schlecht gelaunt, sucht immer die Schuld bei anderen.
Aber jeder hat zum Glück auch einen guten Wolf in seiner Brust. Der ist hilfsbereit und freundlich. Der sagt, ich möchte andere so behandeln, wie ich selber behandelt werden will. Dieser Wolf hat viele gute Eigenschaften.
Der alte Indianer sagt zu seinem Enkel: Die beiden Wölfe in deiner Brust kämpfen miteinander. Sie knurren, stellen die Nackenhaare auf, fletschen die Zähne.
Der Enkel bekommt immer grössere Augen und fragt: "Und, Opa, welcher Wolf gewinnt?"
Der alte Indianer antwortet: “Der, den du fütterst! Es gewinnt der, den du fütterst!“
Die AfD füttert den bösen Wolf in uns.
Verantwortliche Politik muss so gestaltet sein, dass sie an das Gute in den Menschen appelliert, ihre positiven Eigenschaften anspricht, dass sie den guten Wolf füttert.
Die AfD schürt Wut. Und Wut, sagt Adorno, entlädt sich auf den der auffällt - ungeschützt. Wut entlädt sich auf den, der auffällt - ungeschützt. Wir können diesen Mechanismus beobachten bei den Übergriffen auf Flüchtlingsheime.
Die AfD - das ist die Anstrengung, die jetzt vor uns allen steht - darf damit keinen Erfolg haben. Wir wollen doch nicht wütend, ängstlich und neidisch sein. Das ist doch nicht der Zustand, in dem wir ein glückliches Leben führen könnten : wütend, ängstlich, neidisch.
Und damit komme ich zum Schluss zu der Frage: Wie wollen wir denn eigentlich sein.?
Zu allererst: Wir dürfen verschieden sein. Es ist ganz wichtig, dass wir verschieden sein dürfen, dass wir in unserer sexuellen Orientierung verschieden sein dürfen, beispielsweise. Dass wir verschiedene Vorlieben haben dürfen. Dass man sich kleiden kann, wie man will, auch mit einem Kopftuch. Freiheit heißt, alles tun zu dürfen, was einem anderen nicht schadet, natürlich im Rahmen der Gesetze.
Dann wollen wir sicherlich alle mit Respekt behandelt werden. Dabei denkt man erst mal an „die da oben“, die uns mit Respekt behandeln sollen. Ja, richtig! Aber wir wollen auch von unseren Nachbarn und von denen, die uns auf der Strasse begegnen und von allen Menschen mit Respekt behandelt werden. Respektiert werden wollen wir alle, egal wie lange wir schon in Deutschland leben.
Und wir wollen dieselben Rechte haben. Wir wollen nicht diskriminiert werden. Auch das bezieht sich auf alle, die hier als Deutsche leben, genauso wie auf Menschen mit Einwanderungsgeschichte, die oft schon seit Generationen in Deutschland leben.
Und schliesslich, glaube ich, wollen doch die meisten Menschen einen positiven Beitrag leisten, was immer das aus ihrer Sicht ist.
Man möchte, dass es den Kindern besser geht, später mal. Man möchte, dass eine Situation, die man nicht gut findet, verbessert wird. Wir wollen einen Beitrag leisten und nicht blockieren. Wir wollen also, mit anderen Worten, dass die Politik den guten Wolf in uns füttert. Das ist das, was wir wollen.
Ich habe am Anfang darüber geredet, dass ich hier aus dieser Region stamme. Die Oberlausitz ist ja in gewisser Weise einzigartig in Deutschland. Nicht nur, weil es hier landschaftlich wunderschön ist, oder weil Bautzen eine tolle Stadt ist, der man ihre lange Geschichte ansieht.
Einzigartig ist hier in der Oberlausitz die Reformationszeit verlaufen.
Die Konfessionen, die Reformierten und die Katholiken, sind hier anders miteinander umgegangen, als in allen anderen Teilen Deutschlands und in Europa. Man könnte sagen, die Oberlausitz ist eine Brücken-Landschaft. Die Oberlausitz ist eine Toleranzregion.
Diese Kirche hier ist ein einzigartiges Beispiel. Das gibt es nirgendwo sonst, dass sich beide Konfessionen vertraglich geeinigt haben, ein Gotteshaus gemeinsam zu nutzen. Sie haben 1560 einen Kompromiss gefunden, statt sich zu bekriegen.
Für die Toleranzregion Oberlausitz steht auch Gotthold-Ephraim Lessing.
Der Dichter der Aufklärung. Der Toleranzdichter überhaupt. Mit seinem „Nathan der Weise“ und der Ringparabel.
Es hat einen Grund, warum „Nathan der Weise“ in der Nazi-Zeit verboten war. Seine Vorstellung von Toleranz ist mit der Ideologie der Nazis nicht vereinbar gewesen.
Als Initiative „Bautzen gemeinsam“ stehen Sie in der Tradition der Oberlausitz als Toleranzregion. Sie haben mich zu Beginn des Jahres zu einer „Bautzener Rede“ eingeladen, in dem in Sachsen ganz wichtige Wahlen stattfinden.
Bei den Landtagswahlen am 1. September hat die Oberlausitz einen jahrhundertealten Ruf als Toleranzregion zu verteidigen. Diesen guten Ruf sollte die Oberlausitz nicht verspielen.
„Bautzen gemeinsam“ hat die Ärmel hochgekrempelt. „Bautzen gemeinsam“ zeigt, dass wehrhafte Demokratie nicht etwas ist, was man einfach den Politikerinnen und Politikern überlassen kann, nach dem Motto: "Ihr müsst das für uns regeln."
Sondern wehrhafte Demokratie heisst: Jeder und jede von uns ist gefordert.
Ich habe heute noch mit einem Journalisten darüber gesprochen, dass sich inzwischen die Gruppen soweit voneinander entfernt haben, dass man die Distanz fast nicht mehr überbrücken kann. Weil die einen sagen, der Himmel ist blau und die anderen behaupten, der Himmel sei grün. Da kann man nicht mehr miteinander diskutieren.
Sie haben vielleicht im kleineren Kreis, in dem man sich persönlich kennt, die Möglichkeit zu Gesprächen, wo man sich dann doch noch erreichen kann. Am Arbeitsplatz im Sportverein, im Kegelclub, in der Elternschaft,
Manchmal möchte man diesen Gesprächen lieber ausweichen. Man überlegt sich: Packe ich das Thema jetzt an und verderbe ich es mir mit meinem Freund oder meinem Bekannten, oder lasse ich ihn lieber reden und gehe weg und denke: Er ist eben nicht mehr zu retten.
Ich würde mich freuen, wenn es mir gelungen wäre, Ihnen ein paar Argumente für diese Gespräche im kleinen Kreis zu liefern, um es zu versuchen.
Also meine Bitte ist: Sind wir alle wehrhafte Demokratinnen und Demokraten! Auch wenn es anstrengend ist.
Ich bedanke mich sehr für ihre Aufmerksamkeit und freue mich auf die Diskussion.
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