Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann.

Fundstücke

1) "Wir dachten, wir hätten über den Digitalpakt die richtigen Weichen gestellt" (Interview mit Margit Stumpp)

Was macht diese Bildungskrise aus?

Das System Schule ist erschöpft. Die Digitalisierung in den Schulen hätte vor 30 Jahren eingeleitet werden müssen, wir hängen Jahrzehnte hinterher. Gleichzeitig hatten wir schon vor Corona eine soziale Schieflage beim Bildungserfolg, weil wir zwar immer über individuelle Förderung gesprochen haben, sie uns aber aus Mangel an Personal und Ausstattung nie wirklich gelungen ist. [...]

Was folgt für Sie daraus [dass der Digitalpakt ein kontraproduktives bürokratisches Monstrum war, Anmerkung S.S.]?

Die Ampelparteien müssen endlich die Vorhaben angehen, die sie in ihren Koalitionsvertrag geschrieben haben. Wir brauchen eine andere Form der Kooperation von Bund und Ländern, vor allem im Bereich der Bildungsinfrastruktur. Richtig wäre, dass der Bund nicht ein Zehntel der Kosten wie derzeit trägt, sondern ein Drittel. Ein weiteres Drittel die Länder, das letzte Drittel die Kommunen.

Ist so eine Forderung angesichts der Finanzlage des Bundes realistisch?

Sie wäre realistisch, wenn wir uns auf Bildung als die gesamtgesellschaftliche und gesamtpolitische Aufgabe verständigen, von der immer alle reden. Das Minimum wäre aber, dass die vorhandenen Bundesgelder verstetigt werden und nach anderen, einfachen Vergaberegeln fließen. Das berührt die Bildungshoheit der Länder in keinster Weise. Aber nur dann kommen die Mittel rechtzeitig und auch genau dort an, wo sie gebraucht werden. (Jan-Martin Wiarda)

Das Kooperationsverbot von Bund und Ländern halte ich im Bildungsbereich für einen ziemlichen Anachronismus. Der Bildungsföderalismus ist generell, vorsichtig ausgedrückt, nicht das Gelbe vom Ei. Aber gerade bei der Digitalisierung ist es offenkundig, wo die Probleme liegen. Da die Ausstattung der Schulen in den Händen der Kommunen liegt, die Kommunen aber genau die politischen Einheiten mit den meisten Finanzproblemen sind, geht da nichts voran. Jeder Versuch, darum herum zu arbeiten, führt zu bürokratischen Monstern wie dem Digitalpakt, der massive Personalressourcen bindet, die dafür weder vorgesehen noch ausgebildet sind und Besseres zu tun hätten (da wären wir wieder beim Mangel an Personal), und andererseits aber die eigentlich notwendigen Investitionen nicht angehen darf. Da werden dann etwa Laptops beschafft, aber es gibt kein gescheites WLAN und keinen Wartungsservice, und was des Unfugs nicht noch mehr ist. Das ganze System kommt in so vielerlei Hinsicht aus der Zeit der Kreidetafeln.

2) Wenn der Weg ins nächste Dorf plötzlich 20-mal länger ist

Weil die Fahrbahn der B276 seit Beginn der Sommerferien saniert wird, ist die Straße gesperrt. Alternativen als Verbindung der beiden Orte gibt es keine. Die offizielle Umleitung führt über die Biebergemünder Ortsteile Lanzingen, Kassel und Wirtheim über Bad Orb, Jossgrund und Flörsbach - das macht insgesamt rund 37 Kilometer. Mal eben zum Lieblingsbäcker im Nachbardorf, zum Arzt oder ins Freibad, all das ist jetzt mit größerem Aufwand und langen Umwegen verbunden. Zahlreiche Menschen fühlen sich schlicht abgeschnitten. [...] "Neben der B276 verlaufen außerdem ein sehr gut ausgebauter Radweg und parallel dazu ein gut ausgebauter Fußweg", zeigt Klein Alternativen auf. [...] Für den Busverkehr gibt es zudem eine Sonderlösung über einen Wirtschaftsweg der Gemeinde. Diese Busse fahren während der Bauarbeiten in erhöhtem Takt. (Heiko Schneider, Hessenschau)

Dieses Praxisbeispiel zeigt das Mentalitätsproblem hinter der Mobilitätswende. Zwei Kilometer ist echt keine Strecke, das laufe ich ja schneller als ich diese Umfahrung benutze. Busse gibt es auch. Dass überhaupt Leute ständig ihr Auto benutzen, um zwei Kilometer zum Bäcker zu fahren, ist absurd. Für so was gibt es Fahrräder. Da ist wirklich noch viel Umdenken nötig. Und bevor das jetzt kommt: natürlich gibt es alte und gebrechliche Menschen. Aber erstens sind die nicht diejenigen, die sich hier beschweren, und zweitens gibt es auch hier den Bus. Diese Kurzstrecken mit dem Auto zu machen, wenn Alternativen problemlos vorhanden sind (!), ist ein Verhalten, dass wir uns angesichts der Klimakrise einfach nicht mehr leisten können - zumindest nicht regelmäßig aus purer Bequemlichkeit.

3) Bei wem Friedrich Merz in Berlin auftreten wollte

Man sieht hier eine Asymmetrie, die Politiker beachten sollten, wenn sie sich mit Journalisten zusammentun, um dieselben Sprüche zu klopfen. Journalisten können von Politikern einen Heroismus der Rücksichtslosigkeit verlangen, der in Kulturkämpfen solange für Gefolgschaft sorgt, wie sie so folgenlos bleiben wie Computerspiele. Die Wirkungssphäre der Politiker ist aber die Praxis, die Welt vorgefundener, nicht herbeigewünschter Verpflichtungen. Nichts ist leichter gesagt, abgetippt und per Interview und Pressemitteilung verbreitet als Klartext über die segensreichen Zumutungen der schrankenlosen Rede- und Meinungsfreiheit. Aber in der Praxis zeigt sich sehr schnell, dass es Meinungsmacher gibt, mit denen Politiker lieber doch nicht auf demselben Podium oder auch nur im selben Raum gesehen werden wollen. Deshalb brach Merz die Transatlantik-Brücke ab: Bei näherem Studium der Teilnehmerliste fiel in seinem Büro auf, dass auch Henryk M. Broder und Joachim Steinhöfel als Redner vorgesehen waren, zwei Maulhelden jenes rechten Randes des demokratischen Spektrums, mit dessen parteipolitischer Vertretung, der AfD, CDU und CSU in keiner Form zusammenarbeiten möchten. Die Kampagnenmedien der Anti-Cancel-Kultur, Springer-Blätter und „Neue Zürcher Zeitung“, konnten Merz dessen eigene Worte vorhalten, weil er im Interview die Sprachregelungen der Kampagne übernommen und Codewörter verwendet hatte. Den Missbrauch des Kampfes gegen rechts beklagen Broder, Steinhöfel und ihre Alliierten in alternativen und nicht-alternativen Medien seit Jahr und Tag: Scheinbar hatte Merz zugesichert, genau mit den Rechten reden zu wollen, die sich als Opfer linken Gesinnungsterrors in Szene setzen. So kann er sich nicht darüber beschweren, dass die Fahrt in den Keller ging. [...] Der Umgang von Friedrich Merz und seinen Beratern mit der von The Republic an ihn gerichteten Einladung war bestürzend unprofessionell. Im deutschen Hauptstadtjournalismus hat man sich vor allem darüber gewundert, dass Merz keine Vorkehrungen dagegen traf, in Gesellschaft von Freunden und Förderern der AfD angetroffen zu werden. Viel verwunderlicher ist aber die Bereitschaft, sich als Galionsfigur für eine Zusammenkunft zur Verfügung zu stellen, die gemäß der jahrzehntelangen Übung von Tholos Foundation und ATR nicht dem freien Austausch von Ideen dienen sollte, sondern dem Netzwerken unter Radikalen. (Patrick Bahners, FAZ)

Ich stimme der Kritik völlig zu. Merz ist hier in die Falle getappt, die ein zu nahes Kuscheln mit dem Rand immer mit sich bringt. Die Grünen wissen schon, warum sie Extinction Rebellion und die ganzen anderen Radikalinskis auf Armlänge halten und deren apokalyptischen Sprachgebrauch nicht übernehmen. Umgekehrt tappt die LINKE von Skandal zu Skandal, weil ihre Amtsträger das dumme Geschwätz des radikalen Randes übernehmen.

Eine weitere Bemerkung: Die Kritik an Merz und ihr Durchschlagen auch auf bürgerliche Leitmedien wie die FAZ ist der Kritik der Linken zu verdanken. Das ist im politischen Prozess normal. In den seltensten Fällen wird die Kritik der eigenen Seite so etwas hervorrufen; üblicherweise ist es die gegenseitige Kontrolle (Polithygiene, quasi) der im Wettbewerb stehenden Parteien. Nur weil gerne gemeckert wird, dass Cancel Culture stattfände und so ;)

4) Iron-Man ist bei „Eat the Rich“ mitgemeint

Wenn sich Armut als systematisches Problem doch mal als Thema in den Vordergrund drängt, dann wissen Autor*innen oft nicht, wie sie damit umgehen sollen. [...] Superheld*innen – so scheint es – haben entweder ein finanzielles Fangnetz oder bleiben vollständig unbeirrt von der Tatsache, dass sie neben ihren Heldentaten einem aufreibenden Nine-To-Five-Job nachgehen müssen. Armut ist fast nie Haupterzählstrang, sondern höchstens Nebenschauplatz; Probleme von Einzelnen, die sich im Laufe der Handlung von fast alleine löst. Im Justice League-Film rettet Batman die Farm von seinem Freund Superman, indem er die Bank kauft und dessen Schulden tilgt. In Avengers #2 von 2013 löst Iron Man die finanziellen Probleme von Spider-Man mit den Worten „We have Money“. [...] Systematische Armut, so scheint es, lässt sich schwer heroisieren. In der klassischen Held*innenreise, in der einzelne Protagonist*innen Herausforderungen meistern, haben gesellschaftliche Probleme, die sich auf individueller Ebene in der Regel nicht lösen lassen, kaum Raum. Um dem Ganzen gerecht zu werden, müssten Superheld*innen-Medien von der üblichen Formel abweichen und den Konsument*innen den ein oder anderen Konflikt zutrauen, der sich nicht innerhalb von wenigen Heften/Folgen von alleine löst. (Jonas Lübkert, Fan Theory of Everything)

Was Lübkert hier anspricht ist so was wie ein pet peeve von mir: dass in Geschichten Geld meistens keine Rolle spielt. Mein Lieblingsbeispiel ist die Serie "Sherlock" (ihr wisst schon, die mit Cumberbatch), in der weder Sherlock noch Watson irgendeinem Beruf nachgehen und Watson sogar nur deswegen bei Sherlock einzieht, weil er eben kein Geld hat, aber beide problemlos für ihr Hobby des Herum-Detektivierens ständig Taxis nehmen und anderere private Ausgaben leisten. In London, nicht eben dem billigsten Pflaster. Das Muster zieht sich praktisch durch sämtliche Geschichten: Geld existiert effektiv nicht oder höchstens als Lippenbekenntnis. Ich würde mir wünschen, dass hier mehr Realismus einzieht. Auch deswegen, damit eine stärkere Identifizierung möglich ist.

5) What’s the right amount of noise?

I've long been intrigued by the fact that poor and non-poor people have such different relationships to noise. I'm not talking about Victorian silence or library shushing, just about normal life. Poor people tend to live loudly, throw parties, play music, and squabble with each other. Middle-class folks don't, and they don't want their neighbors doing it either. They really, really don't want to live in the middle of cacophony. This is not just a sociological curiosity, either. Why is it that so many middle-class folks hate the idea of Section 8 vouchers being available for nearby apartments? Sure, some of it is racism, some of it is fear of drugs. But a large part of it is noise. Middle-class apartment dwellers are convinced that if poor people move in next door they're going to have to put up with nonstop yelling, whooping, partying, loud music playing, and so forth. Their lives will be ruined. That's one side of the story, anyway, and it's one I empathize with since I'm a middle-class guy who prefers that my neighbors wind down their parties by midnight. But what does it look like from the other side? In the Atlantic this month, Xochitl Gonzalez talks about his freshman year on an Ivy League campus: "Within a few weeks, the comfort that I and many of my fellow minority students had felt during those early cacophonous days had been eroded, one chastisement at a time. The passive-aggressive signals to wind our gatherings down were replaced by point-blank requests to make less noise, have less fun, do our living somewhere else, even though these rooms belonged to us, too. A boisterous conversation would lead to a classmate knocking on the door with a “Please quiet down.” A laugh that went a bit too loud or long in a computer cluster would be met with an admonishment." (Kevin Drum, Jabberwocky)

Ich finde das eine ziemlich spannende und gute Beobachtung von Drum. Ich selbst bin auch extrem lärmsensitiv, ich reagiere auf die geringsten Mengen von Umgebungslärm sehr negativ (ich könnte deswegen auch nicht in einer Großstadt wohnen). Aber das ist mit Sicherheit antrainiert; ich bin solch "leisen" Umgebungen groß geworden, habe nie woanders gewohnt und mir wurde in meiner Erziehung immer wieder eingebläut, wie wichtig es ist, leise zu sein. Drum liegt sicher richtig damit, dass das so ein "weißes Mittelschichtending" ist (die Oberschicht lebt abgekapselt genug als dass sie nicht leise sein muss, und die Unterschicht hat nicht die Möglichkeit dazu). Ich habe da keine Schlussfolgerung außer "hm, das ist wohl so", aber als Beobachtung ist es auf jeden Fall spannend.

6) Krieg, wie er auch hieße

Der Hauptzweck jener gesetzlich verordneter Beschimpfungen besteht darin, ausgewiesene Zielpersonen zu verunglimpfen und sie als fremdes Element in der Gesellschaft zu markieren. Der Aufwand, mit dem dieser Zweck erreicht werden kann, ist gering. Anstatt die der Opposition nahestehenden Medien vollständig auszulöschen, sorgt der Staat einfach dafür, dass der Mediensektor eine einheitliche Sprache spricht. Teils gehört zu diesen Praktiken auch das Verbot von „LGBT-Propaganda“ gegenüber Kindern und das Verbot, die Sowjetunion mit Nazideutschland zu vergleichen. [...] Die Sprache des heutigen Russlands wirkt wie eine Spielart des Orwellschen Neusprechs. Selbst in alltäglichen Gesprächen ziehen es die meisten Menschen vor, den Krieg nicht beim Namen zu nennen, sondern stattdessen den Kunstbegriff der „militärische Sonderoperation“ zu verwenden. Dieser Zustand wurde jedoch nicht dadurch erreicht, dass ein für alle verbindliches Narrativ geschaffen und mit Gewalt durchgesetzt wurde. Der Ansatz der Regierung war viel einfacher: Anstatt alle Medien in Propagandamaschinen zu verwandeln, diskriminierte oder kriminalisierte der Staat einfach diejenigen, die von der Regierungsposition abwichen. Dies führte dazu, dass die (verbleibenden) nicht-staatlichen Medien und die Öffentlichkeit sich proaktiv selbst zensierten. [...] Die Konformität in Putins Russland unterscheidet sich somit von derjenigen in den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts. Statt aktiv staatliche Narrative zu reproduzieren und sich an staatlich sanktionierten Praktiken zu beteiligen, wird vom Einzelnen erwartet, dass er nichts tut. Der Musterbürger ist kein Sturmtruppler, sondern ein zynischer Stubenhocker, der alles vermeidet, was auch nur annähernd politisch ist. (Dmitry Kurnosov, Verfassungsblog)

Die hier beschriebene Strategie ist von politischer Gesäßgeografie weitgehend unabhängig. Ihr können sich sowohl linke wie rechte autoritäre Systeme bedienen. Und sie ist höchst effizient. Ich halte es allerdings für einen Mythos, dass das bei den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts anders gewesen sei. Ob Nazi-Deutschland oder Sowjetunion, diese Systeme beruhten auch hauptsächlich nicht auf den begeisterten, fanatischen Massen, sondern auf den konformen Massen, die Sprachregelungen übernahmen und es vermieden, irgendwie mit dem System in Konflikt zu geraten. Das Phänomen war im Ostblock stärker ausgeprägt als in Nazi-Deutschland (was sicherlich mit dazu beiträgt, dass Putin es heute so leicht hat), aber das liegt eben auch daran, dass der Kommunismus als Diktatur nie die Zustimmungswerte der Nazi-Diktatur erreichte und letztere die Konformität ab 1943 derart aggressiv einforderte, dass die "Konformitätsperiode" dazwischen weitgehend aus den Köpfen verschwunden ist.

7) FDP-Bildungsministerin Stark-Watzinger: „Nächstes Schuljahr muss normal werden“

Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) sieht im Corona-Schutzkonzept für Herbst und Winter eine gute Grundlage für den Schulbetrieb im dritten Jahr der Pandemie. «Es freut mich besonders, dass wir bei den Schulen eine Regelung gefunden haben, die flächendeckende Schulschließungen vermeidet. Kinder und Jugendliche haben die Hauptlast bislang getragen», sagte Stark-Watzinger. «Das nächste Schuljahr muss ein normales werden, zumindest so normal, wie es nur möglich ist. Dafür werde ich kämpfen», versicherte die FDP-Politikerin. [...] Bundesjustiz-und Bundesgesundheitsministerium hatten in dieser Woche ihr Corona-Schutzkonzept für den Herbst und den Winter vorgestellt. Ein zentrales Instrument ist die Maskenpflicht, die ab Oktober in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens wieder möglich sein soll. An Schulen darf demnach nur dann eine Maskenpflicht verhängt werden, wenn der Präsenzunterricht auszufallen droht – und nur ab Klasse fünf. «Maske ist das letzte Mittel, bevor Präsenzunterricht ausfällt», erklärte Stark-Watzinger dazu. (News4Teachers)

Ich teile Stark-Watzingers Wunsch nach einem normalen Schuljahr selbstverständlich. Allein, ihre Aussagen hier erinnern mich daran, sich vor den Spiegel zu stellen und dreimal "Bloody Mary" zu sagen. Es sind Beschwörungsformeln. "Das nächste Schuljahr muss normal werden!" Das klingt, als hätte sie es in der Hand. Hat sie aber nicht. Ob das nächste Jahr normal wird oder nicht entscheiden nicht wir, entscheidet nicht sie, das entscheidet das Pandemiegeschehen. Maskenmandate zu verbieten und Tests abzuschaffen mag für eine Weile einen Anschein von Normalität herstellen, genauso wie das strikte Verbot von Fernunterricht oder anderen Hybridformen (überhaupt, die Verbote die ganze Zeit, die vor allem die FDP fordert!). Aber sollte das Pandemiegeschehen wieder derart ausarten wie in den letzten beiden Herbsten, dann haben wir keine Normalität, so oder so nicht. Und das hat die Ministerin einfach nicht in der Hand. Sich hinter diesen Beschwörungsformeln zu verstecken und auf das Beste zu hoffen erinnert mich sehr an Merkelismus.

8) Is Liz Truss sowing the seeds of her own downfall?

A Truss victory will be a victory for a conservatism we rarely see: conservatism with the mask ripped off. Truss will dispense with David Cameron’s soft words about building a ‘Big Society’ to protect the poor and sick. She will forget Theresa May and Boris Johnson’s commitment to levelling up. She will maintain that tax cuts for the wealthy will produce trickle-down economic benefits for the rest of society, even though they have only until October to trickle down and the UK is entering a recession where money will just be trickling away. She doesn’t know and her allies are not warning her that victories are as dangerous as defeats. Winners have no excuses. They are the masters now and must carry the blame and responsibilities victory brings. [...] If she is not, her victory will have terrible consequences. Our first thoughts should be with all those who will suffer if they do not receive what Truss calls ‘handouts’ and what a decent person would call ‘help’. But the hard-faced Conservative party, its mask yanked off, its cold prejudices exposed, will suffer too. (Nick Cohen, Spectator)

Es ist sehr gut möglich, dass ein solcher Effekt eintritt. Wie die Republicans gerade in den USA erkennen, ist der Moment des Sieges wegen des beinahe unvermeidlichen "overreach" ein sehr gefährlicher. Natürlich kennt das Vereinigte Königreich den "conservatism with the mask ripped off" bereits aus der Thatcher-Ära, Und das hat die Partei auch nicht von anderthalb Dekaden an der Macht abgehalten. Aber ob es so clever ist, auf drei fehlgeschlagene konservative Regierungen in Folge nun eine solche Radikalversion folgen zu lassen, sei mal dahingestellt. Wir werden es, wenn die Umfragen auch nur annähernd stimmen, bald erfahren.

9) In an Unequal Economy, the Poor Face Inflation Now and Job Loss Later

Higher-income households built up savings and wealth during the early stages of the pandemic as they stayed at home and their stocks, houses and other assets rose in value. Between those stockpiles and solid wage growth, many have been able to keep spending even as costs climb. But data and anecdotes suggest that lower-income households, despite the resilient job market, are struggling more profoundly with inflation. That divergence poses a challenge for the Federal Reserve, which is hoping that higher interest rates will slow consumer spending and ease pressure on prices across the economy. Already, there are signs that poorer families are cutting back. If richer families don’t pull back as much — if they keep going on vacations, dining out and buying new cars and second homes — many prices could keep rising. The Fed might need to raise interest rates even more to bring inflation under control, and that could cause a sharper slowdown. In that case, poorer families will almost certainly bear the brunt again, because low-wage workers are often the first to lose hours and jobs. The bifurcated economy, and the policy decisions that stem from it, could become a double whammy for them, inflicting higher costs today and unemployment tomorrow. “That’s the perfect storm, if unemployment increases,” said Mark Brown, chief executive of West Houston Assistance Ministries, which provides food, rental assistance and other forms of aid to people in need. “So many folks are so very close to the edge.” (Jeanna Smialek/Ben Casselman, New York Times)

Das ist genau der Punkt, an dem meine eigene Kritik bei der Inflationsbekämpfung auch ansetzt. Ja, die armen Menschen sind natürlich (auch) von der Inflation betroffen, aber die üblichen Rezepte bei ihrer Bekämpfung - das bewusste Schaffen einer milden Rezession durch die Geldpolitik - schaden ihnen auch. Sie werden quasi doppelt getroffen. Ich verweise deswegen auf diesen guten Vorschlag zur Bekämpfung der Inflation, der direkt dem MMT-Werkzeugkasten entspringt.

10) Migration erleichtern, Asylrecht lockern – So will die Ampel Fachkräfte anlocken

Zentraler Punkt soll die „Chancenkarte“ sein, die auch im Koalitionsvertrag steht. „In einem neuen Punktesystem wollen wir personen- und berufsbezogene Kriterien anrechnen, um Menschen mit einem hohen Integrationspotenzial eine attraktive Perspektive zu bieten. Mit der Chancenkarte werden wir auch Unternehmensgründern leichter einen Start in Deutschland ermöglichen“, heißt es dazu. Noch in dieser Legislaturperiode soll es so weit sein. Die Chancenkarte will auch der Koalitionspartner FDP. „Deutschland folgt so endlich dem Vorbild erfolgreicher Einwanderungsländer wie Kanada“, sagt deren arbeitsmarktpolitische Sprecher Pascal Kober im Gespräch mit WELT. „Das Asylrecht wird dadurch nicht ausgehebelt“, stellt Kober klar. „Dieser Titel wäre neu für alle, die arbeiten wollen und Qualifikationen nachweisen können.“ Konkret soll es mehr Punkte geben, je höher das Sprachniveau und die Qualifikation ist. „Ab einer bestimmten Zahl darf man zum Zweck der Arbeitssuche nach Deutschland kommen, unter der Bedingung, dass man sich selbst finanzieren kann.“ [...] Zusätzlich wollen die Liberalen den sogenannten Spurwechsel ausbauen. Das bedeutet: Wer Asyl beantragt, tatsächlich aber schon bei Einreise die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis mitbringt, dem darf „ein laufendes Asylverfahren bei der Einwanderung in den Arbeitsmarkt nicht entgegenstehen“. [...] Grundsätzlich ist aus Kreisen der Bundesregierung zu hören, man wolle die Fehler, die um Zuge der Fluchtbewegung ab 2015 gemacht wurden, vermeiden. So dürfen Asylbewerber in der Regel nicht arbeiten, wenn sie in einer Asylunterkunft leben oder ihr Verfahren nicht abgeschlossen ist – was lange Monate dauern kann. [...] Noch ein weiter Punkt im FDP-Papier wäre eine tiefgreifende Reform: die geplante Einführung von Englisch als zweite Verwaltungssprache. Auch das soll Behördengänge vereinfachen und für schnellere Abläufe sorgen, weil Dolmetscher oder beglaubigte Übersetzungen in vielen Fällen überflüssig wären. Das Vorhaben haben bislang weder die Grünen noch die SPD auf dem Schirm. (Jan Klauth, Welt)

Wenn man diese höchst vernünftigen Vorschläge liest, stellt man sich eigentlich nur eine Frage: Wie kann es sein, dass das immer noch nicht Gesetz ist? Wie bescheuert muss ein Land sein, das immer noch Geflüchteten und Asylbewerbenden die Arbeitsaufnahme verbietet oder zumindest massiv erschwert, obwohl es kaum etwas besser integrierendes als Arbeit gibt? Auch die "Chancenkarte" (nicht eben der beste Name, aber hey) hätte schon vor 20 Jahren kommen müssen. Oder dass die Behörden - Schock! - grundsätzlich englischfähig sein müssen. Gerade an solchen Vorhaben bin ich super froh, dass wir die FDP an der Regierung haben - ohne die CDU, die solche Sachen sofort blockieren würde.

Resterampe

a) Sehr guter Beitrag von Jürgen Zimmerer zum Vergleich Documenta und Humbold-Forum.

b) Ich bin mir sehr unsicher, wie ich den Manchin-Schumer-Deal bewerten soll, daher hier gute Texte dazu: Adam Tooze, Robinson Meyer, Kevin Drum

c) GEW fordert A13 für alle Lehrkräfte. Wird auch Zeit.

d) Joe Biden's greatest accomplishment so far.

e) FDP setzt sich durch: keine Schutzmaßnahmen an Schulen. Freiheit!

f) Mehr zu Yang und seiner Forward-Party.

g) Der SCOTUS ist krass unpopulär geworden dank der rechten Richter, aber sämtliche Reformideen sind auch unpopulär, also wird er wahrscheinlich wie der Kongress werden: eine zentrale Institution, vom ganzen Land gehasst. Großartig.

h) Gute Analyse des Taken-Franchises.

i) Wer noch nie eine Wahl gewonnen hat, hat kaum Chancen eine für den Senat zu gewinnen. Relevant für die GOP im November.

j) Paradigmenwechsel beim Infektionsschutz im Grundgesetz

k) Rechte Fieberträume.

l) Gute Einordnung für die Reform des Stabilitätspakts.

m) Gute Visualisierung, warum Schulleitungsmangel besteht.

n) Was so passiert, wenn man um der Grausamkeit willen grausam sein will. Besonders relevant finde ich, dass private Investoren zur Umgehung des politischen Prozesses benutzt werden. Diese Umgehungen von formalen Beschränkungen sind einfach scheiße.

o) Rezension von Bill McGuires neuem Buch.

p) Guter Podcast zu den oligopolistischen Strukturen des deutschen Strommarkts.

q) Die FDP hat eine richtig gute Idee.

r) Der Abwärtstrend bei der Jugendkriminalität hält an. Zumindest in den USA. Aber das dürfte hierzulande nicht anders sein.

s) Es gibt keinen wahrnehmbaren Unterschied zwischen analog und digital. Ist wie bei allen "Feinschmecker"-Sachen. Daran glauben ist alles. Das Ambiente macht es aus, der Ruf und natürlich der Preis.

t) Why are we kneecapping the recovery?

u) Diese Korruption bei den Öffentlich-Rechtlichen ist ein Volldesaster.

v) Die Grünen legen echt einen Pragmatismus an den Tag in dieser Regierung, da können sich andere Parteien echt eine Scheibe abschneiden.

w) Eine Dissertation kommt zu dem Ergebnis, dass Lehrkräfte vor allem Erfahrungswissen und persönliche Theorien und nicht didaktische und pädagogische Theorie im Unterricht benutzen. Das wundert mich keine Sekunde. Die Theorie spielt ja nach dem Ref de facto keine Rolle mehr und war im Ref üblicherweise nicht eben positiv konnotiert.

x) Die Trumpisten kündigen weiterhin offen an, völlig inkompetente Leute an die Spitze der Bundesbehörden zu setzen, um diese zu zerstören. Dazu gehört auch die komplette Politisierung der Behörden.

y) Guter Thread zum Kauf von Roomba durch Amazon.

z) Das Problem an den Generälen, die verhindert haben, dass Trump irgendwo Krieg anfängt.

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