Gedenken an Oscar Wilde

Am 30.11. vor 122 Jahren ist Oscar Wilde gestorben. Er wurde
bekannt durch seinen einzigen Roman „Das Bildnis des
Dorian Gray“.
Die Geschichte handelt von einem Portrait. Das Bild verändert
sich mit dem Gemütszustand Grays. Ein wenig ähnelt es der
Verfilmung von „Hinter dem Horizont", mit dem leider
verstorbenen Schauspieler Robin Williams.
Mich hat am meisten seine Märchensammlung fasziniert. Da
gibt es z. B. die Geschichte vom Riesen, der einen schönen
Garten besaß, in dem die Kinder nicht spielen durften. Er jagte
sie weg, und als er ihnen verboten hatte, darin zu spielen,
wurde der Garten hässlich. Die Pflanzen und Blumen
verwelkten.
Als er das sah, wurde der Riese traurig. Er wurde depressiv,
und mit einem Male ließ er die Kinder doch spielen und der
Garten wurde wieder wunderschön …
Es gibt auch ein schönes Märchen von einer Elster, die im
Glockenturm wohnt und Silber klaute … Die
Märchensammlung heißt: „Der glückliche Prinz". Gibt es von
fast jedem großen Verlag! Am günstigsten ist sie natürlich von
Reclam ... Da kostet sie 3,60 €.  Leider drucken und bevorraten nicht
mehr die Verlage alle Klassiker. Es gibt vieles als E-Book oder
on Demand. Reclam pflegt die Klassiker.
Die Märchen von Wilde sind eine Wohltat für die Seele.
Oscar Wilde saß im Gefängnis, weil er schwul war. Er war Ire
und einer der größten englischsprachigen Romantiker. Es gibt
kein schöneres Buch als die Märchen von Oscar Wilde.

Hier die Geschichte vom Riesen:

Der selbstsüchtige Riese

Oscar Wilde

Jeden Nachmittag, wenn sie aus der Schule kamen, pflegten
die Kinder in des Riesen Garten zu gehen und dort zu spielen.
Es war ein großer, lieblicher Garten mit weichem, grünem
Gras. Hier und da standen über dem Gras schöne Blumen wie
Sterne, und es waren dort zwölf Pfirsichbäume, die im Frühling
zarte, rosige und perlfarbene Blüten hatten und im Herbst
reiche Früchte trugen. Die Vögel saßen auf den Zweigen und
sangen so süß, dass die Kinder ihre Spiele unterbrachen, um
ihnen zu lauschen. »Wie glücklich sind wir hier!« riefen sie
einander zu.
Eines Tages kam der Riese zurück. Er hatte seinen Freund
Oger in Cornwall besucht und war sieben Jahre bei ihm
gewesen. Als die sieben Jahre vorbei waren, hatte er alles
gesagt, was er wusste, denn seine Unterhaltungsgabe war
begrenzt, und er beschloss, in seine eigene Burg
zurückzukehren. Als er ankam, sah er die Kinder in dem
Garten spielen.
»Was macht ihr hier?« schrie er mit sehr barscher Stimme,
und die Kinder rannten davon.
»Mein eigener Garten ist mein eigener Garten,« sagte der
Riese; »das kann jeder verstehen, und ich erlaube niemand,
darin zu spielen als mir selbst.« Deshalb baute er ringsherum
eine hohe Mauer und befestigte eine Tafel daran:
Eintritt bei Strafe verboten.
Er war ein sehr selbstsüchtiger Riese.
Die armen Kinder hatten nun keinen Platz, wo sie spielen
konnten. Sie versuchten auf der Straße zu spielen, aber die
Straße war sehr staubig und voll von harten Steinen, und das
liebten sie nicht. Sie pflegten rund um die hohe Mauer zu
gehen, wenn ihr Unterricht vorbei war, und von dem schönen
Garten dahinter zu reden. »Wie glücklich waren wir dort,«
sagten sie zueinander.
Dann kam der Frühling, und überall im Land waren kleine
Blumen und kleine Vögel. Nur im Garten des selbstsüchtigen
Riesen war es noch Winter. Die Vögel wollten darin nicht
singen, weil dort keine Kinder waren, und die Bäume
vergaßen zu blühen. Einmal steckte eine schöne Blume ihren
Kopf aus dem Gras hervor, aber als sie die Tafel sah, taten ihr
die Kinder so leid, dass sie wieder in den Boden hinabglitt und
sich schlafen legte. Die einzigen Wesen, die daran ihre Freude
hatten, waren Schnee und Frost. »Der Frühling hat diesen
Garten vergessen,« sagten sie, »deshalb wollen wir hier das
ganze Jahr durch wohnen.« Der Schnee bedeckte das Gras
mit seinem dicken, weißen Mantel, und der Frost bemalte alle
Bäume mit Silber. Dann luden sie den Nordwind zum Besuch
ein, und er kam. Er war in Pelze eingehüllt und brüllte den
ganzen Tag im Garten herum und blies die Dachkamine
herab. »Dies ist ein entzückender Platz,« sagte er; »wir
müssen den Hagel bitten, herzukommen.« So kam der Hagel.
Er rasselte jeden Tag drei Stunden lang auf das Dach der
Burg, bis er fast alle Dachziegel zerbrochen hatte, und dann
rannte er immer im Kreis durch den Garten, so schnell er nur
konnte. Er war in Grau gekleidet, und sein Atem war wie Eis.
»Ich verstehe nicht, warum der Frühling so lange ausbleibt,«
sagte der selbstsüchtige Riese, als er am Fenster saß und auf
seinen kalten, weißen Garten hinaussah; »hoffentlich gibt es
einen Witterungsumschlag.«
Aber der Frühling kam überhaupt nicht, ebenso wenig wie der
Sommer. Der Herbst brachte in jeden Garten goldene Frucht,
nur in des Riesen Garten brachte er keine. »Er ist zu
selbstsüchtig,« sagte er. So war es denn dort immer Winter,
und der Nordwind und der Hagel und der Frost und der
Schnee tanzten zwischen den Bäumen umher.
Eines Morgens lag der Riese wach im Bett, da hörte er eine
liebliche Musik. Sie klang so süß an seine Ohren, dass er
glaubte, des Königs Musiker kämen vorbei. Es war in
Wirklichkeit nur ein kleiner Hänfling, der draußen vor seinem
Fenster sang, aber er hatte so lange Zeit keine Vögel mehr in
seinem Garten singen hören, dass es ihm die schönste Musik
von der Welt zu sein dünkte. Dann hörte der Hagel auf, über
seinem Kopf zu tanzen, der Nordwind brüllte nicht mehr, und
ein entzückender Duft kam durch den offenen Fensterflügel zu
ihm. »Ich glaube, der Frühling ist endlich gekommen,« sagte
der Riese; und er sprang aus dem Bett und schaute hinaus.
Was sah er?
Er sah das wundervollste Bild. Durch ein kleines Loch in der
Mauer waren die Kinder hereingekrochen und saßen in den
Zweigen der Bäume. Auf jedem Baum, den er sehen konnte,
war ein kleines Kind. Und die Bäume waren so froh, die Kinder
wiederzuhaben, dass sie sich selbst mit Blüten bedeckt hatten
und ihre Arme zärtlich um die Köpfe der Kinder legten. Die
Vögel flogen umher und zwitscherten vor Entzücken, und die
Blumen blickten aus dem grünen Gras hervor und lachten. Es
war ein lieblicher Anblick, nur in einer Ecke war noch Winter.
Es war die äußerste Ecke des Gartens, und in ihr stand ein
kleiner Knabe. Er war so winzig, dass er nicht bis zu den
Zweigen des Baumes hinaufreichen konnte, und er wanderte
immer um ihn herum und weinte bitterlich. Der arme Baum war
noch ganz mit Eis und Schnee bedeckt, und der Nordwind
blies und brüllte über ihn weg. »Klett're hinauf, kleiner Knabe,«
sagte der Baum und bog seine Zweige hinab, so weit er
konnte; aber der Knabe war zu winzig.
Und des Riesen Herz schmolz, als er hinausblickte. »Wie
selbstsüchtig ich gewesen bin!« sagte er; »jetzt weiß ich,
warum der Frühling nicht hierherkommen wollte. Ich werde
den armen, kleinen Knaben oben auf den Baum setzen, und
dann will ich die Mauer umstoßen, und mein Garten soll für
alle Zeit der Spielplatz der Kinder sein.« Es war ihm wirklich
sehr leid, was er getan hatte.
Er stieg hinab, öffnete ganz sanft die Vordertüre und ging
hinaus in den Garten. Aber als ihn die Kinder sahen, waren sie
so erschrocken, dass sie alle davonliefen, und es im Garten
wieder Winter wurde. Nur der kleine Junge lief nicht fort, denn
seine Augen waren so voll von Tränen, dass er den Riesen
gar nicht kommen sah. Und der Riese stahl sich hinter ihn,
nahm ihn behutsam in die Hand und setzte ihn auf den Baum.
Und der Baum brach sofort in Blüten aus, und die Vögel
kamen und sangen darauf, und der kleine Junge streckte
seine beiden Arme aus, schlang sie rund um des Riesen
Nacken und küsste ihn. Und als die anderen Kinder sahen,
dass der Riese nicht mehr böse war, kamen sie
zurückgerannt, und mit ihnen kam der Frühling. »Es ist jetzt
euer Garten, kleine Kinder,« sagte der Riese, und er nahm
eine große Axt und schlug die Mauer nieder. Und als die Leute
um zwölf Uhr zum Markt gingen, da fanden sie den Riesen
spielend mit den Kindern in dem schönsten Garten, den sie je
gesehen hatten. Den ganzen Tag lang spielten sie, und des
Abends kamen sie zum Riesen, um sich von ihm zu
verabschieden.
»Aber wo ist euer kleiner Gefährte?« fragte er, »der Knabe,
den ich auf den Baum setzte.« Der Riese liebte ihn am
meisten, weil er ihn geküsst hatte.
»Wir wissen es nicht,« antworteten die Kinder; »er ist
fortgegangen.«
»Ihr müsst ihm bestimmt sagen, dass er morgen wieder
hierherkommt,« sagte der Riese. Aber die Kinder erklärten, sie
wüssten nicht, wo er wohne, und hätten ihn nie vorher
gesehen; und der Riese fühlte sich sehr betrübt.
Jeden Nachmittag, wenn die Schule vorbei war, kamen die
Kinder und spielten mit dem Riesen. Aber der kleine Knabe,
den der Riese liebte, wurde nie wieder gesehen. Der Riese
war sehr gütig zu allen Kindern, aber er sehnte sich nach
seinem ersten kleinen Freund und sprach oft von ihm. »Wie
gerne möchte ich ihn sehen!« pflegte er zu sagen.
Jahre vergingen, und der Riese wurde sehr alt und schwach.
Er konnte nicht mehr draußen spielen, und so saß er in einem
hohen Lehnstuhl und beobachtete die Kinder bei ihren Spielen
und bewunderte seinen Garten. »Ich habe viele schöne
Blumen,« sagte er, »aber die Kinder sind die schönsten
Blumen von allen.«
Eines Wintermorgens blickte er aus seinem Fenster hinaus,
als er sich anzog. Er hasste jetzt den Winter nicht mehr, denn
er wusste, dass er nur ein schlafender Frühling war, und dass
die Blumen sich dann ausruhten.
Plötzlich rieb er sich die Augen vor Staunen und schaute
atemlos hinaus. Es war wirklich ein wunderbarer Anblick. Im
äußersten Winkel des Gartens war ein Baum ganz bedeckt mit
lieblichen, weißen Blumen. Seine Zweige waren ganz golden,
und silberne Früchte hingen von ihnen herab, und darunter
stand der kleine Knabe, den er geliebt hatte.
In großer Freude rannte der Riese die Treppe hinab und
hinaus in den Garten. Er eilte über das Gras und näherte sich
dem Kinde. Als er dicht bei ihm war, wurde sein Gesicht rot
vor Zorn, und er fragte: »Wer hat es gewagt, dich zu
verwunden?« Denn aus den Handflächen des Kindes waren
zwei Nägelmale, und zwei Nägelmale waren auf den kleinen
Füßen.
»Wer hat es gewagt, dich zu verwunden?« schrie der Riese;
»sage es mir, damit ich mein großes Schwert nehme und ihn
erschlage.«
»Nein!« antwortete das Kind; »denn dies sind Wunden der
Liebe.«
»Wer bist du?« fragte der Riese, und eine seltsame Ehrfurcht
befiel ihn, und er kniete vor dem kleinen Kinde.
Und das Kind lächelte den Riesen an und sagte zu ihm: »Du
ließest mich einmal in deinem Garten spielen; heute sollst du
mit mir in meinen Garten kommen, der das Paradies ist.« Und
als die Kinder an diesem Nachmittag hineinliefen, fanden sie
den Riesen tot unter dem Baum liegen, ganz bedeckt mit
weißen Blüten.

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