Leitfaden für eine längst verdrängte Kunstform.

Wer heute, aus sexuellem Drängen, nach willfährigen Mitspielern sucht, wird einer Vielzahl von Geschlechtervariationen gegenüberstehen. Für jeden Geschmack etwas dabei. Da muss niemand mehr leer ausgehen. Wer da nicht das Passende für sich findet, dem ist nicht zu helfen. Ob nun für einmal oder gleich für eine längere Lebensphase. So etwas lässt sich bereits im Vorfeld klären, damit es später nicht zu unschönen Szenen kommt. Früher wurden solche Verbindungen nicht selten von den Eltern eingefädelt. Inzwischen erscheint dieses Modell allerdings veraltet. Heute umgeht man die elterliche Fürsorge und stellt eigenmächtig die erworbene Liebste ihnen bei Kaffee und Kuchen am Sonntagnachmittag vor.
„Papa, Mama, das ist Lisa und sie ist schwanger.“
Meist sind da die zukünftigen Großeltern einigermaßen überrascht.
Die so augenblicklich um Jahre gealterten Enkelerwartenden reagieren meist unterschiedlich.
„Oh, du bist also die Lisa. Bist du nicht noch etwas jung, um Mutter zu werden?“, zeigen sich Mütter besorgt und hassen die Schwiegertochter in spe bereits jetzt schon.
Väter hingegen zeigen sich stolz und knuffen dem Sohn augenzwinkernd in die Seite. Das soll so viel heißen wie: „Wie der Vater so der Sohn.“
Dann geht er seiner sonntäglichen Routine nach. Toilettengang und anschließend die Sportschau. Väter machen nicht so ein Gewese.
Noch ehe der Vater zum dritten Mal die Toilettenspülung bedient hat, wurde Lisa auf dem heißen Stuhl von der Mutter gegrillt. Nachdem sie alle Fragen zur Unzufriedenheit der Mutter beantwortet hat, darf sie gehen und dann wird sich der eigene Filius zur Brust genommen.
Nun muss er Rede und Antwort stehen. So läuft es ab unter deutschen Dächern.
Nach dem intensiven Gedankenaustausch mit der Mutter stellt sich dann nur noch eine Frage. Wie trenne ich mich von der zukünftigen Frau, die ja, bei Lichte betrachtet, wie die Mutter betont, nicht in die Familie hineinpasst. Diesen gutgemeinten Rat gibt sie ihrem Sohn mit auf den Weg in sein Kinderzimmer. Ein jeder wohlerzogner Sohn, nimmt sich zu Herzen, was ihm die Frau, die ihn, nach eigenem Bekunden, unter stundenlangen heftigen Schmerzen geboren hat.
„Ich will ja nur dein Bestes.“
Mit diesen Worten hat sie ihn aus dem familiären Beichtstuhl entlassen.
Der gehorsame Sohn sitzt nun in seinem Zimmer und die Sorge treibt ihn um: „Wie mache ich bloß Schluss, ohne großes Geheule.“
Richtig coole Jungs würden nun eine sachlich kompakte und kurzgehaltene SMS verschicken und die Angelegenheit wäre aus der Welt. In etwa so: „Ich mache Schluss. Tschüss.“ Eventuell dann noch ein passendes Emoji dazu.
Mehr ist nicht notwendig. Andere geben sich mehr Mühe und lassen sich zu einer WhatsApp-Sprachnachricht hinreißen. Dies allerdings nur in alkoholisiertem Zustand, weil sie dann wesentlich mutiger sind. Einige wenige machen es auch durch einen Facebookpost öffentlich, in der Hoffnung, irgendwer wird es schon lesen und ihr mitteilen. Zu welchem Mittel auch immer diese coolen Jungs greifen, eines steht für sie außer Frage. Ein persönliches Gespräch, womöglich Face to Face, kommt keinesfalls infrage, denn dies birgt die Gefahr, sich unangenehmen Fragen stellen zu müssen.
Nun ist unser angehender junger Vater weder cool, noch besonders mutig. Darum wählt er einen anderen Weg. Er wagt sich an etwas, was zu einer fast ausgestorbenen Spezies zählt, dem handschriftlich verfassten Brief. Es ist die Königsdisziplin. Dieses Ansinnen braucht eine perfekte Vorbereitung und die entsprechenden Arbeits- und Herstellungsutensilien. Im Internet hat er sich kundig gemacht, wie man solche Briefe verfasst. Schonend und einfühlsam, so soll der Brief inhaltlich gestaltet sein. Aber eben auch schonungslos in dem Bestreben sich einer einvernehmlichen Trennung, die damit seinerseits vorliegt, nun ihrerseits anzunehmen, ohne das es zu einem Dauerbeschuss an Gegenbriefen kommt, indem sie ihn um eine Meinungsänderung anfleht. Dies ist seine größte Sorge.
Am Tag besorgt er, was zu besorgen ist. Büttenpapier, Tintenfass und Feder. Denn wie er von seinen briefeschreibenden Vorbildern gelernt hat, ist die „Form“ schon die halbe Miete. Goethe, Voltaire, der taube Beethoven und nicht zuletzt Plinius der Jüngere.
Der Junge, der zum Vater gereift, hat alle ihre Briefe gelesen, denen gemein ist, dass sie alle an Frauen gingen. Damit waren sie als Vorlagen für seinen Brief bestens geeignet. Er sah darin auch die Möglichkeit einige Passagen und Wortwendungen abzukupfern, da er sich sicher ist, Lisa noch nie einen Brief von Plinius dem Jüngeren erhalten zu haben. Nun sitzt er da und wartet auf die Nacht, denn seine Vorbilder verfassten ihre Gedanken stets nächtens.
Mit einer Kanne Kaffee und zwei Flaschen koffeinhaltigen Softdrinks, erwartet er nun auf Mitternacht. Eben schlägt die Turmuhr zwölf Mal und so entsteht ein Brief, den so in dieser Form wohl lange keine Frau, geschweige eine angehende Mutter je erhalten wird.

Mein geliebter Schatz!

Dein bezauberndes Antlitz vor Augen und mit Liebe im Herzen, sitze ich bei Kerzenschein und einem klassischen Menuett da. Den Musenkuss noch erwartend, füllt sich bereits Zeile um Zeile. Deine Gegenwärtigkeit in meinem Elternhaus, welches Dich empfangen durfte, war im Nachhinein von Kontroversen durchsetzt. Meines Vaters Begeisterung über deine Anmut, wurde seitens meiner Mutter teilweise konterkariert. Doch trübt dies nicht meiner unstillbaren Liebe zu Dir. Du süßliches Gewächs aus Gottes Garten, meine Sehnsucht nach dir ist unermesslich. Du, die aufgehende Sonne eines wolkenverhangenen Firmaments. Verzeih den Klecks aus Tinte, der mir soeben entstanden ist. Er soll dich nicht an meiner Liebe zweifeln lassen. Die Nacht mit dir, aus der Wunderbares erwächst, soll mich allgegenwärtig daran erinnern, was wahre Zuneigung ist.
Mit Freude kam ich deinem Drängen gerne nach, was mich zu einem Mann gemacht hat. Etwas was ich nicht missen möchte. Ohne Dich wäre es kaum möglich gewesen. Deine Ausdauer, einfach bewundernswert und verehrungswürdig. Dennoch und meine Hand zittert, jetzt wo die Zeilen ins Entstehen kommen, die der Anlass meines Schreibens sind. Meine Hand blutet, symbolisch, die die Feder führt, der es obliegt, nun eine schmerzliche Absage erteilen zu müssen. Es war ein Wiegen von Weh und Ach. Das Ach obsiegte, was mir mein geschundenes  Herzchen, so schwer macht und Tränen benetzen das Pergament, welches jetzt, da Du es liest, vor deinem Auge erscheint. Möge Verständnis das Gefühl sein, was dich erheischt. Mein Wunsch nun, möge dein Wunsch, mich vor dem Altar zu ehelichen, nur eine Laune der Natur sein. Denn ich kann, mütterlicherseits, dem nur eine Absage erteilen, weil die Verbindung zwischen uns Liebenden nicht gerne gesehen ist. Selbst Vater, was jedoch ohne Belang ist, hegt Zweifel an einer Verbindung, die nicht dem Standesdünkel zu entsprechen scheint. Ich kämpfte wie ein angeschossener Löwe, wie eine flüchtende Gazelle, ja wie ein tollwütiger Hund, doch waren meine Bemühungen der Erfolg verwehrt, da der Entzug Taschengelds in Aussicht steht.
Pekuniär lässt man mir keine andere Wahl. Schwer wiegt das Wort, welches ich nun an Dich richten nicht umhinkomme. Schluss. Aus. Sense. Suche Dir bitte eines der Attribute aus, welches Dir mehr behagt.
In unendlicher Liebe und Dankbarkeit für dein Verständnis, welches ich voraussetze.
Dein ewigwährender Vater deines Kindes.

Postskriptum

Von einer Rückantwort bitte ich freundlichst abzusehen. Auch, um unseren gemeinsamen Schmerz nicht neu aufflammen zu lassen.

Postpostskriptum

Falls Dir an einem unverbindlichen Schäferstündchen gelegen ist, so stehe ich selbstverständlich zur Verfügung, wenn es ohne weitere Verpflichtungen bleibt. Die Entscheidung darüber stelle ich dir anheim.

Postpostpostskriptum

Beim nochmaligen Korrektorat der Niederschrift, über meine Absichtserklärung zu Deiner Niederkunft, die ja alsbald ins Haus steht, spürte ich eine Versteifung, nicht nur im Nacken und Schulterbereich, was mich und ich werfe alles Gesagte über den Haufen der Geschichte, zu dem Entschlusse drängt, Dir alsbald mich zur Verfügung stelle, zwecks diskreten Aufeinandertreffens gegenseitiger Lenden. Höflichst erbitte ich um rasche Offerte, denn es drängt.

Bereits am nächsten Morgen fand der junge Mann, der so viel Herzblut in seinem Brief vergossen hatte, eine kurze und klar formulierte Antwort, die keinerlei Zweifel daran ließ, was Lisa von seinen Worten hielt. Komprimiert in der Wortfülle und inhaltlich unmissverständlich, schickte sie eine SMS an ihn mit: „Pisser!“

So endet eine der tragischsten Liebesgeschichten seit Menschheitsgedenken. Die Niederschrift dieser Niedertracht befindet sich heute noch in Privatbesitz und öffentlich nicht einsehbar. Über die Geburt, des einseitig ungewollten Kindes geben die Geschichtsbücher nichts her. Wahrscheinlich war es zu unbedeutend, als das es Erwähnung finden sollte.
Bösartige Behauptungen, diese Geschichte sei doch frei erfunden, schließe ich mich vollumfänglich an.
Sollte sich dennoch jemand angesprochen fühlen, der sich hier wiedererkennt, so möge er sein Gewissen prüfen, ob womöglich ein eklatantes Fehlverhalten vorliegt.

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