„Besser gut geklaut, als schlecht erfunden!“
An dieser von mir persönlich entwickelten These, die ich zukünftig auch als Postkarte, T-Shirt und als Kaffeetasse herausgeben werde, habe ich nicht weniger als zwei Wochen gefeilt. Ich bin kaum zum Schlafen gekommen, was man mir auch deutlich ansieht. In meinem Kopf schwirrte nur der Gedanke nach der ultimativen Weisheit, die ich in diese eine Zeile gießen wollte. Der perfekte Satz, den je jemand zu Papier gebracht hat. Nicht mehr und auch nicht weniger hatte ich mir vorgenommen. Mir war bewusst, eine Herkulesaufgabe stand vor mir.
Trotz gehöriger Selbstzweifel und harter Kritik an mir selbst, von mir ausgesprochen und letztlich auch von mir zähneknirschend akzeptiert, ließ ich mich nicht entmutigen. Wofür ein gewisser Martin Luther noch größenwahnsinnige fünfundneunzig Thesen brauchte, wollte ich mit wenigen Worten zusammenfassen. Und was soll ich sagen, nach Ablauf der mir selbst gesetzten Frist, liegt er nun vor mir, der Satz der Sätze!
Ein Juwel in Buchstaben. Zärtlich und aggressiv zugleich. Wohlklingend und melodisch. Sprachlich auf höchstem Niveau und doch in seiner schlichten Einfachheit überzeugend. Ein Satz zum Träumen und Nachdenken. Zum Weinen und Lachen gleichermaßen.
Ein Universalsatz. Generationen werden sich noch seiner bedienen. Und all dies stammt aus mir heraus. Stolz steht jetzt da, wo zuvor die Dunkelheit des Selbstzweifels zuhause war. Nicht zu wagen träumte ich, das dies, dieser eine große Satz, aus mir entspringen sollte und nun seinen weltweiten Siegeszug antreten wird. Übersetzt in alle Sprachen.
Von Hindi bis Farsi, Gälisch und Suaheli, bis hin zu den seltsamen Geräuschen, die aus manchen Eifeldörfern zu hören ist. Niemand soll, aufgrund einer Sprachbarriere, von dieser meiner Weisheit ausgeschlossen bleiben. Ich schenke sie der ganzen Welt. Kostenlos. Wer natürlich möchte, kann gerne eine kleine Spende entrichten, denn ich arbeite bereits an einer neuen Weisheit. Noch Größer, noch Spektakulärer. Aber noch ist sie geheim. Man muss ja heutzutage vorsichtig sein, sonst kopiert sie einfach jemand. Ich habe mir extra einen Safe einbauen lassen, wo ich noch weitere Gedanken und unvollständige Sätze aufbewahre. Mit Zahlenschloss, Zeitschaltuhr, Finger- sowie Augenscanner und einem vierzehn Volt Elektrozaun gesichert. An meiner Wohnungstür hängt ein Schild, auf dem ich vor unberechtigtem Einbruch ausdrücklich warne.
„Achtung Selbstschussanlage! Opfern sie nicht sinnlos ihr bedeutungsloses Leben.“
Tagelang saß ich vor meinem Satz und wiederholte ihn immerzu, damit er unauslöschlich in meinem Stammhirn gespeichert wird.
„Besser gut geklaut, als schlecht erfunden!“
Nach zwei Tagen konnte ich den Anfang bereits fast fehlerfrei wiedergeben. Eine Woche später bereits war ich in der Lage ihn wörtlich zu zitieren. Inzwischen ist er mir schon sehr vertraut, dass ich nachts aufgeweckt werden könnte und ihn sofort rezitiere.
Leider habe ich niemanden, der mich aufweckt, denn ich bin mir selbst genug. Fremdkörper, die mein Bett mit mir teilen möchten, sind mir erstens nicht bekannt und zweitens lehne ich so etwas auch ab.
Mein Körper und dessen Nutzung liegt einzig und alleine in meinen Händen. Denn wer, wenn nicht ich, weiß am besten, was ich brauche und mir guttut. So schütze ich mich nicht nur von unliebsamen Krankheiten, sondern gehe auch sicher, dass keine fremdländische Macht mir einen Spitzel ins Bett legt, der mich ausspäht.
Besonders Spitzelinnen sind ja geschult in solchen perfiden Methoden. Leider spreche ich im Schlaf und könnte so unfreiwillig Geheimnisse preisgeben. Dies ist mir einmal passiert und ich habe daraus gelernt. Damals auf einer Klassenfahrt sprach ich im Schlaf über meine erste Erfahrung mit mir und am nächsten morgen war ich das Gespött der ganzen Klasse. Jeder, der ähnliche Erfahrungen gemacht hat, weiß wie schmerzhaft so etwas ist. Deshalb schlafe ich noch heute nicht im öffentlichen Nahverkehr.
Inzwischen bin ich dazu übergegangen, seit ich meinen Satz vorwärts wie rückwärts auswendig kenne, mir über den Inhalt Gedanken zu machen. Was sagt er mir und was will ich damit erreichen?
Auch über seine Alltagstauglichkeit denke ich längerfristig nach. Und in mir wächst der dringliche Wunsch, ihn einmal öffentlich auszuprobieren. Ich bin geradezu besessen von dem Gedanken, meinen Gedanken einmal vor einem großen Publikum zu testen. Jedoch macht mich der Gedanke daran etwas nervös. Was, wenn er nicht die erhoffte Wirkung erzielt und zu einem Rohrkrepierer wird? Meine wochenlange Entwicklungsarbeit wäre dann sinnlos gewesen. Von dem psychischen Schaden an meiner Person ganz zu schweigen.
Das könnte mich um Jahrzehnte zurückwerfen. Für einen sensiblen Menschen wie mich ist dieser Schritt, hin ins grelle Licht der Öffentlichkeit, daher nicht ohne Risiko behaftet.
Was, wenn ich plötzlich, inmitten meiner Rezitation, einen Hänger habe? Schnell spreche ich ihn mir vor, um an Selbstsicherheit zu gewinnen.
„Besser gut geklaut, als schlecht erfunden!“
Erleichtert stelle ich fest, er ist in seiner Gänze vollständig erhalten. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Ach was, ein ganzer Harzer Brocken. Aber um ganz sicher zu gehen und mir ein notfalls Hilfe holen zu können, notiere ich ihn mir in meine Handinnenfläche. Aber nicht als Klarsatz, sondern verschlüsselt. Denn falls ich zufälligerweise jemand Bekannten treffen sollte und gezwungen bin der Person die Hand zu geben, könnte er es ja lesen. Also schreibe ich statt: „Besser gut geklaut, als schlecht erfunden!“, „Bggase“. Auf so eine raffinierte Idee muss man erst einmal kommen. Doch was, wenn ich vergesse was das: „Bggase“ bedeutet? Deshalb entscheide ich mich, den kompletten Text in die linke Hand hineinzuschreiben, da ich rechtshändig Hände schüttele. Zusätzlich als Sicherheitsmaßnahme versenke ich die Volltexthand in der Hosentasche, nachdem ich noch ein blickdichtes Pflaster über die Zeile geklebt habe. Jetzt bin ich Safe. Vorsichtig wage ich mich auf die Straße, hin zu dem Ort, wo ich meine Weisheit auf Alltagstauglichkeit überprüfen möchte.
Und wie der Teufel es so will, kommt mir tatsächlich eine weitläufig bekannte Person entgegen. Misstrauisch beäuge ich sie und gebe ihr widerwillig die Hand.
„Hallo Mama.“, sage ich höflich, aber unverbindlich.
Dann lasse ich mir ihre Handinnenfläche zeigen. Ich will sichergehen, dass nicht der Text sich abgedruckt hat, weil vielleicht mein Stift nicht farbecht ist. Erleichtert stelle ich fest, ihre Handinnenfläche weist keine Spuren meiner Weisheit auf. Trotzdem gehe ich anschließend zum Hausarzt und lasse mir die Hand verbinden, damit ich einen überzeugenden Grund habe, keinerlei Hände schütteln zu müssen, wenn ich vorgebe, sie mir verbrannt zu haben. Mein Hausarzt, ein zutiefst misstrauischer Typ, stellt die absurde Diagnose, ich würde unter einer Psychose leiden, die eine Verbrennung nur einbildet. Ich bestehe jedoch auf ein Verbinden und nach der Drohung, ihn auf unterlassene Hilfeleistung zu verklagen, verbindet er mich. Jetzt fühle ich mich endlich vollumfänglich sicher und betrete den Ort, den ich mir für mein Experiment ausgesucht habe. Es war ein reiflicher Prozess, aus dem der Ort als Gewinner hervorgegangen ist. Ich betrat also die Buchhandlung, in der ich ohnehin jeden Tag sitze und schreibe. Ich bin froh mich für sie entschieden zu haben, da mir dort alles bestens vertraut bin. Wahrscheinlich ist es das griesgrämlich Unfreundliche, was der Besitzer mir entgegenbringt, das mich dort immer wieder hinzieht. Bei anderen Gästen bemüht er sich hingegen zu Höflichkeit. Ich mag ihn, wegen der Sonderbehandlung für mich, was mich dadurch aus der Masse hervorhebt. Wortkarg stellt er mir seinen Kaffee hin, der dadurch zu meinem wird. Das nennt man einen Geschäftsvorgang. In diesem speziellen Fall um eine „Zug um Zug“ Transaktion. Damit werde ich zum Schuldner, während er zum Gläubiger wird, solange ich den Kaffee noch nicht bezahlt habe. Ihn nur zu trinken, um dem Chef eine Freude zu bereiten, entbindet mich nicht von einer Zahlungsaufforderung seinerseits, die er, spätestens wenn ich den Laden verlassen will, aussprechen wird. Mehrfach habe ich dies erfolglos ausgetestet. Ich kann das ja verstehen, denn er geht ja voll ins Risiko. Denn sobald ich ihn angetrunken habe, also den Kaffee, nicht den Chef, obwohl der manchmal angetrunken mir vorkommt, kann der die Tasse nicht mehr anderweitig verkaufen. Obwohl ich gar keinen Lippenstift benutze.
Leider ist der Chef nicht nur stets mürrisch und zutiefst misstrauisch, sondern auch ausgesprochen sprintstark.
Das Besondere an dieser Buchhandlung ist nämlich, man kann dort sitzen und Kaffee trinken. Außer in einem Café kenne ich keinen Ort, wo es Kaffee gibt. Dafür gibt es dort keine Bücher. Beides gibt es nur in meiner Buchhandlung. Dafür nehme ich auch den Chef in kauf. Aber genug des begründeten Bashings. Jedenfalls sitze ich da, genieße meinen Kaffee und lausche. Ich starte geradezu einen Lauschangriff. Denn an den anderen Tischen, wofür sie eigens angeschafft wurden, sitzen Menschen, die, wenn sie nicht gerade auf ihre Smartphones starren, sich gegenseitig Sätze an den Kopf werfen. Weitläufig wird dies auch als Unterhaltung bezeichnet. Ich sitze und das habe ich mir über längere zeit hart erarbeitet, alleine. Obwohl der Tisch Platz für Mehrere bietet, lege ich Wert auf meine Privatsphäre. Dies strahle ich auch erfolgreich aus. Ich bin mir selbst genug und rede auch nicht gerne. Nur das Nötigste diskutiere ich mit mir aus. Heute nun ist es mein erklärtes Ziel, mich vollumfänglich meiner Weisheit zu widmen und sie in die Tat umzusetzen.
„Besser gut geklaut, als schlecht erfunden!“, werde ich nun auf seine Alltagstauglichkeit überprüfen. Ich schreibe mit, was die anderen so sagen und wenn es einen Nährwert hat, werde ich es unter meinem Namen veröffentlichen und hohe Tantiemen einstecken. So mein ausgeklügelter Plan. Doch ich habe scheinbar einen schlechten Tag erwischt. Es sitzen nur Menschen da, die gemeinschaftlich ein geistiges Insolvenzverfahren eröffnet haben.
Nach zwei Stunden intensiven Zuhörens ist meine Ausbeute eine einzige Leerseite. Spannender sind da schon die Fachgespräche, die eine reizende Buchhändlerin mit diversen Kunden pflegt. Hier ist meine Ausbeute weitaus ergiebiger und ich komme kaum mit dem Mitschreiben nach. Hier nun ein kleiner Auszug dessen, was ich so aufschnappen konnte.
Drei der Prägnantesten präsentiere ich hier, die mich in besonderer Weise beeindruckt haben. Sie fanden genau so statt, was es auch nicht besser macht.
1.
Ein Kunde betritt den Laden und sieht sich schüchtern um.
Die freundliche Bedienung geht mit ihrem gewinnenden Lächeln, welches sie sich bereits in der Ausbildung antrainiert hat, in die Verkaufsoffensive.
Bedienung: „Kann ich ihnen helfen?“
Kunde:        „Mir ist nicht zu helfen.“
Bedienung: „Dafür bin ich aber da.“
Kunde:        „Lassen Sie mich einfach hier stehen.“
Bedienung: „Aber Sie stehen hier etwas ungünstig.“
Kunde:        „Haben Sie einen günstigeren Stehplatz für          mich?“
Bedienung: „Vor dem Esoterikregal vielleicht.“
Kunde:        „Sehe ich von da den Bus?“
Bedienung: „Welchen Bus?“
Kunde:        „Den zum Friedhof.“
Bedienung: „Hier fährt kein Bus.“
Kunde:        „Nein?“
Bedienung: „Nein. Ab und zu hält hier nur ein Autor eine                         Lesung.“
Kunde:        „An einer Bushaltestelle?“
Bedienung:  „Das ist hier eine Buchhandlung.“
Kunde:         „Ach so?“
Bedienung: „Ach ja!“
Kunde:        „Dann nehme ich ein Buch.“
Bedienung: „Ein Bestimmtes?“
Kunde:        „Nein.“
Bedienung: „Wir haben ja ein Riesensortiment.“
Kunde:        „Ich will nur eins. Ein Dickes. Und Braunes.“
Bedienung: „Oh Braune sind selten. Wegen der                                            Vergangenheit, wenn Sie verstehen.“
Kunde:         „Nein. Braun ist aber meine Lieblingsfarbe.“
Bedienung:  „Nehmen Sie doch ein frisches Gelbes.“
Kunde:         „Ist das nicht zu extravagant?“
Bedienung:  „Wenn einer gelb tragen kann, dann Sie.“
Kunde:         „Na gut. Packen Sie es mir als Geschenk ein?“
Bedienung: „Wir haben schönes buntes Papier.“
Kunde:        „Einfaches braunes Packpapier tut es auch.“
Bedienung: „Oh, ich glaube, da vorne fährt der Bus.“
Kunde:        „Dann muss ich. Was machts?“
Bedienung: „Neunundzwanzig achtzig.“
Der Kunde zahlt und rennt raus. Der Chef kommt dazu.
Chef:           „Was war das denn?“
Bedienung: „Ein Kunde.“
Chef:           „Sachen gibt`s“
*
2.
Die zweite wahrhaftige Episode fand an Rosenmontag statt. Eine ältere Dame, erkennbar an ihren violett gefärbten Haaren betritt die Buchhandlung.
Dame:          „Fräulein, haben Sie alte Bücher, die keiner                              mehr kauft?“
Bedienung:  „Ja, da mache ich in Heimarbeit Konfetti                                  draus.“
Dame:          „Dann nehme ich zwei Kilo Karl May.“
*
3.
Ein vornehmer älterer Herr mit Gehrock und Gehstock betritt die Buchhandlung.
Herr:            „Ich habe das Buch hier zu Weihnachten         Geschenkt bekommen. Mir scheint es ein                                Fehldruck zu sein. Die Buchstaben fehlen.“
Die Bedienung schaut sich das Buch gründlich und lange an.
Bedienung: „Mein Herr, das ist ein Zeichenblock.“
*
Inzwischen ist die Bedienung nicht mehr im aktiven Buchhandel tätig. Durch das Verschlingen unzähliger Romane hat sie an Körperfülle so zugenommen, dass sie untragbar geworden ist. Heute lebt sie von der Buchstütze.

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