Kindern werden manchmal zweifelhafte Ratschläge gegeben. Im Fall gewalttätiger Konflikte etwa wird ihnen von Pädagogen oft empfohlen, sich darauf zu beschränken, Erwachsene zu Hilfe zu holen und niemals – unter gar keinen Umständen! – zuzuschlagen. Denn: „Gewalt ist keine  Lösung!“. Wer es doch wagt, sich mit den Fäusten zu wehren, wird schnell  als mindestens teilschuldig verurteilt. Zweifellos ist die Aufforderung  zu Gewaltverzicht grundsätzlich vernünftig. Zweifelhaft ist jedoch, ob  sie in dieser Rigorosität sinnvoll ist. Es stellt sich die Frage, ob hier nicht zu sehr die persönlichen Erfahrungshintergründe der Pädagogen aus meist bürgerlichen, zivilisierten und friedlichen Lebenswelten auf die Schüler übertragen werden.

Kein friedliches Umfeld

Denn die Welt, in der Kinder und Jugendliche leben, ist häufig viel stärker von Gewalt geprägt. Beleidigung, Bedrohung, Nötigung oder Körperverletzung sind oft bitterer Alltag. Und leider ist es bei konkreten Konflikten auch für engagierte Pädagogen im stressigen Alltag oft kaum zu leisten, Tathergänge aufzuklären und einen angemessenen  Umgang damit zu finden – vor allem wenn es viele Beteiligte und undurchsichtige Vorgeschichten gibt. Das kann dazu verleiten, Konflikte  zu vereinfachen, und gerade dort, wo sich zwei prügeln, beiden eine Teilschuld zuzuschreiben. Schließlich haben beide Gewalt angewendet, sie hätten das ja im Gespräch klären oder Hilfe holen können! So manche Intervention erschöpft sich dann auch darin, alle Beteiligten dazu aufzufordern, sich zu vertragen und beim nächsten Mal auf Gewalt zu verzichten. Oder der Täter wird, wenn die Lage klarer ist, zu einer widerwillig dahingenuschelten „Entschuldigung“ genötigt.

Hilfe holen?

Einen Erwachsenen zu Hilfe holen, der den Konflikt womöglich nur oberflächlich bearbeitet, kann sich aber für betroffene Schüler sogar als Bumerang erweisen. Ein Kind, das zur Lösung seiner Konflikte regelmäßig die Unterstützung der Pausenaufsicht anfordert, läuft Gefahr, soziales Ansehen einzubüßen und von seinen Mitschülern als schwach und ängstlich wahrgenommen zu werden. Es kann unter Umständen als Feigheit interpretiert werden, wenn ein Kind seine Probleme nicht selbst löst und  Schlägereien ausweicht. Womöglich fühlt sich der Aggressor durch eine  Zurechtweisung eines zu Hilfe geholten Pädagogen sogar gedemütigt und will es dem Opfer nachher doppelt heimzahlen. Ein drohender hoher Preis also, der bei begrenzter Aussicht auf erfolgreiche Hilfe, das Hinzuziehen eines Erwachsenen nur bedingt attraktiv macht. Abgesehen  davon, dass ohnehin nicht in jedem Fall ein Erwachsener in der Nähe ist, den man um Hilfe bitten könnte.

Konflikte friedlich lösen?

Auch die Aufforderung zur Klärung eines Konfliktes im friedlichen Diskurs ist nicht immer hilfreich. In manchen Fällen kann sie sogar geradezu perfide sein. Etwa gegenüber einem Kind, das regelmäßig zum Opfer von Gewalt wird und dessen gewalttätige Gegner gar kein Interesse an einer friedlichen Lösung haben. Denn aus systemischer Sicht kann insbesondere bei regelmäßig aggressiven Kindern davon ausgegangen werden, dass das Schlagen und Erniedrigen anderer für die Täter eine psychosoziale Funktion erfüllt. Dann geht es dem Aggressor gar nicht um  den vordergründigen Streitgegenstand, sondern vielleicht eher um die Abwertung des anderen Kindes und die dadurch hervorgerufenen Emotionen. Aber wie soll ein Kind einen Konflikt um einen Schokoriegel friedlich lösen, wenn es seinem Kontrahenten eigentlich gar nicht um den Schokoriegel geht, sondern um das Erleben von Selbstwirksamkeit und Machtgefühlen durch die Erniedrigung seines Opfers? Wenn ein Kind Gewalt erlebt, von Erwachsenen keine ausreichende Unterstützung bekommt und mit friedlichen Mitteln keine Einigung erreicht, dann ist es nicht fair, es pauschal als mitschuldig zu betrachten, wenn es sich körperlich wehrt.

Möglicher Ausweg Notwehr

Selbstverständlich sind immer alle friedlichen Mittel voll auszuschöpfen. Natürlich soll zunächst eine Lösung im Gespräch angestrebt werden. Selbstverständlich soll dafür auch Hilfe durch Lehrer, Sozialarbeiter oder andere erbeten werden. Vielleicht hilft eine Vermittlung oder ein Training sozialer Kompetenzen. Vielleicht ist eine  Trennung der Kinder möglich, vielleicht sogar das Zusammenbringen der Kinder, etwa durch eine betreute Partnerarbeit. Bestimmt sehen so die nachhaltigeren Lösungen aus. Denn zweifellos ist auch durch Notwehr nicht jeder Übergriff zu verhindern. Natürlich gibt es auch das Problem einer möglichen Gewaltspirale. Aber Notwehr kann auch ein erfolgversprechendes und für gepeinigte Kinder legitimes letztes Mittel sein, das Pädagogen ihnen nicht pauschal verbieten dürfen.

Das Recht auf Notwehr

„Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht  rechtswidrig“, heißt es im Strafgesetzbuch. Wer angegriffen wird, darf sich verteidigen. Die Verteidigung muss verhältnismäßig sein, sie darf nur geschehen, wenn alle anderen Mittel keinen Erfolg versprechen und sie muss geeignet sein und ausschließlich darauf zielen, befürchtete Angriffe abzuwehren. Selbstverständlich haben Kinder dieses Recht auch! Es gibt im Strafgesetz nicht einmal die Verpflichtung, einem Streit aus  dem Weg zu gehen. Niemand ist verpflichtet, sich einem Angriff durch eine sogenannte Schimpfliche Flucht zu entziehen. Niemand muss  „weghören“ wenn er beleidigt wird. „Das Recht muss dem Unrecht nicht weichen“ heißt es in der Rechtswissenschaft. Aber wie oft wird im pädagogischen Alltag genau das von Kindern verlangt? Wenn man den Auftrag ernst nimmt, Kinder auf das Leben als mündige Bürger in einer  demokratischen Gesellschaft vorzubereiten, dann muss man sie auch mit Prinzipien wie dem Notwehrrecht vertraut machen. Kindern sollte vermittelt werden, dass es auch in ihrem Alltag Situationen geben kann, in denen Notwehr gerechtfertigt ist. Dafür sollten sie genau wissen, unter welchen Umständen, zu welchem Zweck, welche Art von Verteidigung als letztes Mittel legitim sein kann.

Pazifismus kann man nicht verordnen

Pazifismus ist als individuelle Entscheidung respektabel. Aber sie folgt subjektiven moralischen und ethischen Erwägungen, die man nicht verallgemeinern und auf andere übertragen kann. Mehr noch: es ist übergriffig, anderen dieselbe Entscheidung abzuverlangen. Und es ist meistens scheinheilig. Denn in der Regel gedeihen pazifistische Haltungen wohl in einem Umfeld, in dem man sich darauf verlassen kann, dass andere, der Staat, die Polizei, für Sicherheit sorgen. In einem Umfeld, in dem das Hinhalten der anderen Wange kaum Folgen hat.

Zudem ist die kategorische Ablehnung von Gewalt nicht sehr rational. Die Idee, dass Gewalt niemals geeignet sei, Probleme zu lösen, ist schöngeistig und schlicht unzutreffend. Denn es gibt leider durchaus Probleme, die den Einsatz von Gewalt verlangen – so unangenehm diese Erkenntnis auch ist. In Ausnahmefällen ist Gewalt sogar moralisch geboten. Jedes Kind weiß, dass jeder Polizeibeamte eine Waffe trägt.  Pädagogen sollten ihnen erklären warum. Genauso, wie sie ihnen im Geschichtsunterricht hoffentlich erklären, dass sogar militärische Gewalt moralisch geboten sein kann. Die Erkenntnis scheint für viele eine noch größere Hürde zu sein. Aber es ist offenkundig, dass die Geschichte noch weitaus blutiger und opferreicher verlaufen wäre, wenn die Alliierten im Kampf gegen den Nationalsozialismus dem Dogma vieler Pädagogen gefolgt wären und entschieden hätten: Gewalt ist keine Lösung.

Kinder sollten lernen: Doch, in ganz bestimmten Fällen ist sie es.