Um 1600 hatte es am Hof der Medici in Florenz begonnen. Zum ersten Mal hatten der Komponist Jacopo Peri und der Dichter Ottavio Rinuccini mit „La Dafne“ (1598) den Versuch gewagt, in Anlehnung an die antike griechische Tragödie, ein komplettes Drama in Musik zu setzen. Das Experiment glückte, und fand so viel Aufmerksamkeit, dass das nächste Projekt dieses Gespanns, „L’Euridice“, zu einem der Großereignisse der Zeit, der Hochzeit des französischen Königs Henri IV. mit Maria de’ Medici am 6. Oktober 1600, aufgeführt wurde.
Doch war es dann vor allem Claudio Monteverdi, der mit „L‘Orfeo“ (1607) und „L’Arianna“ (1608) der neuen Gattung ästhetisch ein eigenes Gepräge verlieh. Und auch wenn die Oper dann ihren Siegeszug über den europäischen Kontinent antrat, blieb sie gleichzeitig über viele Jahrhunderte und epochale kulturelle Umbrüche hinweg immer ein zentrales Vehikel der italienischen Kultur.
Der Repräsentationscharakter, der die Oper von Beginn an prägte und meist auch mit einer entsprechend aufwändigen Ausstattung verknüpft war, sorgte dafür, dass die Oper auch immer Ausdruck von politischer Macht und Bedeutung war. Ob Lully im Versailles von Ludwig XIV., Händel im London von George I., Gluck und Mozart im Wien Joseph II., Meyerbeer im Paris Louis-Philippe I. und schließlich Wagner und Verdi im zur Nation vereinigten Deutschland und Italien, immer folgte die Blüte der Gattung entsprechenden hegemonialen Bewegungen innerhalb Europas.
Mit Giacomo Puccini schloss sich in gewisser Weise ein Kreis. Gerade im Rückblick auf die letzten 100 Jahre seit seinem Tod kann kaum mehr ein Zweifel bestehen, dass - auch wenn es immer noch unzählige neue Opern und Musiktheaterwerke gab, oft auch mit exzeptionellem ästhetischen Anspruch - er der letzte Opernkomponist war, dessen Werke das kulturelle Bewusstsein ihrer Epoche bestimmten und dauerhaft Eingang ins Repertoire fanden.
Was eben gewiss auch daran liegt, dass der Kulturzyklus Europas 1945 zu einem Ende gekommen war (wie auch Peter Sloterdijk in seinem aktuellen Buch „Kontinent ohne Eigenschaften“ mit einer Mischung aus Trotz und Fatalismus diagnostiziert) und der neue Hegemon USA mit Kino, Fernsehen und Popmusik neue Vehikel der kulturellen Repräsentanz gefunden hatte.
Kommerz und Ästhetik
Wo viel Geld im Spiel ist, spielen unternehmerische Aspekte immer eine Rolle. Lully, Händel, Meyerbeer und Wagner waren, mit mehr oder weniger Erfolg, auch unternehmerisch an ihren Projekten beteiligt, ähnlich wie heute Schauspieler und Regisseure als Produzenten ihrer Filme. Mit der Einführung des Urheberrechts kamen zudem Verleger, wie Ricordi in Italien, als mächtige Agenten ihrer Urheber ins Spiel. Daher gehört bei der Oper harter merkantiler Pragmatismus mit zur Sache dazu. Wie Händel, Mozart und Verdi, hatte auch Puccini keine Hemmungen, seine Opern umzuarbeiten, wenn der Erfolg sich nicht sofort einstellte oder lokale Gepflogenheiten gewisse Zugeständnisse erforderten.
Gleichzeitig waren die Jahre vor dem ersten Weltkrieg, als Puccinis große Erfolgsopern „La Bohème“, „Tosca“ und „Madama Butterfly“ herauskamen, Jahre einer letzten kreativen Explosion der musikalischen Ästhetik, mit Debussy, Ravel und Strawinsky in Paris und Mahler, Richard Strauss und Schönberg in Berlin, München und Wien. Puccini war von Beginn an diesem Spannungsfeld zwischen kommerziellem Pragmatismus und ästhetisch avantgardistischem Anspruch ausgesetzt.
Einerseits nahm er durchaus gewisse avantgardistische Elemente, etwa neue harmonische Reizmittel oder innovative Verfahren der Orchestrierung, in seine Kompositionsweise mit auf. Doch eben immer nur unter der eigenen pragmatischer Prämisse, um die Farbpalette seiner Musik zu bereichern. Der transgressive Impetus des Avantgardismus dieser Jahre, der durch die Metropolen Paris, London, Berlin, München und Wien pulste, stand ihm jedoch fern.
Ähnlich wie Sergej Rachmaninow wurde Puccini dafür als rückwärtsgewandt verschrien. Doch zeigt sich auch im Falle Puccinis rückblickend, dass er tatsächlich einen besseren Instinkt dafür hatte, was die Zukunft bringen würde. Während sich Europa in zwei Weltkriegen, deren ideologischer Hintergrund sich in eben jenem kulturellen Spannungsfeld zwischen Deutschland und Frankreich bewegte, für das auch Schönberg und Strawinsky exemplarisch standen, selbst zerstörte, stieg Amerika zur neuen Weltmacht auf. Puccini spürte das sehr früh, bereits „Madama Butterfly“ ist eigentlich weniger ein japanisches als ein amerikanisches Sujet, und die folgenden Opern „La fanciulla del West“ und „Il trittico“ wurden an der New Yorker Metropolitan Opera uraufgeführt.
Interessanter Weise begegneten jene Avantgardisten, namentlich Debussy und Ravel sowie Mahler und Schönberg, die sich zum Teil gegenseitig spinnefeind waren, Puccini durchaus mit Respekt und Bewunderung, wohl auch weil Ihnen bald klar war, dass sich Puccini auf einem Territorium jenseits ihrer Schlachtfelder bewegte. Anton Webern war von „La fanciulla del West“ sogar hellauf begeistert.
Verismo
Der immense Erfolg, den Puccini mit seinen Opern hatte, rührt gewiss vor allem daher, dass er den neuen Geist der Zeit instinktiv erfasste. Wie Händels Opern den aristokratischen Zeitgeist atmen, und Meyerbeers Erfolgsopern jenen religiös idealistischen Zeitgeist etablierten, mit der sich die neue bürgerliche Epoche von der aristokratischen absetzte, so positionieren sich Puccinis Opern wiederum gegen den bürgerlichen Zeitgeist, mit den Essenzen der populären Epoche von Selbstgefühl und Hedonismus.
Die Initialzündung des Verismus kam mit „Cavalleria rusticana“ von Pietro Mascagni und „Pagliacci“ von Ruggero Leoncavallo (wobei gewiss bereits Bizets „Carmen“ gewisse Weichen gestellt hatte), die Protagonisten aus dem einfachen Volk ins Zentrum rückten. Zu Beginn hatte der Verismus auch eine sozialkritische Akzentuierung, und Puccini hat sich eigentlich bis zuletzt gegen diesen Begriff gewehrt. Doch wie so oft verbreiterte sich der Epochebegriff allmählich ins allgemein ästhetische (auch der Begriff des „Impressionismus“ machte eine ähnliche Entwicklung durch). Und in eben diesen allgemeinen Kategorien, einer endgültigen Abkehr vom verzierten Gesang und dem Fokus auf zwischenmenschliche Dynamiken, repräsentiert Puccini die Essenzen des Verismus.
Wenn man sich heute in Opern von Händel oder Meyerbeer zu Tode langweilt, liegt das vor allem daran, dass man das Gefühl für jene zeitgeistigen Ingredienzien, die gewissermaßen die Welle bilden auf der die Musik reitet, weitgehend verloren hat. Umgekehrt ist jedoch auch die übliche Kritik an Puccini, etwa der Mangel an tieferen psychologischen und weltanschaulichen oder idealistischen Dimensionen, die objektiv durchaus nachvollziehbar ist, eigentlich müßig, da diese Aspekte die Antithesen bilden, gegen die sich der Verismus ausrichtet.
Eros
Man braucht nicht darum herum reden: der Eros, mit einer klaren Akzentuierung auf der sexuellen Komponente, spielt die zentrale Rolle in Puccinis Opern. Wenn Alma Mahler Puccini einen Don Juan nennt, ist das durchaus mehr als eine ironische Bemerkung, dass man es mit der ehelichen Treue nicht immer so genau nehme. Puccinis Verhältnis zu Frauen war tatsächlich obsessiv und Don-Juan-haft pathologisch. Seine Leidenschaft für schnelle Autos und die Jagd sind lediglich äußerliche Symptome dieser ausgeprägt maskulin sexuellen Disposition.
Puccinis letzte Oper „Turandot“ exemplifiziert das im Grunde völlig unmissverständlich. Sein Leben zu riskieren, um eine Frau zu erlangen, ist gewissermaßen der ultimative Kick für jemanden, der aus der Jagd nach Frauen seine Befriedigung zieht. „Nessun dorma“ ist die Apotheose jenes Momentes der rauschhaften Antizipation der sexuellen Vereinigung. Die märchenhaft feudale Konstellation hat denn auch überhaupt keine politische oder machtpolitische Komponente, sondern dient einzig und allein der Legitimation, dass sich Turandot selbst wider Willen ihrem männlichen Jäger unterwerfen muss. Dabei scheint es selbst Puccini schwer gefallen sein, diese Unterwerfung in Musik zu setzen. Trotz mehreren Anläufen blieb die Oper unvollendet.
Doch, wie Leporello zu berichten weiß, ist Don Juan nicht auf einen Typus Frau festgelegt. Es scheint in der Tat Puccinis zentraler künstlerischer Ehrgeiz zu sein, in jeder Oper neue Frauentypen und entsprechende sexuelle Projektionen zu verwirklichen. Ob die kränkliche, Beschützerinstinkte weckende Mimi, die schnippische Musetta, die neurotische Floria Tosca, die devote Cio-Cio-San, die amazonenhafte Minnie oder die sich aufopfernde Liù, alle diese Frauenfiguren akzentuieren verschiedene Aspekte, auf die das maskuline erotische Begehren anspringt.
Kreative Konflikte
In diesem Kontext ist auch der Entstehungsprozess von Puccinis Opern zu sehen. Gerade die Arbeit an den drei großen Erfolgsopern, die im Gespann mit den beiden Textdichtern Giuseppe Giacosa und Luigi Illica entstanden, war von großen Konflikten geprägt. Doch wer glaubt, dass der Erfolg dieser Opern trotz dieser Auseinandersetzungen gelang, ist auf dem Holzweg. Ganz im Gegenteil war es gerade die Konkurrenz dieser drei Männer, die alle drei von ihrer Überlegenheit überzeugt waren, die für den modus operandi Puccinis essenziell war, und gerade durch die harten Konflikte kreative Prozesse erst in Bewegung setzten.
Überhaupt war Puccini ein großer Tüftler, der verbissen an den Details seiner Opern arbeitete. Auch scheute er sich nicht, viel aus den Partituren der Kollegen zu lernen und zu übernehmen. Er war, was man nicht unbedingt vermuten würde, ein großer Bewunderer der „Meistersinger“, aus denen er viel über die polyphone Verlebendigung der Mittelstimmen lernte, und „La fanciulla del West“ verdankt der Partitur von Ravels „L’heure espangnole“ einige seiner raffinierten Orchestereffekte. Puccini kannte bei seinen Anleihen ebenso wenig Hemmungen wie Richard Wagner. Ja mehr noch gehörte es zum kompetitiv kreativen Spiel seines Komponierens dazu.
Phantasmagorie
Mein eindrücklichstes Erlebnis mit Puccini hatte ich nicht im Opernhaus sondern als ich als Student spät am Abend zum ersten Mal „La fanciulla del West“ in einer Live-Aufnahme mit Dimitri Mitripoulos hörte. Die Musik und Szenerie des letzten Aktes verfolgte mich bis in die Träume, aus denen ich am nächsten Morgen ganz benommen aufwachte.
Auch „Madama Butterly“ kann diesen unwiderstehlichen Sog entfalten, ganz in diese Phantasmagorie aus Exotismus und Realismus hineingezogen zu werden. In jenem phänomenalen musikdramatischen Instinkt für die Totalität einer Oper liegt auch das spezifische Genie Puccinis. Bereits darin, wie Puccini seine Opern beginnt, offenbart sich in nuce die Essenz der gesamten Oper. Der federnde Sprung in die Untersekunde in „La Bohème“ vermittelt sofort den Übermut der jungen Künstler-Boheme, der Pranken-hafte Beginn von „Tosca“ die lustvolle Brutalität Scarpias, das Fugato in „Madama Butterly“ die nervöse Panik und den harten Formalismus der japanischen Kultur.
Kein anderer Opernkomponist der Musikgeschichte vermochte diese Dichte an Atmosphäre herzustellen. Und so fand die Gattung in den Opern Giacomo Puccinis ein letztes Mal vollkommen zu sich selbst.